„FÜR EINEN INDIGENEN DAS SCHLIMMSTE, WAS PASSIEREN KANN“

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

…ich komme aus Miraflores und wuchs dort im indigenen Reservat El Gran Cumbal, in der Nähe von Pasto an der Grenze zu Ecuador auf. Unsere Nachbarn sind die Awá, die dort auch in Reservaten leben. Wir alle leiden unter einem brutalen Konflikt. Unsere Region war lange Zeit unter der Kontrolle der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.). Zum Friedensprozess haben einige ihre Waffen abgegeben und andere gründeten Dissidentengruppen wie die Frente Oliver Sinisterra in unserer Region. Diese kämpfte gegen die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) um die Vorherrschaft in unserer Region. Auch die Präsenz von Paramilitärs nahm zu. Vor allem die Awá leiden unter ihnen, viele wurden von Paramilitärs ermordet.

Worum geht es bei diesen Kämpfen?
Dabei geht es um Kokain und Gold, vor allem der illegale Bergbau ist ein Problem. Außerdem wird über die Grenze viel geschmuggelt, zum Beispiel Waffen. Es ist bei uns für einen Bauern viel rentabler, Kokain oder Mohn zu kultivieren als Kartoffeln. Doch mit dem Drogenanbau ändert sich auch das Zusammenleben. Deswegen haben wir vom Indigenen Rat immer versucht, die Leute davon abzubringen, Kokain anzubauen. Wir Indigenen wollen keinen dieser bewaffneten Akteure in unserer Region haben. Keine Paramilitärs, keine Guerilla. Die benutzen die Angst, um die Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie töten einen oder zwei Anführer aus dem Dorf und alle folgen ihrer Herrschaft. Darum haben sie auch meine Familienmitglieder umgebracht, zwei Onkel und eine Tante.

Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen.

Waren die auch Oberhäupter der Gemeinde?
Ja. Mein Onkel brachte jeden Tag die Milch vom Land ins Dorf, um sie dort zu verkaufen. Er war wichtig für die Wirtschaft unseres Reservats. Mein Vater war zuständig für die Bildung, er war Lehrer. Mein anderer Onkel wiederum war einer der wichtigsten Bauern und mein Großvater war der politische Anführer. Wie also bringst du ein Dorf unter Kontrolle? Indem du die zentralen Personen umbringst und so Angst säst.

Sie haben von den Anstrengungen der Gemeinde erzählt, die Jugendlichen davon abzubringen, in den Kokainhandel einzusteigen oder sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Wie kann das gelingen?
Nach den Morden an meiner Familie 2003 floh ich zunächst nach Cali. Ich sollte aber weiter für den Indigenen Rat mit Jugendlichen arbeiten. Ich versuchte, die Jugendlichen zu motivieren, an die Universität zu gehen. Dann half ich ihnen auch mit den Dokumenten, der Bewerbung. In Cali gründeten wir ein Studentenwohnheim für indigene Studierende und einen Indigenen Rat in der Universität, damit die Jugendlichen, die aus den Dörfern in die Stadt kamen, nicht ihre Traditionen und ihre Wurzeln verlieren. Das war interessant, weil wir Indigene aus verschiedensten Regionen Kolumbiens waren. Wir luden indigene Anführer nach Cali ein, um uns weiterzubilden.

Was haben Sie eigentlich studiert?
Agrarwissenschaften und später dann in Neiva Erdölingenieurswissenschaften. Ich wollte wissen, wie die Erdölgewinnung funktioniert, damit wir uns dann besser gegen die Ölkonzerne verteidigen und ihre Informationen überprüfen können. Ich konnte mein Studium aber nicht beenden, da ich wieder mit dem Tode bedroht wurde.

Wie kam es zu diesen Bedrohungen?
Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen. Nun gibt es in Kolumbien aber ein Gesetz, wonach derjenige, der ein Land zehn Jahre bearbeitet, automatisch zum Landbesitzer wird. Also bemühten wir uns 2013 um die Rückgewinnung unseres verlorenen Landes und ich stellte den Antrag dazu. Die dafür zuständige Person in Nariño war eine Bekannte von mir. Ich dachte also, dass die Chancen gut stünden, unser Land zurückzuerhalten. Weißt du, was sie mir sagte? Dass wir in meiner Region die einzigen Antragsteller gewesen wären und deswegen zunächst alle anderen Regionen bearbeitet würden. Und das kann Jahrzehnte dauern.

