„IN 30 JAHREN VERSCHWINDEN WIR VIELLEICHT“

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BLAS LÓPEZ MORALES
ist Soziologe und war von 2011 bis 2013 Generalsekretär des allgemeinen Kongresses der Guna. Derzeit ist er Mitglied der Kommission, die den Umzug seiner Gemeinde Gardi Sugdub von einer Insel auf das Festland organisiert. (Foto: Proyecto Nativo, www.nativoproject.com)


Welche Veränderungen spüren Sie durch den Klimawandel?
Es gibt eine Zunahme extremer Wetterereignisse. Stürme und Überschwemmungen werden stärker, wir spüren den steigenden Meeresspiegel. In der Zeit von November bis Februar, wenn es in Guna Yala Nordwind vom Meer gibt, kann es zu Wellen kommen, die mehrere Meter hoch sind. Dieses Jahr im Januar war es schlimm. Eine Woche lang gab es Unwetter mit Überschwemmungen und Zerstörungen in mehreren Dörfern. Auf meiner Insel Gardi Sugdub waren die Auswirkungen geringer, weil der Insel eine Landzunge vorgelagert ist.

Was bedeutet eine Überschwemmung für die Inselbewohner*innen?
Das Wasser kommt manchmal am Morgen, manchmal am Nachmittag und bleibt zwei bis drei Stunden. Je nach örtlicher Gegebenheit werden zum Teil nur die Häuser überschwemmt, die nah am Wasser stehen. Auf tiefer gelegenen Inseln werden aber auch ganze Straßenzüge überflutet. Zum Teil werden dabei Häuser komplett zerstört, in anderen Fällen Feuerstelle und Feuerholz überflutet. Die Familien können dann nicht mehr kochen, was sehr hart für sie ist.

Guna-Häuser am Wasser sind bei Stürmen von Überschwemmung bedroht

Wie reagieren die Guna in solchen Fällen?
Die betroffenen Familien kommen dann meist in anderen Häusern bei Verwandten unter, die weiter entfernt vom Wasser wohnen, oft auf anderen Inseln. Wenn nötig, baut die Solidargemeinschaft des Dorfes ein neues Haus für die betroffenen Familien, der Dorfvorsteher Sagla organisiert das. Um sich zu schützen, errichten die Leute Schutzwälle am Ufer und befüllen Sandsäcke. Aber es gibt keine Vorwarnung. Das Gefühl ist, dass es keinen Schutz gibt. Auf den kleinen Inseln kann man sich nicht schnell in Sicherheit bringen. Die Leute haben Angst, dass es in Zukunft wieder passiert. Wie wird das erst in 30 oder 50 Jahren sein? Vielleicht verschwinden die Guna dann. Es gibt aber aktuell noch weitere Probleme durch die Unwetter.

Welche sind das?
Vor allem die Kinder und Älteren bekommen Bauchschmerzen und müssen sich übergeben. Der Grund ist, dass das Hochwasser auch die Flüsse überschwemmt, aus denen wir über eine Leitung unser Trinkwasser beziehen – die Leitungen verstopfen durch Sedimente und gehen kaputt.

Bei Sturm und hohem Wellengang können die Leute nicht mit ihren Kanus zum Fischen raus fahren. Meine Insel Gardi Sugdub ist im Gegensatz zu den anderen Dörfern in Guna Yala seit einigen Jahren über eine Straße mit der Außenwelt verbunden, die Leute hier leben inzwischen mehrheitlich vom Tourismus und versorgen sich nicht mehr selbst. Aber die Straße wurde aufgrund des Unwetters geschlossen, die Läden wurden daher nicht beliefert und aufgrund der ausbleibenden Touristen hatten viele Einnahmeausfälle.

Obwohl wir genug Land haben, gibt es auch auf anderen Inseln einen Trend hin zu weniger Selbstversorgung durch eigene Landwirtschaft – unser traditionelles Essen aus Fisch, Pflanzenknollen, Kokosnüssen und Kochbananen wird mehr und mehr etwa durch Reis und Geflügel ersetzt, was von Schiffen aus Kolumbien oder Colón gebracht wird. Wenn diese bei Unwetter wegbleiben, fehlen Nahrungsmittel.

