Identität | Kolumbien | Literatur | Nummer 585 - März 2023

„DEN ORT WIE EINE FLUSSMÜNDUNG GESTALTEN“

Die afrokolumbianische Schriftstellerin Velia Vidal über Literatur an einem von Gewalt zerrissenen Ort

Für die kolumbianische Schriftstellerin Velia Vidal ist der Pazifikozean ein Symbol des Widerstands. Das spiegelt sich auch in ihrem Werk. Die LN sprachen mit der Autorin über afrokolumbianische Literatur, das Departamento Chocó und wie ein Lesefestival Menschen zusammenbringt.

Von Juan Camilo Brigard und Elizabeth Gallón Droste

Im März findet zum sechsten Mal die „Fiesta de la lectura y de la escritura del Chocó“ (Fest des Lesens und des Schreibens des Chocó, FLECHO) statt. Worum geht es da?

Wir haben FLECHO 2018 ins Leben gerufen, weil wir eine Buchveranstaltung in Quibdó, der Hauptstadt des Chocó, haben wollten, die für alle offen ist. So etwas gab es vorher nicht. Wir wollten, dass der Chocó als Ort der Begegnung, des Wortes, der Kunst und der Kultur positiv wahrgenommen wird. Es geht dabei um das Recht auf Lesen. Auf dem Festival soll das Leben gefeiert werden, gemeinsam Gesellschaft geknüpft werden. Dieses Jahr werden wir uns mit Migration beschäftigen, einem Thema, das viel mit uns zu tun hat: mit den freiwilligen und unfreiwilligen Migrationsbewegungen, die wir erlebt haben, aber auch mit den biologischen Migrationen der Artenvielfalt, die uns umgibt und durchzieht.

In deinem Buch Aguas de Estuario (Mündungsgewässer), das 2020 erschienen ist, identifizierst du dich stark mit dem Pazifik. Du benutzt das Bild des Salzwassers, das gegen das Süßwasser drückt, um eine Art hybriden Raum zu schaffen. Wenn du der Pazifik bist, was sind dann diese Flüsse?

Davon gibt es sehr viele. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fluss, der mit meiner Ausgrenzung und der kollektiven Ausgrenzung zu tun hat. Ich spreche kein Englisch. Und ich weiß, dass das daran liegt, dass ich als Afrofrau aus dem Chocó nie eine Schule besuchen konnte, in der ich Zugang zu einer guten Ausbildung gehabt hätte. Aber es gibt auch den Pazifik: Die Tatsache, dass mein Mann damit einverstanden ist, dass ich für ein halbes Jahr weggehe, um Englisch zu lernen, weil wir glauben, dass das für meine Arbeit als Schriftstellerin und Kulturmanagerin wichtig ist. Das ist der Pazifik, der gegen die Ausgrenzung anrollt. Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit mit MOTETE. Wir arbeiten mit Literatur, obwohl die Stereotypen uns auf die Arbeit mit Tanz und Musik reduzieren – auf die Körperlichkeit und die Mündlichkeit. Wenn man sich entscheidet, eine Kultur zu fördern, die normalerweise nicht mit der Afrobevölkerung in Verbindung gebracht wird, dann ist das der Pazifik, der gegen einen anderen Fluss ankämpft.

Was passiert, wenn der Pazifik auf diese Flüsse der Ausgrenzung trifft?

Wir werden von vielen Dingen erdrückt. Deshalb müssen wir versuchen, die Flüsse, die immer in diese Richtung geflossen sind, zurückzudrängen. Das bedeutet, dass wir diesen Ort wie eine Flussmündung gestalten: manchmal dunkel, manchmal transparent, manchmal schlammig, aber immer voller Leben. Hier wird viel Leben geboren. So wird dieser Ort, der so unbestimmt, so ungewiss, so gefährlich ist – denn er ist gefährlich und hat mit Strömungen zu kämpfen –, dieser Ort, von dem man nicht weiß, ob er süß oder salzig ist, zu einem fruchtbaren Ort.

