„LITERATUR IST EINE POLITISCHE BOTSCHAFT“
Die Mapuche-Dichterin und Künstlerin Daniela Catrileo über die Rolle des kollektiven Gedächtnisses im Schreibprozess
DANIELA CATRILEO
ist geboren 1987 in Santiago de Chile, ist Schriftstellerin, Künstlerin und Philosophie-Dozentin und vor allem für ihr lyrisches Schaffen bekannt. Ihr erster Gedichtband Río herido, auf den weitere folgten, erschien 2016. Im Jahr 2019 veröffentlichte sie mit Piñen ihren ersten Prosaband. Als Schriftstellerin und Aktivistin setzt sich Catrileo für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein und thematisiert die Gewalt, die den Mapuche in Chile widerfährt. Für ihr Schaffen ist sie 2019 mit dem Literaturpreis der Stadt Santiago de Chile in der Kategorie Lyrik ausgezeichnet worden.
(Foto: Raúl Goycoolea)
Sie sind vor Kurzem beim internationalen literaturfestival berlin aufgetreten. Wie war es, sich nach anderthalb Jahren Pandemie wieder mit einem Publikum und anderen Autor*innen austauschen zu können?
Es war intensiv. Ich glaube, das ist der richtige Begriff, da es erst die zweite Veranstaltung mit größerem Publikum war, an der ich seitdem teilgenommen habe. In Chile war ich zuvor erst bei einem Event in Präsenz. Nach einer so langen Zeit der Onlineveranstaltungen war es eine intensive Erfahrung, sich mit anderen in der Öffentlichkeit auszutauschen. Insbesondere war es interessant, mit Autor*innen aus unterschiedlichen Kontexten in Dialog zu treten und über verschiedene Perspektiven und Erfahrungen ins Gespräch zu kommen; vor allem, weil es bei der Veranstaltung, an der ich teilgenommen habe, um den Austausch indigener Stimmen ging. Es hat Spaß gemacht und natürlich war ich auch sehr aufgeregt, erneut mit so vielen Menschen auf engem Raum zu sein.
Sie sind vor allem für Ihre Lyrik bekannt. Ihr erster Prosaband Piñen erschien 2019. Was macht Ihrer Meinung nach den Unterschied zwischen diesen beiden literarischen Gattungen aus? Wodurch zeichnen sie sich jeweils aus?
In letzter Zeit habe ich viel über die Unterschiede zwischen diesen Gattungen nachgedacht und ich muss sagen: Ich finde, sie sind nicht so groß. Ich fasse es mal so zusammen: Für mich ist das Schreiben transversal und ich habe mich schon immer mit verschiedenen Formaten auseinandergesetzt. Da ich zuvor keine Prosa veröffentlicht hatte, haben sich die Leute gewundert, wie das geht, wenn man bislang nur Poesie verfasst hat. Aber für mich ist daran nichts komisch, da das Schreiben mir die Möglichkeit bietet, mich zu entfalten, Denk- und Reflexionsräume zu schaffen. Die Grenzen einzelner Gattungen zu betonen, interessierte mich mit den Jahren immer weniger; im Gegenteil. Ich finde es spannend, diese starren Vorstellungen aufzubrechen. Für mich ist es interessant, mit den Buchstaben, mit den Worten zu experimentieren, mich reizen neue Formate und Darstellungsformen, zum Beispiel audiovisuelle Techniken.
Deshalb spreche ich mit Blick auf diese Schaffensräume von transversalem Schreiben. Aber natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Formaten: Prosa oder Lyrik zu lesen ist nicht das Gleiche. Vielleicht liegt einer dieser Unterschiede in der Verbreitung und Vermarktung eines Buches. Lyrik wird generell weniger gelesen, weil die Menschen gewisse Vorurteile bezüglich ihrer Undurchsichtigkeit und Komplexität haben. Dass viele Menschen sich an Lyrik nicht herantrauen, steht vielleicht auch mit Fragen von Bildung oder Zugänglichkeit in Verbindung. Prosa ist vielleicht leichter verdaulich, aber wie gesagt, ich finde, diese beiden Welten liegen nicht so weit auseinander.
Sie thematisieren in Ihrem Werk unter anderem koloniale Kontinuitäten und die Verdrängung der Mapuche in Chile. Bis zu welchem Grad kann und sollte Ihre Literatur als politische Botschaft verstanden werden?
Meiner Meinung nach ist Literatur immer eine politische Botschaft, unabhängig von ihren konkreten Inhalten. Es gibt gewisse Anzeichen der politischen Gesinnung der Autor*innen und schon das Schreiben als solches ist politisch. Es ist unmöglich, sich davon zu lösen, denn wir sind alle innerhalb eines bestimmten territorialen Kontextes verortet. Ich schreibe von meinem Ort aus, ich habe eine spezielle Geschichte mit einem kollektiven Gedächtnis, das eine bestimmte Erfahrung impliziert. Die Bücher, die ich bisher veröffentlich habe, weisen Spuren dieses kollektiven Gedächtnisses auf. Es setzt sich aus den Bruchstücken vieler Geschichten zusammen, die von kolonialen Kontinuitäten durchzogen sind. Ich glaube, es ist unmöglich, Kunst oder Literatur von politischer Aktion zu trennen, da sie Orte des Schaffens und auch des Widerstands sind – allein durch die bloße Tatsache, dass sie die Gestaltung neuer Utopien ermöglichen. Ich denke, es ist politisch, dass die Gruppen, die sich über einen langen Zeitraum dem Kolonialismus widersetzt haben, nun neue Handlungs- und Vorstellungsräume entwickeln können. Für mich ist das etwas Neues und in diesem Sinne politisch. Es ist eine Geste.