Die Insel Gardi Sugdub plant den Umzug auf das Festland

Mehrere Dörfer denken inzwischen darüber nach, zurück aufs Festland zu ziehen. Inwiefern laufen konkrete Vorbereitungen?
Die Zerstörungen im Januar haben die Diskussionen angeheizt. Ein weiterer Grund dafür ist der Bevölkerungszuwachs, die Verhältnisse sind überall sehr beengt und die Inseln werden zu klein. In meinem Dorf sind wir am weitesten, wir planen bereits seit zehn Jahren den Umzug von mehr als 300 Familien, etwa 1.500 Personen. Damals haben wir die Initiative ergriffen und eine Kommission für die Organisation des Umzugs gegründet.

Wir haben uns Gedanken gemacht, etwa um die Wasser- und Stromversorgung am Ort der geplanten neuen Siedlung, die Müllentsorgung oder den Umgang mit Insekten und Krankheiten wie Malaria, die es auf den Inseln nicht gab. Der allgemeine Kongress der Guna (Congreso General Guna, ein zentrales Organ der politischen Autonomie Guna Yalas, siehe Infokasten und LN 533), fördert etwa die lokale Agrarwirtschaft, um die Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen.

Gab es Schwierigkeiten beim Umzugsprozess?

Um für alle neue Häuser zu bauen, reichte das traditionelle Baumaterial vor Ort nicht aus, insbesondere gab es nicht genug Blätter der Weruk-Palme, die wir für die Dächer verwenden. Daher haben wir mit der Regierung gesprochen, die uns im Rahmen eines Häuserbauprogramms Unterstützung zugesagt hat. Leider mussten wir dafür akzeptieren, dass die Häuser aus Zement sein werden und nichts mit unseren traditionellen Häusern gemein haben.

Für eine langwierige Suche nach anderweitiger  Finanzierung besserer Häuser hatten viele Leute keine Geduld mehr, denn bereits vor neun Jahren wurde der Bau einer Schule und einer Krankenstation begonnen. Zu deren Fertigstellung und zum Bau der Wohnhäuser kam es damals aber nicht, da die Mittel plötzlich dringend in anderen Provinzen benötigt wurden. Die neue Regierung von Nito Cortizo führt den Bau nun endlich fort. Vor einigen Wochen haben erste Arbeiten begonnen, die Übergabe der Wohnhäuser wird innerhalb von zwei Jahren erwartet. Viele Ältere wollen nach wie vor ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen und auf der Insel bleiben. Die Jüngeren wollen dagegen umziehen, so dass insgesamt eine Mehrheit dafür ist.


Mola-Kunsthandwerk ist eine Einnahmequelle in Gardi Sugdub

Welche Schlüsse ziehen die Guna aus dem bisherigen Prozess?
Die Kommission in Gardi Sugdub arbeitet gemeinsam mit weiteren Experten an einem strategischen Umsiedlungsplan, für den wir mit Unterstützung der Interamerikanischen Entwicklungsbank  die  sozialen,  wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Aspekte der Umsiedlung untersuchen und aufarbeiten. Wir organisieren auch Schulungen im Dorf, zu Themen wie Gesundheit, Umweltschutz oder wie in Zukunft die räumlichen Gegebenheiten sein werden, etwa der Schulweg der Kinder.

Den fertigen Umsiedlungsplan wollen wir dann auf der Versammlung des Kongresses vorstellen. Die Saglagan haben den Betroffenen nach den Überschwemmungen Reis gebracht. Wir Guna sollten uns aber nicht nur in der Not helfen, sondern müssen selbst einen Handlungsplan entwickeln, denn sonst bleibt uns nur, auf die Regierung zu warten. Der Kongress könnte den Plan für ganz Guna Yala nutzen oder entsprechend weiterentwickeln.

