// Ermordet, weil sie Lesben waren

„Sie wurden verbrannt, weil sie Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren, die eine Gemeinschaft bildeten.“ So hieß es auf einer Demonstration der landesweiten lesbischen Vernetzung in Argentinien Mitte Mai. Am 5. Mai war im Stadtteil Barracas im Süden von Buenos Aires ein brutaler Brandanschlag gegen vier lesbische Frauen begangen worden. Drei Frauen starben. Menschenrechtsorganisationen und die LGBTIQ+-Bevölkerung in Argentinien haben keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Lesbizid handelt. Die Regierung von Javier Milei stritt jedoch jeden Zusammenhang ab: „Mir gefällt es nicht, den Vorfall als Anschlag gegen ein bestimmtes Kollektiv zu definieren”, sagte Regierungssprecher Manuel Adorni während einer Pressekonferenz in der Woche nach dem Attentat.

Offen queerfeindlich positionierte sich auf X (ehemals Twitter) dagegen Nicolás Márquez, der rechtsextreme Autor einer Biografie Mileis: „Dann werd halt keine Lesbe, dann töten sie dich auch nicht. Ein guter Moment, Heterosexualität einzufordern.“ Er hatte schon vorher bei einem Radiointerview behauptet, der Staat würde Homosexualität fördern, um selbstzerstörerisches Verhalten zu belohnen. Genau solche Hassreden und Taten wie den Lesbizid in Barracas kann man nicht voneinander trennen.

Es zählt fraglos zur Aufgabe staatlicher Institutionen, queere Menschen zu schützen. Leider ist das auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit – die Rechte queerer Personen müssen immer wieder verteidigt werden. Ab November wird endlich das neue Selbstbestimmungsgesetz das diskriminierende Transsexuellengesetz von 1980 ersetzen. Viele Gruppen kritisieren jedoch, dass es sich dabei nur um einen Minimalkompromiss handelt und bei der Diskussion transfeindlichen Stimmen zu viel Raum gegeben wurde.

In Argentinien existierte ein ähnliches Gesetz bereits seit 2012. Jetzt werden die Fortschritte im Bereich Geschlechtergleichstellung und Antidiskriminierung von LGBTIQ+-Personen jedoch bedroht: Die gendergerechte Sprache wurde in der öffentlichen Verwaltung verboten, die Arbeit des Ministeriums für Frauen, Gender und sexuelle Vielfalt wurde eingestellt und weitere für die LGBTIQ+-Bevölkerung entwickelte Initiativen wurden abgeschafft. Der queerfeindliche Präsident Milei soll am 24. Juni in Hamburg den Preis der rechtslibertären Hayek-Gesellschaft erhalten. Bundeskanzler Olaf Scholz wird sich mit ihm treffen und ihn damit weiterhin als legitimen Arbeitspartner anerkennen, obwohl er nach dem Handbuch eines autoritären Führers handelt: Zuerst betreibt er die Rücknahme von Rechten einzelner Gruppen, um danach Rechte und Freiheiten möglichst noch weiter einzuschränken – und ihm selbst im Gegenzug weitestgehende Macht zu verschaffen.

Soweit ist es in Deutschland noch nicht, aber die Fassade der Progressivität bröckelt auch hier: Die EU-Agentur für Grundrechte stellte im Mai fest, dass queerfeindliche Gewalt in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Gleichzeitig gewinnt eine rechte Partei wie die AfD, die ein konservatives, eingeschränktes Familienmodell fördert und eine eindeutige Bedrohung für das Leben von LGBTIQ+-Menschen im Land darstellt, einen immer größeren Einfluss auf den politischen Diskurs und legt bei Wahlen zu. So könnten Errungenschaften wie eine größere Selbstbestimmung von queeren Menschen, die Ehe für Alle oder die Abschaffung des Paragraphen 219 wieder in Gefahr geraten. Mit der Anerkennung von Rechten ist der Weg definitiv noch nicht zu Ende. Um ein gutes Leben für uns alle in der Vielfalt, in der wir existieren, zu ermöglichen, bedarf es dauerhafter Anstrengungen von so vielen wie möglich.