Sie haben das kollektive Gedächtnis erwähnt. In Interviews, aber auch in Ihrem Werk, hat dieser Punkt einen wichtigen Stellenwert. In welcher Beziehung stehen für Sie Literatur und kollektives Gedächtnis?
Das kollektive Gedächtnis ist zentral, weil es ein Bündel an Erfahrungen ist, ein Archiv, ein Zeugnis. Ich denke es ist wichtig, weil in diesen Archiven eine Spur zurückbleibt. Ein Buch, ein künstlerisches Werk erzeugt diese Spuren, diese Gesten, die in einem Artefakt eingeschrieben sind. Sie vergehen nicht mit dem Artefakt, sondern sie werden weitergegeben. Das ist sozusagen das Ansteckende am kollektiven Gedächtnis. Das kollektive Gedächtnis sammelt Dinge, es nimmt verschiedene Geschichten auf. In meinem Fall ist das kollektive Gedächtnis nicht nur Teil des Schreibens, sondern auch Teil anderer politischer Gesten. Ich mag es, das kollektive Gedächtnis in der literarischen Bildung einzusetzen und sein Fortbestehen durch Gespräche zu sichern. Für die Mapuche ist das kollektive Gedächtnis sehr wichtig. Als Möglichkeit der Gestaltung, der Restitution, der Wiederherstellung. Es wird am Leben gehalten, solange wir Utopien gestalten.
Im Gespräch mit der Moderatorin des ilb haben Sie die neue Verfassung, die gerade in Chile ausgearbeitet wird, als literarisches Werk bezeichnet. Was macht die neue „carta magna“ für Sie literarisch?
Ja, ich meinte damit vor allem eine bestimmte Art des Schreibens. Eine Verfassung symbolisiert eine Art des Schreibens und in gewisser Weise ist diese Verfassung, die – in Anführungsstrichen – demokratischste Art des Schreibens, die dieses Land bisher kennengelernt hat. Denn sie stammt aus der Feder unterschiedlichster Menschen. Sie wurde nicht im stillen Kämmerlein, nicht in einer Diktatur verfasst. Im Gegenteil: Sie wird von Menschen ausgearbeitet, die marginalisierte Gruppen der Zivilgesellschaft repräsentieren. Diese Gruppen sind sehr heterogen und ich denke, das ist das Pluralistischste, was je in diesem Land geschehen ist. Und das ist der Revolte und anderen sozialen Bewegungen, die in Chile schon seit langer Zeit bestehen, zu verdanken. In diesem Sinne sehe ich die Verfassung als ein literarisches Mittel. Eine symbolische Art des Schreibens, derer man sich nicht entziehen kann. Ich denke, man muss die Prozesse aufmerksam beobachten und die demokratischen Errungenschaften verteidigen. Wir glauben zwar, dass dieses literarische und politische Mittel Dinge verändern kann, aber es entsteht zu Teilen auch unter repressiven Bedingungen und vor allem innerhalb der Eliten wird es schwierig sein, für seine Akzeptanz zu werben. Das erwähne ich vor allem vor dem Hintergrund der rassistischen Anfeindungen gegenüber manchen Mitgliedern des Verfassungskonvents. Auch wurden von verschiedenen Seiten Falschmeldungen verbreitet. Die Rechte initiiert politische Kampagnen, um der neuen Verfassung und dem politischen Prozess zu schaden .
Wie Sie bereits erwähnt haben, entstammt ein großer Teil der Mitglieder des Verfassungskonvents sozialen Bewegungen. Wie stehen Sie den Prognosen einer ökologischen und feministischen Verfassung gegenüber?
Ich finde interessant, dass verschiedene Vorstellungen von Ökologie eingebunden werden. Warum? Weil viele der Mitglieder des Verfassungskonvents aus Regionen stammen, die vom Extraktivismus gebeutelt sind. Es handelt sich also nicht um einen Diskurs, der von einer bestimmten Erfahrung entkoppelt ist. Es handelt sich vielmehr um einen verkörperten Diskurs: Es gibt einen Körper, der die Unterdrückung in seinem Territorium erfährt. Auf der anderen Seite gibt es die Vertreter*innen verschiedener indigener Gruppen, die die territoriale Zerstörung in ihren Gemeinden erlebt haben, und natürlich gibt es eine große Zahl feministischer Protagonist*innen, und all das ist Zeugnis der sozialen Revolte in Chile. Diese repräsentierte nicht nur eine politische Position, sondern eine politische Verflechtung vieler Sektoren, die in ihrer Heterogenität Kräfte freisetzten. Das heißt, wir hatten zum einen die starke Studierendenbewegung, aber auch all die anderen sozialen Mobilisierungen, die seit Jahren gegen die AFP (Private Rentenfonds, Anm. d. Red.), gegen den Extraktivismus in den Territorien, gegen die Ausbeutung des Wassers und mehr kämpfen. Dazu kommt die feministische Bewegung, die in den letzten Jahren erstarkt ist. Ich denke, das Wichtigste ist, diese Pluralität, diese Heterogenität der Verfassung zu verteidigen, die uns das Gefühl gibt, dass wir gemeinsame Brücken bauen können, weil wir in unserer Diversität in diesen Territorien zusammenleben. In gewisser Weise geht es darum, ein Gewebe zu flechten. Ja, das ist es: Die neue Verfassung ist ein Geflecht, in dem mehrere Stimmen existieren können.