Auch der Regierung und internationalen Institutionen, die uns unterstützen können, wollen wir ihn präsentieren. Ich denke, dass der Plan eine Blaupause sein kann, auch für die anderen Inseln der Guna – von denen einige keine Kapazitäten für eine eigene Planung haben – sowie überhaupt indigene Küstendörfer, die vom Klimawandel bedroht sind und einen Umzug planen.

Arbeit für die Fischer gibt es bei Stürmen nicht

Wie man auf den Inseln sieht, haben die Guna oft Korallen verwendet, um ihre Inseln zu vergrößern oder Dämme zum Schutz gegen Überflutungen zu bauen. Welche Rolle spielt das bei den Überschwemmungen?
Die Guna haben damit angefangen, als der Platz aufgrund des Bevölkerungszuwachses zu knapp wurde und anfangs nicht daran gedacht, dass das Konsequenzen haben könnte – eine reine Überlebensstrategie. Aber die Korallenriffe sind wichtig als Schutz gegen Überflutungen, außerdem sind sie Teil der Natur, die uns am Leben erhält, genau wie der Wald und das Meer. Der Kongress hat die Entnahme von Korallen aus dem Meer inzwischen verboten, und wir müssen dafür sorgen, dass es allen bewusst ist. Heute machen das nur noch wenige, auch weil sie merken, dass es sich negativ auf den Fischfang auswirkt.

Welche Bedeutung hat die Natur in der Kultur der Guna?
Wir haben eine enge, harmonische Beziehung zur Mutter Erde, auch in spiritueller Hinsicht. Wir stellen uns etwa vor, dass die Pflanzen und Tiere unsere Brüder und Schwestern sind, Menschen, die sich einst verwandelt haben, um uns bei unserem heutigen Leben zu helfen. Unsere Schamanen sprechen mit ihnen und der Sagla erinnert uns daran, der Natur Liebe und Respekt entgegenzubringen. Wir geben uns auch entsprechende Regeln, die alle in der Gemeinschaft befolgen müssen, wie jene zum Schutz der Korallen oder etwa Schonzeiten für Langusten zur Erholung der Bestände.

Unsere Anführer sagen: Wir haben verstanden, dass wir von der Natur abhängig sind und sie nicht misshandeln dürfen. Daher nehmen wir uns beim Jagen, Fischen oder beim Hausbau nicht mehr als das, was wir zum Leben brauchen. Der westliche Lebensstil dagegen sieht anders aus.

Traditionelle Kochstellen dürfen nicht nass werden, sonst gibt es nichts zu Essen

Wen sehen die Guna denn in der Verantwortung für den Klimawandel?
Letztlich ist das Problem das kapitalistische System selbst. Die Nationen der Welt haben die Natur ausgebeutet und sie in ein monetäres Gut verwandelt. Die Regierungen vor allem der weit entwickelten Länder und die privaten Unternehmen müssen ihre Politik ändern, denn der Lebensraum von uns Indigenen wird immer verwundbarer. Wir haben auf die Natur achtgegeben, während die Verschmutzung aus den reichen Ländern kommt, von den Unternehmen. Sie produzieren Müll, stoßen Treibhausgase aus und holzen den Wald ab. Es gibt dazu zwar Konventionen der UNO, die die Regierungen unterschrieben haben, aber dann halten sie sich nicht daran. Finanzielle Hilfen kommen oft nur bei der Regierung an und nicht bei den betroffenen indigenen Gemeinschaften. Das sollte sich ändern.

Welche Rolle könnten indigene Gruppen für die weltweite Debatte um Klimaschutz spielen?
Die Regierungen und transnationalen Unternehmen müssen verstehen, dass die Mitwirkung der indigenen Bevölkerung bei diesem Thema sehr wichtig ist. Wir als Guna und Indigene nehmen an den internationalen Konferenzen und Gipfeltreffen zum Klimawandel teil. Unser traditionelles Wissen, unsere traditionellen Praktiken in nachhaltiger Landwirtschaft wie das Säen heimischer Nutzpflanzen oder die Bewirtschaftung von Parzellen mittels Agroforstwirtschaft, die eine Regeneration der Wälder erlauben, können zur Debatte einen wesentlichen Beitrag leisten. Wir müssen da noch offensiver auftreten.