“Unsere Leben implodieren”

Para leer en español, haga clic aquí.

In 20 Jahren stark gewachsen Das Kollektiv YoNoFui begann mit einem Poesieworkshop und bietet heute Unterstützung in zahlreichen Bereichen an (Foto: YoNoFui)

Wir treffen uns einen Tag nach dem brutalen Anschlag auf vier Lesben – Pamela, Roxana, Andrea und Sofía – im Stadtteil Barracas von Buenos Aires. Wie lässt sich dieser Anschlag in der gegenwärtigen politischen Situation erklären?

Dieser spezifische Fall zeigt, wie die Hassreden der Regierung von Milei später konkrete praktische Auswirkungen haben. Wir halten es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Reden nicht erst von dieser Regierung stammen. Sie brodelten schon länger unter der allgemeinen Oberfläche, aber jetzt gibt es eine Legitimation von höchster institutioneller Ebene, diese expliziten Grausamkeiten auch auszuüben. Und das ist definitiv gefährlich. Die derzeitige Regierung ist erklärtermaßen antifeministisch und gegen dissidente Körper. Letzte Woche hat einer von Mileis Biografen gesagt, dass Homosexualität von linken Parteien finanziert sei.
Aber wir leisten auch Widerstand: Gestern gab es eine Versammlung von etwa 400 Lesben aus verschiedenen Teilen des Landes, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Situation ist sehr kompliziert, aber sie hat gerade erst begonnen. Unsere Leben implodieren. Jeden Tag gibt es Nachrichten aus dem nahen Umfeld, die uns umhauen. Die Krise der mentalen Gesundheit, in der wir uns aktuell wiederfinden, wirft viele Fragen auf, etwa wie wir gegen diesen Krieg ankämpfen können, der nicht nur kulturell und ökonomisch, sondern auch emotional geführt wird.

Aber mit diesen Hassreden hat Milei doch Wahlkampf gemacht. Wie erklärt ihr euch, dass ihn so viele Menschen gewählt haben?

Es gibt nicht eine einzige Antwort, sondern viele Gründe. Wir beobachten eine Veränderung in den Subjektivierungsprozessen, die sich nach der Pandemie verstärkt haben. Dabei gehen historische, geteilte Erfahrungen verloren, die dazu geführt haben, dass wir heute stehen, wo wir stehen. Zum Beispiel, dass wir ein Land sind, das Prozesse der Bildung und des Kampfes um eine historische Erinnerung hat oder hatte. Wir dachten, dies sei eine feste Säule der Gesellschaft, aber uns wurde klar, dass sie sehr fragil ist.
Als Teil einer Selbstkritik glauben wir, dass dies mit einer Omnipotenz der Menschenrechtsbewegungen und der linken Bewegungen zu tun hat, die einige Diskussionen bereits für erledigt hielten, anstatt sie zu radikalisieren. Ökonomisch hat der Kirchnerismus einen großen Teil der Bevölkerung über Konsum integriert – mit dem ganzen neoliberalen Ballast. Letztlich war es aber kein „wir konsumieren alle“ als Modus einer Umverteilung von Reichtum, denn es gab gleichzeitig viele Menschen in sehr prekären Situationen, denen es schlecht ging. Die Kluft hat sich weiter vergrößert. Jetzt ist es offensichtlich schlimmer. Die Mittelschicht hat noch nie derartige Verluste erlebt.

Bevor wir zu dieser Selbstkritik kommen: Könnt ihr uns mehr über YoNoFui erzählen?

