GEWERKSCHAFT DER HUREN

„Wir existieren, arbeiten, leisten Widerstand!“ Illustration aus einer Broschüre von AMMAR

Missbrauch, Ausbeutung, Diskriminierung: Es gibt wohl kaum eine Form der Misshandlung, die Sexarbeiter*innen in Argentinien nicht erlitten haben. So blieben sie eine marginalisierte Gruppe, die oft lediglich mit Menschenhandel und Zuhälterei in Verbindung gebracht und unter dem Einfluss konservativer Kräfte nie wirklich anerkannt wurde. Dies änderte sich erst, als Ende 1994 mit der Gründung der Argentinischen Vereinigung der Prostituierten (AMMAR) eine Gewerkschaft der Sexarbeiter*innen entstand. Als Antwort auf die polizeiliche Repression gegen Straßen-Sexarbeit begannen Frauen und Travestis (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem, transgender Personen beschreibt) sich als Arbeiter*innen zu organisieren, um gemeinsam für eine Entkriminalisierung und Regulierung ihrer Arbeit zu kämpfen.

Im Laufe der Jahre und unter den verschiedenen Regierungen gelangt es AMMAR, in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen noch sichtbarer zu werden. So kooperiert die Gewerkschaft mit dem Red de Trabajadores Sexuales de Latinoamérica y el Caribe (Vernetzung von Sexarbeiter*innen Lateinamerikas und der Karibik) und wurde Teil des Gewerkschaftsbundes Central de los trabajadores argentinos (CTA).

Hure, Peronistin, Feministin

Dabei hat sich der von den Sexarbeiter*innen geführte Kampf um die Veränderung ihrer Realität bis heute grundlegend gewandelt. Das liegt vor allem am Engagement von Georgina Orellano, die sich selbst als „Hure, Feministin und Peronistin“ bezeichnet. Orellano ist nationale Generalsekretärin der AMMAR und weiß als Sexarbeiterin nur zu gut, mit wem sie sich anlegt: der Polizei, der Kirche, der argentinischen Rechten und einem Business, welches mit großen Summen von Geld handelt.

Oralleno und ihre Mitstreiter*innen werden nicht müde, den Unterschied zwischen Sexarbeit und Menschenhandel zu betonen. Schließlich können sich volljährige Personen durchaus freiwillig und selbstbestimmt dazu entscheiden, als Sexarbeiter*in tätig zu werden. Um dieses Thema dreht sich auch Orellanos neues Buch Puta feminista. Historias de una trabajadora sexual, in dem sie auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung vom Berufsalltag erzählt.

Im Zuge der Corona-Krise hat AMMAR erstmalig begonnen, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Die Kooperation mit dem Ministerium für soziale Entwicklung und dem Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität stellt für die Gewerkschaft eine Zäsur dar. Zunächst wurde dabei an Lösungen für die durch die Anti-Corona-Maßnahmen noch verschlimmerte Prekarisierung der Sexarbeitenden gearbeitet.

Für die Entkriminalisierung und Regulierung von Sexarbeit

Der Corona-Lockdown hat die Sexarbeiter*innen besonders hart getroffen und ihre Arbeitsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Gesundheitsmaßnahmen, unter denen sie ihre Tätigkeit hätten weiterführen können, wurden nicht definiert, gleichzeitig verschlimmerte sich die Wohnungskrise. Denn durch die Illegalisierung ihrer Arbeit sind Sexarbeiter*innen vom regulären Wohnungsmarkt ausgeschlossen. Die Hotels und Pensionen jedoch, die den meisten von ihnen Unterschlupf boten, zogen in der Krise ihre Preise stark an. Sexarbeiter*innen ohne gültige Papiere waren davon besonders betroffen. Diese Situation machte diese Gruppe noch verletzlicher und trieb viele in die Obdachlosigkeit.

Um dieser prekären Situation zu entkommen, begann die Zusammenarbeit mit der Regierung von Alberto Fernández. Ziel war unter anderem, dass die Unterkunftskosten für Hotels und Pensionen anteilig vom Staat übernommen werden sollten. Gleichzeitig wurde die Casita Roja (rotes Häuschen) im für Sexarbeit bekannten Barrio Constitución in Buenos Aires eröffnet. Dieses bietet umfassende Beratungs- und Betreuungsangebote für Sexarbeiter*innen.