Letztlich müssen wir, die Umweltschützer, NGOs, die sozialen Bewegungen, die ja zur Zeit besonders in Europa sehr aktiv sind, und die Unternehmen beim Thema Klimawandel zusammenarbeiten. Die Staaten der Welt sollten sich verpflichten, die indigene Bevölkerung bei der Stärkung ihrer Kultur und ihres traditionellen Wissens zu unterstützen.

Projekte, die uns unterstützen möchten, sind willkommen, dürfen aber nicht über unseren Kopf hinweg beschlossen werden. Sie müssen den indigenen Gemeinschaften wirklich zugute kommen, es muss viel Transparenz geben, wir müssen in die Entscheidungsprozesse eingebunden sein und man sollte uns keine Vorschriften machen, wie wir die Natur schützen sollen.

„WIR MÜSSEN AM FRIEDEN FESTHALTEN“

Sie reisen als Menschenrechtlerin durch Europa, um auf die Probleme Ihrer Gemeinden aufmerksam zu machen. Was macht die Situation der Afrokolumbianer*innen in der Region Buenaventura aus?
Wir wohnen auf Grundstücken, die durch Landgewinnung aus dem Meer entstanden sind. Das ist ein Gebiet, das an unsere Wohngegend angrenzt und das wir durch eine traditionelle Praktik des Aufschüttens erobert haben, mithilfe von Bauschutt oder Müll. Das Gebiet macht 60 Prozent der Insel Buenaventura aus, der Ort ist die Kernregion für die Errichtung von Häfen in Buenaventura, 60 Prozent der Insel sind mithilfe der Aufschüttungstechnik entstanden. Es ist Teil unserer Landgüter, die wir nicht nur besetzt, sondern die wir mithilfe unserer Vorfahren mit unseren eigenen Händen gebaut haben. Die Regierung handelt im Sinne der Investoren, denn sie hat vor, diese Landgüter zu räumen. Dafür wird der bewaffnete Konflikt vorgeschoben oder die „Entwicklung“, um in der öffentlichen Politik einen Umsiedlungsprozess der Gemeinden durchzusetzen. Sie sagen, dass wir in einem hochgefährlichen Gebiet leben, nur um uns von dort zu vertreiben und dort mehr Häfen bauen zu können für die internationale Wirtschaft und den internationalen Tourismus. Wir fragen: Wie kann es sein, dass die Wohnstätten von uns schwarzen Gemeinden, die wir dieses Land gewonnen haben, in einer Gefahrenzone liegen, aber gleichzeitig keine Gefahr für Hotels, Infrastruktur und Häfen besteht, die sie in diesem Gebiet entwickeln wollen?

Wie artikuliert sich dieses Problem konkret?
Wir hatten einen Gemeindeführer: Temístocles Machado. Er widmete sein Leben der Denunzierung von Landraub. Er prangerte an, dass unsere Rechte verletzt werden, dass wir Besitzer dieser selbst erbauten Grundstücke sind, die wir durch Landgewinnung errungen haben. Er wurde am 27. Januar dieses Jahres gewaltsam ermordet.
Temísto hatte die meisten historischen Kenntnisse über diesen Streit und seinen Verlauf, er war der Gemeindeführer, der sich am meisten auf landesweiter Ebene bewegte, um öffentlich zu machen, was in Buenaventura passierte. Er dokumentierte alles, um die Erinnerung an die Herrschaftsprozesse zu etablieren.
Dieser Gemeindeführer wurde ermordet. Bei diesem Mord ging es nicht um ihn oder seine Familie, sondern darum, die Gemeinden zu lähmen, die er repräsentierte. Aber wichtig ist, dass wir weitermachen. Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es Leute gab, die danach nicht mehr an Organisationen teilgenommen haben, dass aufgrund dieses Mordes Leute weggezogen sind. Das sind die Strategien, um die Dynamik unserer Verteidigungsorganisationen zu zerlegen. Temístocles ist nur eines von vielen Beispielen.