YoNoFui entstand im Jahr 2002 aus einem Poesieworkshop, den María Medrano, eine unserer Genoss*innen, im Gefängnis von Ezeiza gegeben hat. Dort sind wir auf die Schwierigkeiten gestoßen, die jemand hat, der*die die Freiheit wiedererlangt. Es gab keine öffentliche Politik für die Zeit nach der Inhaftierung. Also begannen wir, uns zu treffen und Workshops an verschiedenen Orten zu veranstalten. Das Kollektiv wurde größer, es vergingen mehr als 20 Jahre. Heute sind wir ein Kollektiv mit verschiedenen Bereichen. In unserem Gemeinschaftshaus befindet sich die Kooperative mit verschiedenen Produktionseinheiten: Textil, Buchbinderei und Siebdruck. Dann gibt es noch die neuste Produktionseinheit für Ästhetik und Körperpflege mit dem Namen „Bell, jede Schönheit ist Politik“, die sich in unseren anderen Räumlichkeiten im Stadtteil Palermo befindet. Hier im Gemeinschaftshaus in Flores hast du die Anti-Knast-Bibliothek. Wir machen auch Bücher, wir haben einen Verlag. Unser Kollektiv ist ja aus einem Poesieworkshop hervorgegangen – es gibt also etwas an der Sprache, das uns stetig herausfordert zu hinterfragen.
Ein weiterer Bereich des Kollektivs ist der Segundeo. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Hier auf der Straße sagt man primerear, um sich vor jemanden zu stellen, als ob man konkurrieren würde – ohne, dass dir der*die andere etwas ausmacht. Stattdessen meint segundear zusammen gehen. Es ist sozusagen das Gegenteil von primerear. Segundeo zeigt auch die Art, wie wir uns im Laufe der Zeit umbenannt haben: Am Anfang haben wir „soziale Unterstützung“ gesagt, dann „Begleitung“ und heute macht der Begriff Segundeo für uns mehr Sinn, denn Segundeo ist eine Praktik der Gegenseitigkeit, zu zweit, des gemeinsamen Werdens darin, es ist eine ganz bestimmte Haltung, die wir sehr schätzen.

Was heißt das in der konkreten Praxis?
Segundeo hat mehrere Instanzen. Im juristischen Segundeo haben wir aktuell Genoss*innen, die aus ihrer Zeit im Gefängnis viel juristische Erfahrung haben, und vier antikarzerale und abolitionistische (Strömungen, die sich für die Überwin­dung von Institutionen staatlicher Gewalt wie Gefängnissen einsetzen, Anm. d. Red.) Anwält­*innen. Gemeinsam verfolgen wir die Fälle der Genoss­*innen. Wir haben auch Ansätze der kollektiven Mediation. Wir sind ein Kollektiv und auch hier gibt es Konflikte. Mit dem Segundeo versuchen wir dafür Lösungen zu finden, die weder strafend noch sanktionierend sind. Einen anderen Segundeo nennen wir „Autonomie und Selbstverwaltung des Alltagslebens“: staatliche Beihilfen beantragen, einen Lebenslauf erstellen, Orte zum Wohnen suchen und das Alltagsgeschäft des Gemeinschaftshauses verwalten. Nach der Pandemie haben wir gesehen, dass es einen großen Bedarf an Raum für psychische Gesundheit gab. Deshalb haben wir auch noch den Segundeo für mentale Gesundheit eröffnet. Hier haben wir Raum für Gruppen- und individuelle Betreuung. Wir arbeiten ausgehend von einer Idee, die sich vielleicht gegen die hegemoniale Vorstellung richtet, die Gesundheit nur im Sinne von individuellem Wohlbefinden und Glück versteht.
Obwohl wir seit sehr vielen Jahren Erfahrungen mit Kunst- und Handwerksworkshops sammeln, haben wir erst dieses Jahr unsere Schule für Kunst, Handwerk und politisches Experimentieren eröffnet. Wir sind sehr verliebt in dieses pädagogische und politische Projekt, weil wir unseren Raum für die Community öffnen und etwas sehr Lebendiges entsteht, ein Zufluchtsort in einem so komplexen Moment. Es sind 70 Personen eingeschrieben und fast alle sind queer.

Ihr habt die Selbstkritik in diesen Zeiten schon angesprochen. Vielleicht etwas allgemeiner: Mit welchen Problemen seid ihr heute konfrontiert?