Tausende Anträge auf soziale Unterstützung wurden dort bereits bearbeitet. Zudem werden die Angebote ausgeweitet: So ermöglicht eine Ciudadanía porteña genannte Karte Vergünstigungen beim Kauf von Nahrungsmitteln, es gibt medizinische Sprechstunden und Impfungen gegen das Coronavirus. Zusätzlich werden Identitätsdokumente für illegalisierte Migrant*innen aus Lateinamerika und Afrika ausgestellt, unabhängig davon, ob diese in der Sexarbeit tätig sind oder nicht. Vor allem letzteres führte zu einer sehr hohen Nachfrage von Migrant*innen, die bisher anonym auf den Straßen lebten und die nun vom nationalen Personenregister Registro Nacional de las Personas (RENAPER) erfasst werden.

Die Aktivitäten der Gewerkschaft bleiben nicht auf die Hauptstadt beschränkt: In der Provinz Córdoba hat AMMAR eine Primärschule eröffnet. Diese steht der ganzen Bevölkerung offen und kann die offiziellen Abschlüsse des Bildungsministeriums verleihen. Da es vielen Sexarbeiter*innen auf Grund ihres sozioökonomischen Hintergrunds nicht möglich war, eine umfassende Schulbildung zu erhalten, soll es ihnen diese auch von Sexarbeiter*innen geführte Schule ermöglichen, wenigstens in Teilpräsenz am Unterricht teilzunehmen.

Bisher sind Sexarbeiter*innen vom regulären Wohnungsmarkt ausgeschlossen

Doch damit ist es noch lange nicht getan, AMMAR hat noch größere, grundsätzlichere Ziele: Die Anerkennung der Organisation durch das Arbeitsministerium etwa, was den Ausbruch aus der Illegalität bedeuten und die ständigen Konflikte mit der Polizei beenden würde. Zusätzlich wäre damit der Zugang zu Krankenversicherung und Rente garantiert. Außerdem wird die Abschaffung der Artikel der sogenannten Códigos Contravencionales gefordert, welche den zwischen Staat und Gewerkschaft geschlossenen Vereinbarungen zuwiderlaufen und die Sexarbeit weiterhin kriminalisieren.

Die Einzigartigkeit der von AMMAR geleisteten Arbeit, in schwierigen Zeiten Unterstützung nicht nur für Sexarbeiter*innen zu leisten, geht konform mit den von der Organisation vertretenen peronistischen Werten und ist auch eine Strategie, die Gewerkschaft sichtbar zu machen und erfolgreiche Vereinbarungen mit dem Staat zu treffen.

Diese Revolution der Huren hat die Vorstellung der argentinischen Gesellschaft von Sexarbeit in den letzten Monaten grundlegend beeinflusst. Es ist ihr gelungen, einen großen Teil der Berufstätigkeit, der über Jahrzehnte unterdrückt wurde, zu entstigmatisieren, konservative Kräfte herauszufordern, eine solidarische Perspektive aufzuzeigen, aber vor allem, ein Paradigma zu reformulieren: Sexarbeit ist Arbeit und auch eine freie Entscheidung.

WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Cover: Suhrkamp

In der Mitte des Romans steht der Schlüsselsatz: „Wir sind da, damit wir geschrieben werden. Damit wir verewigt sind.“ Und genau das macht Camila Sosa Villada. Wir, das sind die trans Prostituierten im Sarmiento-Park im Herzen der argentinischen Stadt Córdoba, von deren Leben die Autorin in Im Park der prächtigen Schwestern erzählt. Es ist ein autobiografischer Roman, denn Camila Sosa Villada, die in Argentinien vor allem als Theater- und Filmschauspielerin bekannt ist, hat selbst als trans Prostituierte in Córdoba gearbeitet. Und so trägt die Ich-Erzählerin auch ihren Namen.