Warum sind afrokolumbianische Gemeinden angreifbarer als andere?
Wir ethnischen Völker erleben eine doppelte Form der Herrschaft, wir sind in einer doppelten Opferrolle. Zum Einen sind wir Opfer als Kollektiv, als Gemeinde. Neben dem bewaffneten Konflikt und über die extraktivistische Wirt­schafts­­politik hinaus gibt es für uns auch einen strukturellen Aspekt, nämlich den der sozialen Ausgegrenztheit. Zum Anderen sind wir Opfer in Bezug auf unsere Beziehung zu unserem Land, denn jenes Land, auf dem wir leben könnten, wird zerstört. Wir haben als Völker eine sehr enge Beziehung zu unserem Lebens- und Wohnraum. Unser Leben hängt von der Einheit mit unserem Land zusammen. Deshalb sind wir von Landraub auch besonders betroffen. Wenn wir umsiedeln, verlieren wir nicht nur die Möglichkeit, an diesem Ort zu sein, wir verlieren die Möglichkeit unserer alltäglichen kulturellen Praxis. Ich kann nicht in den Bergen fischen. Ich brauche das Meer oder den Fluss.

Die Regierung beschuldigt Menschen aus den afrokolumbianischen Gemeinden, Mitglieder von Guerrillas zu sein.
Wir werden übertrieben gerichtlich verfolgt. So ist es zum Beispiel Ende April passiert, mit zwei Gemeindeführerinnen, Mutter und Tochter, aus Tumaco, dem Gebiet von Río Mira an der Pazifikküste. Diese beiden Frauen wurden von der Regierung und durch die nationale Staats­anwaltschaft als Mitglieder der ELN juristisch verfolgt. In den letzten 30 Jahren wurden wir afrokolumbianischen Gemeinden durch die Regierung immer wieder beschuldigt, Mitglieder der FARC zu sein. Heute gibt es keine FARC mehr – offiziell zumindest. Jetzt sind wir also Mitglieder der ELN. Die beiden Frauen wurden juristisch verfolgt, verhört und sofort in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft genommen wie die größten Schwerverbrecher des Landes. Die Geschichte von Tulia, der Mutter, ist aber die: Sie ist eine Frau aus der Gemeinde, die einen Teil ihres Lebens der Kinderfürsorge in Kindertages­stätten gewidmet hat. Im Prozess wurde behauptet, sie habe die Kinder auf eine Mitglied­schaft bei der ELN vorbereiten wollen. Und im Fall von Sára, der Tochter, hieß es, dass Vorsichts­­maßnahmen getroffen werden müssten, um Aktionen der ELN zu verhindern. Sára hat aber nur denunziert und öffentlich gemacht, dass auf ihrem Land Koka angebaut wurde und wie die Dynamik des Drogenhandels das Leben in der Gemeinde zerstört hat. Das alles sind historische Strukturen. Aber wir kennen die Vorgehens­weisen der Regierung schon. Wir hoffen, dass die Justiz Fortschritte macht, und tun alles, was in unserer Macht steht, um zu zeigen, dass Tulia und Sára Gemeinde­führerinnen sind, und dass die Verteidigung von Menschenrechten kein Verbrechen ist.