Welche Autor*innen gibt es noch im Chocó, der für Literatur ja gar nicht bekannt ist?

Derzeit wird eine Bibliothek der kolumbianischen Literatur von Frauen erstellt, das ist sehr wichtig. Da wurden unter anderem Teresa Martínez de Varela mit Mi Cristo negro und meine Freundin Yihan Rentería Salazar aufgenommen. Sie erzählen von der Region Chocó aus. Ihre Stimmen sollten bekannter werden. Auch die Erzählungen von Carlos Arturo Truque, die in der Afrokolumbianischen Bibliothek erschienen, sind meiner Meinung nach nicht bekannt genug. Es gibt einen Roman mit dem Titel La hija del aguijón, geschrieben von Eyda María Caicedo, die jung verstarb. Es gibt noch andere Leute im Chocó, die im Selbstverlag publiziert haben. Ich schätze es sehr, dass César Rivas Lara oder Ana Gilba Ayala niemanden um Erlaubnis fragen, bevor sie veröffentlichen.

Woran liegt es, dass Literatur aus dem Chocó weniger bekannt ist?

Der kolumbianische Literaturbetrieb ist sehr geschlossen. Wir haben im Chocó mit großen Nachteilen zu kämpfen, zum Beispiel gibt es kein Literaturprogramm, es gibt keine Kunstfakultät, und das hat direkte Auswirkungen auf die Ausbildung neuer Autor*innen. Um gegen diese Strömungen anzukämpfen muss man so sein wie der Pazifik – sich einen Platz im Literaturbetrieb erkämpfen und die Entscheidung treffen, Schriftsteller zu werden. Es ist sehr schwer für uns, diesen Weg zu gehen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es geschafft habe.

Vor Kurzem habe ich in der Zeitschrift 070 einen Artikel mit dem Titel „Racismo en Esta herida llena de peces“ („Rassismus in Esta herida llena de peces“, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Über den Rassismus in einem Roman zu sprechen, der bei Angosta Editores, einem sehr wichtigen Verlag in Kolumbien, erschienen ist, bedeutet: Das zu riskieren, was man sich aufgebaut hat – ein weiterer mächtiger Fluss, gegen dessen Strömung man anschwimmen muss. Zu sagen: „Dieser Roman handelt vom Chocó, und ich muss es sagen: Er ist rassistisch“, ist ein Drahtseilakt. Ich muss abwägen: Welchen Weg will ich im Literaturbetrieb dieses Landes einschlagen, wie will ich mich positionieren. Schweigen und den Kopf einziehen, um nicht rausgeschmissen zu werden? Es war entlarvend für mich, dass ich den Artikel an ein sehr wichtiges Medium geschickt hatte, das zunächst zusagte, sich dann aber nicht mehr meldete und den Artikel nie veröffentlichte. Zum Glück waren die Leute von 070 absolut offen.

Manchen gilt der Pazifik als Symbol für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Was sagst du dazu?

In meiner vorherigen Antwort habe ich von Autoren aus dem Chocó gesprochen, weil ich glaube, dass diese Vorstellung vom Pazifik gefährlich ist. Sie verleitet uns dazu, eine Region über einen Kamm zu scheren, die sehr vielfältig ist. Das Cabo Corrientes als wichtiges geografisches Merkmal des Pazifiks zeigt, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann. Vom Cabo Corrientes aufwärts ist der Pazifik völlig anders als vom Cabo Corrientes abwärts. Das zeigt sich zum Beispiel in den gastronomischen Gepflogenheiten, in der Art zu sprechen, in der Musik und in vielen anderen Dingen. Die Menschen von der Pazifikküste sind ganz anders als die Menschen im Landesinneren, etwa am Fluss San Juan, am Fluss Atrato oder an der Karibik. Die Idee des Pazifiks ist eine weitere Vereinfachung aus dem Zentrum des Landes, eine so absurde Vereinfachung, dass sogar Cali darunter gefasst wird.