Die Gruppe der prächtigen Schwestern dieses Parks – der Originaltitel des Romans hat übrigens eine andere Perspektive, nämlich die der Gesellschaft: Las Malas, „Die Schlechten“ – wird zusammengehalten von Tía Encarna, der Inkarnierten, der Tante, die das Oberhaupt dieser Wahlfamilie ist. Sie ist nicht nur der Mutterersatz für die „Waisenmädchen“, die trans Prostituierten, sondern auch für einen drei Monate alten Säugling, den sie im Park findet und dem sie den Namen Glanz in den Augen gibt. Von ihnen erzählt die junge Camila, kaum volljährig, und von den vielen anderen Frauen und Freiern, denen sie täglich begegnet.

Und von ihrer eigenen Kindheit: Aufgewachsen in dem „beschissenen Kaff“ Mina Clavero mit einer passiven Mutter und einem brutalen Vater, der seinem femininen Sohn prophezeite, er würde eines Tages tot im Straßengraben landen, floh Camila nach Córdoba, um dort frei zu sein. Doch diese Freiheit ist trügerisch. Die trans Prostituierten leben in den Schatten der Stadt, haben als Sicherheitsnetz nur sich, und auch diese gegenseitige Unterstützung zerfällt schnell.

Im Park der prächtigen Schwestern ist ein rauer Roman, der von Brutalität und Einsamkeit, von Misshandlungen und Schmerz berichtet. Vom eigenen Groll, der, wie Camila erzählt, alles verwandelt, „Erleichterung in Anspannung, Höflichkeit in Grobheit, Offenheit in Heuchelei, Kummer in Zorn“. Doch die Geschichte der Frauen handelt auch von zarter Schönheit, vor allem in der Liebe, die sie für Glanz in den Augen empfinden. Den Festen, die gefeiert werden, der Hoffnung, die immer wieder aufkeimt.

Zudem weiß Camila Sosa Villada um die Tradition, in der sie steht, und webt dezente märchenhafte Elemente in die Geschichte ein, ohne dabei den Magischen Realismus früherer Generationen von lateinamerikanischen Autor*innen zu kopieren. Im Park der prächtigen Schwestern war in Argentinien ein großer Erfolg und wurde 2020 mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet, der jährlich den besten Roman der auf Spanisch schreibenden Schriftstellerinnen prämiert. Gekonnt übersetzt von Svenja Becker entwickelt der Roman auch auf Deutsch seine ungezügelte wie poetische Wucht und Direktheit. Das Leben der prächtigen Schwestern verdient es, aufgeschrieben und verewigt zu werden. Ein Glück, dass Sosa Villada der Forderung ihrer Figur gefolgt ist. Und ein Glück, dass dieser Roman jetzt seinen Weg zum deutschsprachigen Publikum gefunden hat.

SICHTBAR, ENGAGIERT UND HARTNÄCKIG

Wettbewerb Miss America Continental in Tegucigalpa, Honduras // Fotos: Markus Dorfmüller

Die Regenbogenfahne ist natürlich dabei, wenn es am 17. Mai wieder auf die Straße geht. Sie hängt im Aufenthaltsraum von Arcoíris (Regenbogen) an der Wand. Im Zentrum von Tegucigalpa, nur ein paar Steinwürfe vom Busbahnhof, hat die 2003 gegründete LGBTI*-Organisation ihr Büro, zu dem auch Aufenthaltsräume gehören. Hier trifft sich die queere Szene der honduranischen Hauptstadt, organisiert Kampagnen, tritt für die eigenen Rechte ein und feiert hin und wieder auch Partys. „Bei unserem ersten Marsch gegen die Homophobie und für die Rechte unserer queeren Community waren wir gerade zwanzig, im letzten Mai immerhin rund tausend Personen“, erinnert sich Donny Reyes.
Der stämmige Mann Ende 40 ist Gründungsmitglied und Koordinator von Arcoíris, einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der queeren Gemeinde engagiert. Um die ist es mies bestellt, denn Honduras gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für LBGTI*-Aktivist*innen. 38 Morde wurden von den LGBTI*-Organisationen des Landes im Laufe des letzten Jahres registriert – ein Mord weniger als 2017. Alle anderen Angriffe summieren sich zu Hunderten. „Am sichtbarsten und am verwundbarsten sind trans Frauen“, so Donny Reyes. Die organisieren sich bei Arcoíris als Muñecas de Arcoíris, auf deutsch übersetzt Regenbogenpüppchen. Ein sarkastischer Titel, den die Frauen bewusst gewählt haben. Jeden Dienstag treffen sie sich im Büro in der dritten Avenida des Concepción, einem Handwerkerviertel am Rande des Zentralmarkts von Tegucigalpa. „Nur ein paar Blocks entfernt, rund um den Parque El Obelisco, befindet sich der trans Strich von Tegucigalpa“, so Donny Reyes. Viele der trans Frauen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, haben keine Ahnung von ihren Rechten und das versuchen Reyes und seine Kolleg*innen zu ändern – mit Workshops, aufklärender Informationsarbeit und Beratung in den Räumen der Nichtregierungs­organisation.