Welche Rolle habt und hattet ihr als Gemeinden in dem bewaffneten Konflikt wirklich?
In den kritischsten Momenten des bewaffneten Konflikts – in Anwesenheit der FARC – war unsere Rolle als Gemeinden einerseits, dass wir umsiedeln mussten, um uns zu schützen, andererseits Widerstand zu leisten, ebenfalls um uns zu schützen. Wir sahen das als Zwangs­umsied­lung an. Wir haben es geschafft, unser Leben zu verteidigen, aber nicht, unser Leben zu leben. Es gab Organisationen, die bestimmten, wann wir umziehen mussten oder wann es besser war, Widerstand zu leisten oder welcher Teil der Bevölkerung eines von beidem tun sollte. Wenn wir das nicht täten, würden wir nicht mehr existieren. Wir haben keine Alternative. In der aktuellen Situation nach dem Abkommen ist der Konflikt nicht zu Ende, aber man kann nicht leugnen, dass es weniger geworden ist, dass wir ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben.Was ist unsere Rolle jetzt? Wir wollen die Umsetzung des Abkommens. Denn mitten im Krieg mussten wir die Zwangsrekrutierung unserer Gemeinde­mitglieder in die Reihen der Guerillas miterleben. Wir können nicht leugnen, dass es auch freiwillige Teilnahme gab. Aber in der Mehrheit war es erzwungene Teilnahme durch Zwangs­rekrutierung. Weil viel Druck ausgeübt wurde, da es keine Alternativen gab.

Wie gehen die Gemeinden mit diesen Menschen um?
Wir bereiten uns darauf vor, diejenigen wieder aufzunehmen, die eigentlich Teil unserer Gemeinde sind, aber die es irgendwann nicht mehr waren. Weil auch sie verwundet wurden. Und hier gibt es einen langen Prozess des Verständnisses, der neuen Auslegungen, dass diejenigen, die dort waren und jetzt wieder zurück kommen, keine Fremden sind, sie sind Teil unserer Gemeinden. Aber das ist nicht einfach. Es ist einfach zu sagen, aber schwer umzusetzen. Das ist eine Herausforderung bei der Schaffung von Frieden. Wir bereiten uns darauf vor, sie in Empfang zu nehmen, damit unsere Brüder als Teil der Gemeinde von Neuem eine Beziehung zum Zivilleben aufbauen können, damit sie nicht etwas Abgesondertes von uns sind. Einerseits. Dann gibt es den Prozess mit der Regierung: Wie befreien wir sie vom illegalen Anbau, also vom Koka-Anbau? Das hat etwas mit der Dynamik der Regierung zu tun.

Was bedeutet der Wahlausgang für Sie? Von Iván Duque ist zu erwarten, dass Teile des Friedensabkommens rückgängig gemacht werden.
Unsere Positionen sind weiterhin die, die unsere Vorfahren uns gelehrt haben. Um weiterhin Widerstand zu leisten und zu überleben, müssen wir daran festhalten, in unseren Gebieten, die wir seit unseren Ahnen bewohnen und die uns gehören, Frieden zu schaffen. In diesem Sinne ist es egal, welcher Kandidat die Präsidentschaft der kolumbianischen Republik antritt – unsere Rolle besteht darin, weiterhin zum Frieden beizutragen, indem wir aktiv an der Entwicklung von Abkommen teilnehmen und Protagonisten sind. Dazu kommt aber, dass wir weiterhin auf unserem Land ausharren müssen, denn selbst wenn wir im Friedensprozess aktiv an den Abkommen zwischen FARC und Regierung mitwirken, gibt es weitere Kriegsdynamiken in unseren Gebieten und andere Konfliktsituationen; Gewalt, wie eben wirtschaftliche Megaprojekte an den Häfen oder der Abbau von natürlichen Ressourcen.

“WIR HABEN DAS UNDENKBARE ERREICHT”