Was kann man dem entgegensetzen?

In einem Artikel der spanischen Tageszeitung El País werde ich als einzige lebende Afroschriftstellerin dargestellt, alle anderen seien Mestizos und Mestizas. Ich respektiere die dort Genannten sehr, einige von ihnen liebe ich von ganzem Herzen. Aber ja, sie sind zweifellos Mestizos und Mestizas. Ihre Romane sind sehr unterschiedlich, was den Sprechort der Protagonist*innen und die Figuren angeht. Ich finde, darin liegt ein Reichtum. Aber es sind ganz andere Stimmen als meine. Es geht mir nicht darum, die eine über die andere zu stellen. Ich glaube auch nicht, dass wir nur über uns selbst sprechen können. Aber es muss eine größere Vielfalt geben, das würde die Perspektiven bereichern. Ich versuche, Verallgemeinerungen über den Pazifik zu vermeiden, weil sie ein großes Risiko bergen. Zwar gibt es auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass dieses Gebiet, das nicht erzählt wurde, erzählt werden muss. Und es gibt einen Markt dafür. Und deshalb entstehen Dinge wie Esta herida llena de peces. Dabei ignorieren wir unsere Unfähigkeit, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir die anderen erzählen. Ich glaube nicht, dass man nur über sich selbst schreiben kann, man kann auch von anderen erzählen. Aber man muss in der Lage sein, sich zu fragen, wie man von diesem Anderen erzählt, und das ist vielleicht das Wichtigste bei dieser Übung, vom Pazifik zu erzählen. Wer schreiben will, soll es tun! Darum geht es in der Literatur, um Freiheit, aber es ist wichtig, dass wir uns fragen, wie wir vom Anderen erzählen, insbesondere von einem rassifizierten Anderen und einem ausgeschlossenen Anderen.

In deinem Buch benutzt du oft den Begriff des Glücks. Wie steht es heute um das Glück der Flussmündung?

Vergangene Woche bin ich aufgestanden und das erste, was ich las, war, dass zwei junge Frauen in Quibdó ermordet worden waren, ganz in der Nähe unserer Bibliothek. In meinem Dorf ermordeten Paramilitärs einen Schizophrenen, weil sie beschlossen, dass sie keine „Verrückten“ im Dorf haben wollten. In demselben Park, in dem wir das FLECHO-Festival veranstalten, haben sie um sechs Uhr abends zehn Mal auf ihn geschossen.

Gleichzeitig ist MOTETE größer geworden, hat ein wunderbares Arbeitsteam, Pläne und Verbündete. Alles, was wir tun, tun wir inmitten eines Departamento, das von der verstärkten paramilitärischen Gewalt zerrissen wird. Und man fragt sich: Was mache ich? Gebe ich mich der Trauer und dem Schmerz hin oder gebe ich mich dem Leben in einer Blase hin, um diesem Schmerz nicht begegnen zu müssen? Der Weg ist die Flussmündung. Oder, wie eine mit mir befreundete Lesefördererin sagte: „Ich habe verstanden, dass es kein Paradies ohne Schlangen gibt.“

VELIA VIDAL ist eine kolumbianische Schriftstellerin aus dem Departamento Chocó. 2020 veröffentlichte sie das Buch Aguas de Estuario, das derzeit ins Englische übersetzt wird. Der autobiografische Bericht ist in Form von Briefen an einen anonymen Adressaten geschrieben. Die Erzählerin berichtet von ihrer Rückkehr aus Medellín ans Ufer des Atrato-Flusses im Departamento Chocó, wo sie Kulturmanagerin und Leserförderin wird. Vidal ist Vorsitzende von MOTETE, einer Kulturkorporation, die einmal im Jahr das Literaturfestival FLECHO organisiert. (Foto: Elizabeth Gallón Droste)

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