Mit einem Musterprozess soll die Straflosigkeit beendet werden


Die beiden trans Frauen Bessy Ferrera und Paola Flores leiten und koordinieren die Arbeit der Muñecas de Arcoíris und haben selbst einschlägige Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Bessy Ferrera fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Dann deutet sie auf die wulstige rund fünfzehn Zentimeter lange Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein Freier wollte nach dem Sex nicht zahlen und hat mir von hinten versucht die Kehle durchzuschneiden“, sagt die Frau von Mitte dreißig. „Nur weil er das Messer zu tief angesetzt hat, sitze ich noch hier“, sagt sie mit einem bitteren, rauen Lachen. Fast verblutet ist sie damals, konnte sich aus dem Hinterhof gerade so auf die Straße schleppen, wo jemand einen Krankenwagen rief. Die mit groben Stichen genähte Narbe erinnert sie bei jedem Blick in den Spiegel an den Angriff vor ein paar Jahren. In einem der Hinterhöfe rund um den „Parque El Obelisco“ im Zentrum von Tegucigalpa fand er statt, nur ein paar Steinwürfe von den Markthallen entfernt. Handwerksbetriebe und mobile Verkaufsstände dominieren das Ambiente tagsüber, nachts dreht sich alles um Sex. Trans- und Homosexuelle gehen mitten in der honduranischen Hauptstadt der Sexarbeit nach. Bessy Ferrera ist eine von ihnen. „In Honduras hat man als trans Frau keine Chance auf einen regulären Job. Was bleibt ist für viele von uns nur die Prostitution“, meint sie und streicht sich eine rotblondgefärbte Strähne aus der Stirn. Abfinden will sich Bessy Ferrera mit der alltäglichen Diskriminierung und Verfolgung aber nicht und deshalb engagiert sie sich bei Arcoíris.

Bessy Ferrera…

und Paola Flores leiten die Arbeit von Muñecas de Arcoíris

„Ein großes Problem ist, dass kaum jemand von uns genau weiß, was für Rechte wir eigentlich haben. Worüber frau nichts weiß, kann sie auch nicht verteidigen“, erklärt Bessy Ferrera mit einem koketten Grinsen. Daran will sie etwas ändern und ist deshalb bei Arcoíris eingestiegen . Erst als Freiwillige, mittlerweile als Stellvertreterin von Paola Flores. Die schmale trans Frau ist das Gesicht der Muñecas de Arcoíris. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen rund um den „Parque El Obelisco“ trans Frauen anzusprechen, sie über ihre Rechte im Umgang mit Freiern, aber auch der Polizei aufzuklären. Die eigenen Rechte sind zentrales Thema bei den wöchentlichen Treffen, aber auch die Probleme, denen sich Trans- Bi-, Homosexuelle und die restliche Queer-Szene in Honduras gegenübersieht.