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative Voces de Paz die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. Voces de Paz ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen; wir dürfen beraten, sind aber nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben. Mit der Entwaffnung und dem Ende der Übergangsphase erhielten die FARC volle politische Rechte, sodass der Gründung einer eigenen Partei nichts mehr im Wege stand.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer*innen gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Ich muss sagen, dass die vergangenen Monate sehr schwierig waren. Der ganze Prozess war leider von sehr vielen Verzögerungen und viel Unsicherheit geprägt. Dabei wird die Umsetzung die ganze Zeit von der rechten Opposition und dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche konkreten Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt. Während der Bauarbeiten gab es verschiedene Probleme, unter anderem auch mit Korruption. Die ehemaligen Kämpfer lebten dort also unter schwierigen Bedingungen, teilweise waren sogar die gelieferten Nahrungsmittel bereits verwest.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemalige Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.
Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell „Frieden“ herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten. Die Guerilla hat keine Waffen mehr und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Diese Vorgänge erzeugen eine große Unsicherheit. Der Staat erfüllt seine Aufgabe, das Leben der Kolumbianer und eben auch der entwaffneten Guerilla-Kämpfer zu schützen, nicht. Die paramilitärischen Gruppen werden nicht effektiv bekämpft.

Was bedeutet das für die weitere Umsetzung des Abkommens?
Durch diese Probleme wurde der gesamte Friedensprozess verzögert – aber nicht aufgehalten. Im Kongress wurden bereits etwa 60 Prozent der Bestimmungen verabschiedet, es fehlen noch etwa zehn Reformen. Dazu gehört unter anderem auch das Gesetz für die Über­gangsjustiz sowie das Gesetz für die Landverteilung, das zentral im gesamten Friedens­prozess war. Die massive Konzentration des Landbesitzes und die damit verbundene poli­tische Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile waren und sind die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wenn wir diese Reformen nicht angehen, wird die Gewalt auch nicht enden. Das Problem ist, dass die Gesetze im Grunde bis Ende dieses Jahres verabschiedet sein müssen – nächstes Jahr sind Wahlen und es ist offen, wie eine mögliche neue Regierung mit den Rechtsvorschriften umgehen wird. Die rechte Opposition lässt keine Zweifel zu, Álvaro Uribe hat schon vielfach verkündet, dass er den Friedensvertrag „in Fetzen reißen“ möchte.

Wie bewerten Sie aktuell die Stimmung in der Zivilbevölkerung bezüglich des Friedensprozesses?
Das Abkommen hat die Bevölkerung vergangenes Jahr sehr stark polarisiert. Man kann sagen, dass das halbe Land dafür, die andere Hälfte dagegen war. Diese Spannungen haben sich vor allem im Rahmen des Referendums zum Frie­densabkommen gezeigt. Und diese Situation hat es der rechten Opposition ermöglicht, Zweifel zu sähen sowie mit polemischen Äußerungen und Falschnachrichten auf Stimmenfang zu gehen. Dadurch werden die Wahlen nächstes Jahr im Grunde zu einer Art zweitem Friedensreferendum.
Wir haben allerdings beobachtet, dass sich die Lage insgesamt in den vergangenen Monaten eher entspannt hat. Die Menschen nehmen den Friedensprozess nicht mehr als zentrale Agenda in der Politik wahr.

Was für Auswirkungen hat die allgemeine Stimmung auf den Prozess?
Die Polarisierung ist schwächer geworden, das hat Vor- und Nachteile. Die symbolische Gewalt hat nachgelassen, der Hass und die Aufrufe zu Gewalt sind insgesamt weniger geworden. Der Nachteil ist jedoch, dass die politische Rolle des Abkommens insgesamt auch abgeschwächt wurde, die Menschen fordern die Umsetzung der Bestimmungen nicht mehr so vehement ein. Die Bevölkerung ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass 90 Prozent der Bestimmungen aus dem Abkommen eigentlich nichts mit den FARC zu tun haben, vielmehr betreffen sie die Landrückgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption, Strategien zur Aufklärung der Verbrechen und zur Demokratisierung der politischen Prozesse. Nur etwa ein Zehntel der Bestimmungen beschäftigen sich wirklich mit den FARC, mit ihrer Wiedereingliederung, ihrer juristischen Situation.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, mit denen der Friedensprozess aktuell konfrontiert wird?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft: die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile. Letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.
Zweitens muss die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und er­mor­det. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden – gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach diesen Berichten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war unglaublich kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren hätte beendet werden müssen. Wir haben etwas erreicht, was vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.

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