Kolumbien | Nummer 591/592 - September/Oktober 2023

,,Die Wahrheit zu erfahren ist sehr wichtig”

Interview mit der Aktivistin Jacqueline Castillo über Morde an kolumbianischen Zivilist*innen

Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) ist die Übergangsjustiz, die im Rahmen des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC-EP geschaffen wurde. Die JEP verhandelt Verbrechen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt begangen wurden. Eine große Gruppe von Fällen betrifft die sogenannten falsos positivos. LN sprach mit Jacqueline Castillo, Vertreterin und Mitgründerin der zivilgesellschaftlichen Organisation MAFAPO (Madres de los Falsos Positivos de Soacha, dt.: Mütter der Falsos Positivos aus Soacha), die von Angehörigen der Opfer dieser Verbrechen gegründet wurde. Castillo arbeitete 34 Jahre lang im Gesundheitswesen als Laborantin und Krankenschwester und stammt aus einer Arbeiter*innenfamilie.

Von Guillermo Díaz Morales; Übersetzung: Christopher Knauth
(Foto: MAFAPO)

Was ist ein falso positivo? Ist diese Bezeichnung dem Sachverhalt angemessen?

Der Begriff wird innerhalb der Armee verwendet und bezeichnet im Kampf Getötete. Ein positivo meint eine eliminierte Person, die in diesem Fall der Guerilla zugeordnet wurde. Da unsere Verwandten aber keine Guerilleros waren, kam es zur Bezeichnung falsos positivos. Manchmal wird auch von außergerichtlicher Hinrichtung gesprochen, aber auch das ist nicht der richtige Begriff. Die JEP spricht von Toten, die unrechtmäßig als Opfer eines Kampfes dargestellt wurden, und ich denke, das trifft den Sachverhalt am besten.

Wie kamen Sie zur Organisation MAFAPO? Über das Schicksal ihres Bruders, dessen Tod als Folge eines Kampfes dargestellt wurde?

Ja. Mein Bruder Jaime verschwand am 10. August 2008 und wurde zwei Tage später tot aufgefunden. Noch während ich ihn suchte, sah ich in den Nachrichten, was mit den jungen Leuten von Soacha geschehen war. Das hat mich tief erschüttert. Ich fand meinen Bruder am 6. Oktober 2008 in der Rechtsmedizin in Bogotá. Ich bat darum, die dortigen Fälle zu sehen, die in Ocaña, im Departamento Norte de Santander aufgefunden worden waren. Sie gaben mir eine Liste von elf Leichen, die nicht identifiziert worden waren. Die meisten waren unter 32 Jahren, es gab nur ein Opfer von geschätzten 40 oder 45 Jahren. Sie zeigten mir Bilder dieser Leiche und – was für ein Schock! – es war Jaime.

Gab es in der Rechtsmedizin Auskünfte über den Hintergrund von Jaimes Tod?

Sie fragten mich, ob er in der Guerilla gewesen sei, weil er in Ocaña als Guerillakämpfer geführt worden war. Als sie mir das sagten, erinnerte ich mich an Soacha und das war furchtbar. Im November 2008 fuhr ich nach Soacha, um Kontakt mit den Müttern der dort Verschwundenen aufzunehmen. Mir war klar, dass man diese Vorgänge nicht verschweigen durfte. Ich musste dafür kämpfen zu beweisen, dass unsere Verwandten keine Guerilleros waren. Also fingen wir an, auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren und gingen in Schulen und Universitäten. Allmählich wurde klar, dass diese Verbrechen im ganzen Land stattgefunden hatten. Das gab uns mehr Kraft weiterzukämpfen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das war der Ursprung von MAFAPO.

Der Fall Soacha war bereits bekannt und bekam auch international zusätzliche Aufmerksamkeit, als die JEP die Zahl von insgesamt 6.402 Fällen bestätigte. Wie beurteilen Sie die Arbeit der JEP?