„Wir werden ausgegrenzt, diskriminiert, gedemütigt, vergewaltigt und ermordet“, zählt Paola mit leiser Stimme auf. „Honduras ist eine christlich verbrämte Macho-Gesellschaft in der Rechte der Anderen nicht geachtet werden“, schildert sie das Grundproblem. Hinzu kommt ein nicht funktionierendes Justizsystem. Straftaten gegen LGBTI*-Personen werden nicht geahndet, das monierte auch die Menschenrechtskommission der OAS (Organisation für Amerikanischer Staaten) bei ihrer letzten Visite im August 2018. Laut der Kommission habe es in den letzten fünf Jahren 177 Morde gegeben, von denen kaum einer aufgeklärt worden sei.
Das hat viele Gründe. Einer ist aber laut Paola Flores, dass bei den Verbrechen aus Hass nicht richtig ermittelt werde. „Das beginnt bei der Spurensicherung und endet im Gerichtssaal – wenn es denn überhaupt so weit kommt“, klagt Flores. Wie ein Musterprozess laufen sollte, worauf bei der Spurensicherung, bei der Gerichtsmedizin, aber auch bei der Zeug*innen­vernehmung und im Gerichtssaal geachtet werden muss, wollen die Muñecas anhand eines realen Falles aufzeigen. „Eines Kapitaldeliktes wie Vergewaltigung oder Mord“, so Flores, die derzeit mit Jurist*innen, Ermittler*innen und Gerichts­mediziner*innen im Gespräch ist, um das beispielgebende Tribunal vorzubereiten. Demnächst soll es in Tegucigalpa stattfinden, gefilmt und ins Netz gestellt werden, um so etwas wie einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrechen gegen LGBTI*-Personen zu liefern. „Das ist überfällig und positiv ist, dass wir die Zusage über die Finanzierung aus einem EU-Justizfonds haben“, erklärt Flores. Weniger positiv ist allerdings, dass das Geld immer noch nicht eingegangen ist und die Vorbereitungen zum symbolischen Gerichtsprozess deshalb auf Sparflamme laufen. Nichts Neues für die Aktivist*innen von Arcoíris, die nur punktuell Spenden aus dem Ausland erhalten und bei ihren Bemühungen Vorurteile aufzubrechen oft auf sich allein gestellt sind. Journalist*innen, die Fotos rund um den „Parque El Obelisco“ machen, und sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich über sie lustig machen, sind, so Bessy Ferrera, alles andere als selten. Oft werden Homo- genauso wie Bi- und Transsexuelle von ihren Familien verstoßen, ergänzt Paola Flores und reibt sich die narbige Wange. Sie hat seit ein paar Jahren die Unterstützung ihrer Familie, während ihre Kollegin Bessy Ferrera Waise ist und nach ihrem Outing von den Pflegeltern vor die Tür gesetzt wurde. So landete sie in der Prostitution und für sie ist Arcoíris so etwas wie ein zweites Zuhause.

Eine der schönsten Drag-Queens des Landes auf dem Laufsteg

Vor allem ihrer Mutter hat es hingegen Paola Flores zu verdanken, dass der Kontakt zur eigenen Familie nicht abriss, obwohl mehrere Familienangehörige evangelikalen Kirchen sowie der katholischen Kirche angehören. Die verteidigen die Heterosexualität als das Non plus Ultra und machen gemeinsam mobil gegen alle Anläufe die gleichgeschlechtliche Ehe in Honduras auf den Weg zu bringen. Folge dieser rigiden Positionierung sind tiefe Gräben, die sich durch viele Familien ziehen. So auch bei den Flores, wo die sexuelle Orientierung des jüngsten Kindes von den Älteren mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. „Nur meine Mutter hielt zu mir. Doch das änderte sich mit dem Überfall“. Der ereignete sich im Juni 2009 und Paola Flores hat ihn nur knapp überlebt. „Drei Männer haben mich in meiner eigenen Wohnung, dort wo ich mich sicher fühlte, überfallen. Mich zusammengeschlagen und mit Benzin übergossen und angezündet“, erinnert sich Flores und deutet auf die Transplantate die rechts und links vom Kinn zu sehen sind. Sie hat um ihr Leben gekämpft, sich gewehrt, geschrien und überlebt. Zwei Monate im Koma, neun Monate im Krankenhaus und schließlich ein Jahr im Exil in Mexiko. „Was mir passiert ist, kann auch allen anderen passieren. Dagegen kämpfe ich und deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt sie mit fester Stimme und zupft das Halstuch zurück, welches die Narben am Hals verbirgt. Die drei Männer gingen genauso wie der Freier, der Bessy Ferrera umbringen wollte, bisher straffrei aus. Ein häufiges Geschehen in Honduras, wo deutlich über 90 Prozent der Gewaltdelikte gegen LGBTI* nicht geahndet werden. Die Fotos von ermordeten Arcoíris-Aktivist*nnen, die im Treppenhaus neben denjenigen hängen, die sich engagieren, zeugen davon.