Was passiert zur Zeit mit dem Land, das Ihnen gehört hat?
Dort wird Kokain angebaut. Ich habe mehrere Versuche gestartet, das Land mit der Guardia Indigena zurückzuholen. Doch so konnten wir die Leute nicht vertreiben.
Stattdessen erhielt ich Bedrohungen und musste erneut nach Cali fliehen. Als die Bedrohungen nicht aufhörten, ging ich nach Palmira und schließlich nach Neiva. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich Kolumbien verlassen müsste. Die ELN hatte einen meiner Schulfreunde umgebracht. Sie zogen ihn um 5 Uhr morgens aus seinem Haus und schossen 16 Mal auf ihn. Am nächsten Tag riefen sie das Dorf zusammen und sagten, dass sie ihn ermordet hätten, weil er ein Informant der Paramilitärs gewesen sei, und dass sie zwei weitere Menschen umbringen würden, von denen einer ich war. Dann erhielt ich eine SMS, in der stand, ich hätte sieben Tage, um zu verschwinden. Ich wandte mich an die Opferschutzbehörde des Staates, doch die sagten, sie bräuchten zwei Wochen, um die Ermittlungen aufzunehmen und über Schutzmaßnahmen für mich zu entscheiden. Später erzählte mir ein Bekannter, der für dieselbe Behörde arbeitet, dass sie kaum Gelder zur Verfügung hätten und sogar die schusssicheren Westen ausgegangen seien.

Die Bedrohungen haben Sie bis in verschiedene Städte weiterverfolgt?
Ja, das funktioniert systematisch. Der Landbesitzer, der mich umbringen lassen möchte, kann verschiedenste Gruppen an unterschiedlichen Orten damit beauftragen. Und diese Bedrohungen werden in vielen Fällen auch wahr gemacht.

Trotz dieser schwierigen Situation gibt es eine starke indigene Bewegung im Südwesten Kolumbiens. Wie erklärt sich diese?
Dafür ist es wichtig, die indigene Gemeinschaft zu verstehen. Unsere Einheit war immer unsere Stärke. Bei uns hat sich die Individualisierung nie so durchgesetzt wie im Rest Kolumbiens. Dazu gehört auch, dass alle unsere Entscheidungen in Versammlungen getroffen werden. Wenn jemand einen Fehler begeht, entscheidet die Gemeinschaft, welche Form der Bestrafung er erhält. Das stärkt die Gemeinschaft. Uns wurde immer beigebracht, dass wir verschwinden, wenn wir nicht stark genug sind. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Es ist also auch ein Schutzmechanismus. Es sind Kämpfe, die notwendig sind, aber auf die wir eigentlich keine Lust haben. Wer will protestieren gehen, Straßen blockieren und sich einer bewaffneten Gruppe entgegenstellen? Aber wir sind dazu gezwungen, weil die Regierung nie die Versprechen uns gegenüber eingehalten hat. Die Minga, unser Protest, hat dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhalten, das ist gut. Aber eigentlich machen wir das jedes Jahr.

Wird auch Ihre Arbeit mit den Jugendlichen vor Ort weitergeführt?
Nein, gerade nicht. Mein Freund Miguel Ángel hatte die Aufgabe übernommen und kümmerte sich um die Jugendlichen des Reservats. Er wurde dieses Jahr am 1. Mai umgebracht. Ich habe nun den Kontakt zum Reservat etwas abgebrochen, seit ich in Deutschland bin. Aus Sicherheitsgründen, meine Familie ist ja noch dort und auch in Gefahr. Dazu kommt, dass für einen Indigenen das Verlassen des Landes das Schlimmste ist, was ihm passieren kann. Das ist, wie wenn dir jemand das Herz bricht. Innerhalb unserer Gemeinschaft bestrafen wir Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben damit, dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Deswegen wollte ich nie das Land verlassen, ich versteckte mich lieber, lebte fern von meiner Familie, wechselte meine Wohnorte. Aber dann gab es keine Alternative mehr. Eines Tages sagte mir die staatliche Menschenrechtsverteidigerin: „Christian, du musst Kolumbien verlassen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrem Asylantrag in Deutschland bisher gemacht?
Für mich kam das alles sehr schnell. Die Menschenrechtsverteidigerin sagte, Deutschland sei ein gutes Ziel. Sofort kaufte ich das Ticket und einen Ratgeber „Wie ich mich in Deutschland verhalte“ (lacht). Am Flughafen in Deutschland wurde ich mehrere Stunden festgehalten, bis sie mich schließlich zur Erstaufnahmestelle schickten. Es war 11 Uhr nachts und ich hatte Angst, da man in Kolumbien nachts nicht einfach so rumlaufen kann. Jetzt weiß ich, dass das hier kein Problem ist. Ich habe meinen Antrag gestellt, aber ich habe kaum Informationen darüber, wie genau der Prozess weitergeht. Für mich ist das neu und alles sehr fremd, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wohne derzeit in einer Geflüchtetenunterkunft und es gibt einfach nichts zu tun. Alles ist verboten für mich – dabei bin ich ein Mensch, der gerne unterwegs ist, arbeitet und Pläne schmiedet. Dafür kann ich ohne Angst leben. Manchmal wache ich nachts auf und denke, dass ich immer noch in Kolumbien bin. Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass es hier sehr ruhig und sicher für mich ist.

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