Wir waren anfangs dagegen, dass die JEP Fälle von falsos positivos behandelte, weil sie als Gerichtsbarkeit geschaffen worden war, die Kriegsverbrechen untersucht. Unsere Verwandten waren aber in keinem Krieg, sie kämpften nicht. Wir verstanden nicht, warum die JEP diese Fälle übernehmen sollte, und es gefiel uns nicht. Dann wurde uns klar, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu kennen, zu wissen, was passiert ist, warum es passiert ist, und vor allem – und das war unser Motto – zu wissen, wer die Anweisungen gegeben hat. In der JEP hatten wir die Gelegenheit, die Aussagen der Beteiligten zu hören, was in der ordentlichen Justiz nicht der Fall ist. In den wenigen ordentlichen Gerichtsverhandlungen gab es nur wenig Verurteilungen. Die Angeklagten sagten nicht, was und wie es wirklich passiert war und warum sie es getan hatten. Für uns war es eine Genugtuung, das Ergebnis der JEP-Untersuchung zu erfahren, denn es zeigte, dass es sich um eine systematische Praxis handelte, die in gewisser Weise von einer staatlichen Politik gedeckt wurde.

Haben Sie das Gefühl, dass diejenigen, die vor der JEP erscheinen, zur Wahrheit beitragen?

Die Auftritte hochrangiger Armeekommandeure haben mich nicht wirklich überzeugt. Ich habe das Gefühl, dass da noch viel an Wahrheit fehlt. Ich sah, wie sie mit vorgefertigten Erklärungen in der Hand ankamen, um ihre Aussage zu machen. Die JEP hätte das nicht zulassen dürfen. Wenn ich meine Wahrheit sage, lese ich sie auch nicht vom Blatt ab. Einmal sagte uns ein Soldat, dass sie noch immer unter Anweisungen stünden. Dass sie zwar die Wahrheit sagen müssten, aber darauf zu achten hätten, wie man sie erzählt. Es gab auch die Aussagen eines anderen Generals, bei dem man merkte, dass viel Wahrheit darin steckte. Ich nahm Kontakt mit ihm auf. Zunächst hatte er Angst, aber dann traf er uns in Bogotá, in einem Workshop, den wir mit den Müttern von Soacha durchführten.

Und hat er offen geredet?

Ja. Er ist der erste Soldat, der mit uns zusammenarbeitet und wir werden mit ihm zu weiteren Veranstaltungen in die Regionen gehen. Es war hart, denn alles, was er erzählte, zwang die Mütter wieder, sich die schrecklichen Dinge anzuhören, die geschehen waren, aber ich denke, das ist Teil des Prozesses. Im Oktober werden wir das erste Treffen mit den Angehörigen von Opfern haben, in deren Fälle er verwickelt war. Es wäre interessant, wenn das Militär sich mit uns zusammensetzen würde, um ihren Teil zu dieser wichtigen Arbeit beizutragen. Wir können nicht bei Hass, Wut, Groll verharren.

Gibt es auch aussagekräftige Aussagen von Seiten der Paramilitärs?

Durchaus. Mehrere Paramilitärs, die ebenfalls vor der JEP aussagten, haben weitere Dinge zum Vorschein gebracht. Beispielsweise Salvatore Mancusos (ehemaliger Kommandant der paramilitä- rischen Gruppe AUC, Anm. d. Red.) Aussagen eigneten sich hervorragend, um mehr Fakten ans Licht zu bringen. Denn darum geht es: dass wir uns versöhnen und uns gegenseitig vergeben können, um für eine bessere Zukunft als Gesellschaft zu arbeiten, für die nächsten Generationen. Das ist es, wofür wir kämpfen.

Sie haben vor einigen Jahren an der Kampagne #QuienDioLaOrden (dt.: Wer hat den Befehl gegeben?) teilgenommen. Ich frage Sie heute: Wer hat den Befehl gegeben?

Wir sind fest davon überzeugt, dass die Anreize von Präsident Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) geschaffen wurden. Er gab die Anweisung, das Militär führte sie aus. Viele der Beteiligten haben gesagt, dass es Druck gab, Ergebnisse vorzuweisen, und damit meinten sie die Zahl der Getöteten. Je höher die Zahl, desto größer die Belohnungen, die sie bekamen. (Während der damaligen Regierung wurde ein Anreizprogramm für Armeeangehörige entwickelt: Die Soldaten, die die meisten Guerillerxs töteten, erhielten Beförderungen, Urlaubstage oder Geld, Anm. d. Red.). Jeder Kommandeur wollte, dass seine Einheit die erste war. Viele haben gesagt, dass General Mario Montoya Ergebnisse verlangte. Man kann also sagen, dass er den Befehl gegeben hat, weil er die Erfolge einforderte.

Auf der anderen Seite wissen wir dank der Ermittlungen der JEP, dass diese Praxis nicht erst mit der Uribe-Regierung begonnen hatte, sondern früher. Das wurde aber damals anders genannt. Wir können also nicht sagen, dass Álvaro Uribe der Erste war, der die Anweisung gegeben hat, aber in seiner Regierung stieg die Zahl der unrechtmäßigen Todesfälle stark an.