Plakat gegen die Diskriminierung von Lesben in Tagucigalpa/Honduras // Foto: Knut Henkel

Die Straflosigkeit soll beendet und der Musterprozess der Muñecas de Arcoíris soll dazu beitragen. „Wir wollen einen Leitfaden publizieren, den Prozess mit der Kamera dokumentieren und zumindest Teile davon auf YouTube oder Facebook posten. Die Justiz darf nicht mehr weggucken“, fordern die beiden Frauen mit ernster Mine.
Dafür engagiert sich auch Donny Reyes, der im Rat der Menschenrechtsorganisationen mitarbeitet, den Kontakt zu Botschaften und Nichtregierungsorganisationen hält und die Events der LGBTI*-Szene vorbereitet. Nicht nur den für den 17. Mai anstehenden bunten Marsch durch die Hauptstadt von Honduras, sondern auch die Parties wie den alljährlich im Februar stattfinden Wettbewerb zur „Königin meiner Heimat“ (La Reina de mis Tierras). Dort laufen dann die schönsten Drag-Queens aus dem Land über den Laufsteg und werden prämiert. „Das ist Party und Polit-Event in einem, denn die Drag-Queens sind auch Botschafter*innen der Szene, engagieren sich für die Menschenrechte und haben eine Aufgabe.“
Doch nun steht als nächstes erst einmal die 17. Mai-Parade im Kalender. Ziel ist es mehr als die 1000 Menschen vom letzten Jahr auf die Straße zu bringen – in einem Ambiente, das alles andere als einfach ist.

 

EINE KAMPFANSAGE

Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa

Es ist glühend heißer Hochsommer in Buenos Aires, als die erste Versammlung für den internationalen Streik der Frauen, Lesben, Trans und Travestis 2019 einberufen wird. Hunderte strömen an diesem Freitagnachmittag zum Auftakt der Mobilisierung, die meisten sind bereits in der Metro an ihren Pañuelos – den grünen Halstüchern als Symbol für das Recht auf Abtreibung – erkennbar. Zwischen Baustellen, alten U-Bahn-Waggons und heruntergekommenen Hochhäusern mobilisieren sich die Teilnehmer*innen der Versammlung vor dem selbstverwalteten Freiraum der Vereinigung Mutual Sentimiento im östlichen Stadtteil Chacarita. Die meisten nehmen auf dem sonnenverbrannten Gras Platz, es werden Decken ausgebreitet und Matebecher herumgereicht, Wassereis und kalte Getränke gibt es für wenige Pesos. Die Asambleas – öffentliche Versammlungen – sind das Herzstück der feministischen Bewegung. Die Asamblea ist der Ort, an dem Frauen* zusammenkommen und ihre Erfahrungen teilen, wo diskutiert und gestritten wird. Vier dieser offiziellen Asambleas wird es bis zum 8. März geben. An diesem Tag soll der dritte internationale Streik stattfinden, noch größer, noch massiver, noch diverser als alle vorangegangenen. „Es ist eine bemerkenswerte kollektive Kraft, die sich hier ausdrückt“, erklärt Verónica Gago, Organisatorin der Versammlung und eine der theorieproduzierenden Köpfe des feministischen Kollektivs Ni Una Menos, das eine wichtige Rolle in der Organisation der feministischen Proteste und des Streiks übernimmt. „Hier stehen die verschiedenen Kämpfe und auch die Konflikte innerhalb der feministischen Bewegung im Fokus. Diese Auseinandersetzung hat den Streik größer, breiter, stärker und komplexer gemacht.“ Die Diversität der Bewegung bringe natürlich Herausforderungen mit sich, aber mache gerade auch ihren Reichtum aus, findet Gago.

Und so ist die erste Asamblea ein Stelldichein verschiedenster sozialer Organisationen und Bewegungen, die ein breites Spektrum der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte abbilden: Es reden unabhängige Gewerkschafterinnen, streikende und entlassene Fabrikarbeiterinnen, Mütter vergewaltigter und ermordeter Kinder, Sexarbeiterinnen, Sprecherinnen der Kampagne für das Recht auf Abtreibung, Aktivistinnen gegen staatliche Repression und Polizeigewalt, Bewegungen indigener Frauen, Transfrauen, Frauen aus den Armenvierteln, Organisationen migrantischer Frauen, inhaftierter Frauen und Studierendenvereinigungen. Die jeweils zweiminütigen Redebeiträge pro Person und Organisation werden zu intensiven Plädoyers, zu flammenden Appellen. Die Stimmung ist intensiv, emotional aufgeladen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die uralte Diskussion um Prostitution und Sexarbeit. Die gegensätzlichen Positionen finden Anklang und Ablehnung, es wird gepfiffen und applaudiert, reingerufen, zugestimmt und widersprochen. „So ist das immer in den Asambleas. Manche Positionen sind einfach unvereinbar. Aber am Ende werden wir alle gemeinsam laufen, trotz der unterschiedlichen Ansichten.“, erklärt Gabi Verra, die auch heute zur Versammlung gekommen ist. Viel wichtiger als die internen Differenzen sei, dass am 8. März alle zusammen die Straßen und Plätze einnehmen – Räume, die sonst oft von cis-Männern besetzt sind – und ihre politischen Forderungen nach Veränderung zum Ausdruck bringen. Über zwei weitere Konflikte, die in der Bewegung brodeln, herrscht zumindest in der ersten Asamblea Einigung. Da ist die Debatte um „Plurinationalität“ der Bewegung, also die Anerkennung der 36 verschiedenen indigenen „Nationen“, die auf argentinischem Territorium beheimatet sind und ihrer Kämpfe und Forderungen. Und die Frage, ob Trans, Inter und Travestis Teil der feministischen Bewegung sein können. „Hier wird niemand ausgeschlossen!“ rufen die Organisatorinnen, um die vorab über Social Media verbreiteten Versuche von transexklusiven Radikalfeministinnen, Frausein auf eine biologische Definitionen zu reduzieren, klar abzuwehren. Die Asamblea jubelt. Ein Transmann bittet die Asamblea um die Erlaubnis, teilzunehmen, die Asamblea bejaht entschlossen, cis-Männer hingegen werden ebenso lautstark weggejagt.