Am 30. Juni dieses Jahres gab es bereits Anhörungen für die Fälle von Dabeiba, Antioquia und am 18. und 19. September wird es welche für die Fälle von Yopal in Casanare geben. Wie erleben Sie diese Anhörungen?

Die Entwicklung dieser neuen Anhörungen zeigen, dass es sich um eine systematische Praxis handelte. Es ist sehr wichtig, diesen Horror aufzudecken, damit die Wahrheit ans Licht kommt, aber auch, damit so etwas nie wieder passiert. Wir waren bei den Anhörungen in den Regionen nicht anwesend, aber ich habe mehrmals darum gebeten, die Angehörigen der Opfer begleiten zu können. Diese Arbeit tut uns gut und es ist eine Genugtuung, wenn das Militär öffentlich zugibt, diese Verbrechen begangen zu haben. Damit erkennen sie an, dass unsere getöteten Angehörigen keine Guerilleros waren. Ich denke, mehr als jede Verurteilung gibt das den Opfern einen Teil ihrer Würde zurück. Das macht unsere Angehörigen nicht wieder lebendig, aber die Wahrheit zu erfahren ist sehr wichtig.

Wie wird die Arbeit von MAFAPO in der Zivilgesellschaft aufgenommen?

Es waren 15 Jahre des Kampfes, in denen diese Arbeit entwickelt wurde. Und es waren vor allem junge Menschen, die uns die Türen geöffnet haben, um auf unterschiedliche Weise in Schulen, an Universitäten und im öffentlichen Raum auf diese Tatsachen aufmerksam zu machen. Viele Menschen haben uns auf unterschiedliche Weise geholfen, diese Verbrechen sichtbar zu machen. Es waren auch vor allem junge Menschen, die den sozialen Aufstand im Jahr 2020 vorantrieben. Die Jugendlichen müssen weiterhin lernen, was über die Generationen hinweg geschehen ist, damit so etwas nie wieder passiert.

Die Arbeit, die Sie leisten, ist für die Förderung des Friedens von entscheidender Bedeutung, aber sie ist auch sehr schwierig. Wie kümmert ihr euch umeinander, damit ihr diesen Kampf nachhaltig fortsetzen könnt?

Jede Woche kommen wir im Centro de Memoria Histórica (dt. etwa: Zentrum der historischen Erinnerung) zusammen. Es gibt dort Treffen für Handarbeiten, Weben oder Malerei. Wir machen Siebdruck, Theater, wir kochen, arbeiten in den Gemüsegärten und pflanzen an. Diese Dinge helfen in gewisser Weise beim Heilen. Es sind Räume, in denen man teilt, lacht, weint. Dort im Centro de Memoria empfangen wir die Menschen, die uns besuchen: Studenten, Künstler, viele Menschen kommen. Es ist wichtig, die Geschichten über das, was in Kolumbien passiert ist, zu erfahren, nicht nur über die falsos positivos. Es ist ein offener Raum für die Opfer des Konflikts.

Falsos Positivos

Zwischen 2002 und 2008 ermordete das kolumbianische Militär mindestens 6.402 Zivilist*innen und stellte sie als im Kampf gefallene Guerilleros dar. Die Streitkräfte suchten in Zusammenarbeit mit paramilitärischen Gruppen Menschen, entführten sie mit dem Versprechen auf Arbeit, ermordeten sie und kleideten sie nachträglich in Guerilla-Uniformen. Die kolumbianische Presse benannte dieses Staatsverbrechen mit dem Euphemismus falsos positivos. Die Opfer waren meist einkommensschwache Jugendliche, Straßenbewohner*innen und Menschen mit Behinderungen. Diese eklatante Verletzung des humanitären Völkerrechts kam im September 2008 an die Öffentlichkeit, als 19 junge Männer aus Soacha und Ciudad Bolívar in der Nähe der Hauptstadt Bogotá verschwanden und kurz darauf in der weit entfernten Provinz Norte de Santander von der Armee als im Kampf getötete Guerilleros präsentiert wurden. Ihre Familienangehörigengründeten daraufhin die Organisation MAFAPO, ein Kollektiv von Frauen, das sich dem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit für die falsos positivos verschrieben hat.

// Tininiska Zanger Montoya


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