Die diesjährige große Debatte in Argentinien ist eine biologistische

Während in der spanischen Frauenstreikbewegung die Konfliktlinien in diesem Jahr entlang Prostitution, Leihmutterschaft und die Nicaraguadebatte laufen, in Deutschland über den Nahostkonflikt gestritten wird, ist die große Debatte in Argentinien eine biologistische. Bei der nächsten offenen Versammlung eskaliert der Konflikt. Eine Gruppe von Radikalfeministinnen ergreift das Mikrofon. Doch noch bevor sie sprechen können, entfacht sich eine lautstarke Diskussion darüber, ob ihnen Raum und Wort gegeben werden dürfe. Die Mehrheit findet, dass sie gehen müssen. Es kommt zu Gerangel und Handgreiflichkeiten und die Organisatorinnen entscheiden, die zweite Asamblea vorzeitig zu beenden, obwohl noch 80 Redebeiträge ausstehen. Bei vielen Anwesenden herrscht Unverständnis darüber, warum eine biologistische Debatte im Jahr 2019, nach Jahrzehnten aktivistischer und theoretischer Dekonstruktion von Geschlecht als rein biologische Kategorie, plötzlich wieder aufkommt. Und vor allem bei jungen Menschen – eine Entwicklung, die in mehreren Ländern zu beobachten ist. „Eigentlich war dieses Thema doch schon durch.“ Gabi Verra und weitere Teilnehmerinnen der Asamblea, die noch eine Weile in kleinen Gruppen beisammenstehen und über das gerade Erlebte diskutieren, sind enttäuscht und traurig über den Ausgang des Abends. „Den 8. März plötzlich zu einem Tag nur für cis-Frauen machen zu wollen, das geht gar nicht. Das fühlt sich an, wie viele Schritte zurückgeworfen zu werden“, findet Verra. Nach dem Eklat nimmt die Organisation, ausgehend vom Kollektiv Ni Una Menos, öffentlich Stellung. Biologistische Positionen werden als das entlarvt, was sie sind: diskriminierend und rassistisch. Es folgt eine Entschuldigung dafür, die Gruppe überhaupt in der Redeliste zugelassen zu haben und ein Appell, sich nicht von patriarchalen Ideen spalten und disziplinieren zu lassen, sondern weiterhin zusammenzuarbeiten. Bei der dritten Asamblea herrscht wieder Einstimmigkeit: Wir brauchen einen Feminismus, der so inklusiv wie möglich ist und die Lebensrealität möglichst Vieler abbildet, ist der Tenor.

Politische Praxis Mit Wut im Bauch das diskutieren, was brennt (Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa)

Das bedeutet gleichzeitig, sich nicht auf eine „Gender-Agenda“ beschränken zu lassen, sondern feministische Politik auf die konkrete Situation von erneuter Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), explodierender Wirtschaftskrise und Inflation zu beziehen – Themen, die den Alltag in Buenos Aires begleiten und die Menschen beim morgendlichen Einkauf in der Bäckerei genauso beschäftigen wie bei der Streikversammlung. Noch ist es eine andere Situation als im Krisenjahr 2001, an das sich manche schon erinnert fühlen, aber die Leute gehen wieder auf die Straße, lärmend, mit Kochtöpfen in der Hand und Wut im Bauch. Nicht nur Arbeiter*innen, auch Menschen aus der Mittelschicht nehmen an diesen Demonstrationen teil. Und feministische Asambleas finden nicht nur zur Vorbereitung des 8. März statt, sondern im ganzen Land in den Arbeitsstätten, den Fabriken, in den Vierteln, in den Unis und Schulen. Es ist eine unmittelbare politische Praxis, in der es um all das geht, was gerade brennt und um eine Zukunft, die anders werden soll.

Und so fließt auch bei den feministischen Streikversammlungen in Buenos Aires die Tradition sozialer Kämpfe verschiedener Generationen zusammen. Daraus entsteht eine Kampfansage an die aktuelle Politik. Präsident Macri kriegt darin genauso sein Fett weg wie der IWF, die Gewerkschaftsbürokratie und die katholische Kirche. „Wir brauchen eine Strategie, damit es am Ende des Jahres jemanden gibt, der die Interessen des Feminismus repräsentiert, die letztendlich die Interessen der ganzen Bevölkerung sind“, lautet der Aufruf von Paula Arraigada von der Bewegung Trans Nadia Echazú an die Teilnehmer*innen der Asamblea. Präsident Macri muss sich im Herbst dieses Jahres seiner Wiederwahl stellen, 2020 stehen die nächsten Schuldenverhandlungen mit dem IWF an. Beide politischen Ereignisse schaffen Unsicherheit. Wie wird es weitergehen? Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich seit Macris Amtsantritt im Jahr 2015 verändert, dem gleichen Jahr, in dem Ni Una Menos gegründet wurde. Ihre Streiks sind immer auch Streiks gegen Macri gewesen, gegen den neoliberalen Kurs seiner Regierung, die Sparprogramme, Tarifanpassungen, Massenentlassungen, Repression und Kriminalisierung sozialer Proteste. Mittlerweile gilt die feministische Bewegung als stärkste oppositionelle Kraft. Der feministische Streik am 8. März ist auch der Auftakt des politischen Jahres 2019 in Argentinien.

 

 

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