Wir sind der Meinung, dass wir immer noch nicht genügend berücksichtigen, welche Auswirkungen das Gefängnis auf jegliche Bindungen in unserem täglichen Leben hat. Nicht nur, ob du im Gefängnis warst oder nicht. Da gibt es etwas, das gesellschaftlich geleugnet wird, etwas in den prak­tischen und alltäglichen Auswirkungen unseres Umgangs miteinander, das als ständige Bedrohung mit uns lebt wie ein Gerücht, das nicht verstummt.
Eine weitere Herausforderung, der wir uns zu stellen versuchen, ist die Notwendigkeit, eine Sprache zur Abschaffung der Gefängnisse aus südamerikanischer Perspektive oder aus dem Globalen Süden zu schaffen. Denn alle Vorstellungen, die wir haben, kommen aus dem Globalen Norden mit der Entstehung der kritischen Kriminologie oder Angela Davis. Das ist alles brillant und hilfreich, aber wir wollen auch in einem regionalen Kontext denken: Was ist hier ein Gefängnis? Was ist hier Bestrafung? Welche ist hier die Ökonomie der Bestrafung? Wie denkt man Gerechtigkeit? Die Konzepte aus dem Globalen Norden kommen wie eine verschlossene Kiste bei uns an. Also haben wir angefangen, ein Mapping von alternativen Gerechtigkeiten anzulegen, zum Beispiel indigene Gerechtigkeiten oder die Art, wie wir im Alltag Konflikte lösen, die auch Teil einer anderen Art von Gerechtigkeit ist. Das Gleiche gilt auch für innerhalb des Gefängnisses: Was bedeutet es, Gerechtigkeit innerhalb des Gefängnisses herzustellen? Was bedeutet es, Gemeinschaft innerhalb des Gefängnisses aufzubauen? In einer Welt, die zur Hyperindividualisierung neigt, kann der Aufbau von Gemeinschaft ein Weg sein, Gerechtigkeit zu schaffen.
Und gleichzeitig ist es jetzt sehr schwierig. Jetzt haben wir zum Beispiel das Problem, dass sie mit einer Justizreform das Alter der Strafmündigkeit auf 12 Jahre senken wollen. Aber was machst du da? Plötzlich vertrittst du eine konservative Position und sagst: „Nein, halt! Lasst uns nicht auf die 12, lasst uns auf die 18 zurückgehen.” Aber auch das funktioniert für uns nicht. In einem Punkt ist es zwar weniger schlimm, aber als Kollektiv sind wir nicht einverstanden mit diesem strafenden System. Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, uns zu fragen: Was wird kriminalisiert?

Wie arbeitet ihr in dieser Situation mit anderen, vielleicht transfeministischen oder auch anarchistischen Bewegungen zusammen?

Im Allgemeinen sind wir wenige Kollektive aus unabhängigen Aktivist*innen, die keine Parteifahnen hinter sich haben. Und wir halten diesen autonomen Raum aufrecht. Uns erscheint es sehr wichtig aus der Autonomie heraus zu sprechen. Eine Autonomie, die immer in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Dieses Jahr haben wir für den 8. März zusammen mit transfeministischen und queeren Aktivist*innen den Mostri-Block gebildet. Das hat uns sehr begeistert, denn die Idee dieses Blocks war es, über die Diskussion um Identität hinauszugehen. Mostri kann jemand sein, der*die im Knast war, Mostri kann eine Person mit Behinderung sein, Mostri können wir antipunitivistischen Kollektive sein, Mostri kann die queere Community sein. Und dann begannen wir uns mit travesti-trans, schwulen, lesbischen Kollektiven, dem gesamten LGBT-Kollektiv und anderen Mostri-Aktivist*innen zu versammeln. Im Alltag kooperieren wir mit dem Kollektiv der Sexarbeiterinnen und mit No Tan Distintes („Nicht so verschieden”), ein Kollektiv, das mit Menschen auf der Straße arbeitet. Aber mit manchen Feminismen ist es kompliziert, vor allem wenn sie sehr frauenzentriert, akademisch und punitivistisch sind. Als antipunitivistisches Kollektiv zur Abschaffung von Strafen beharren wir darauf, dass das Gefängnis keine Lösung ist. Deshalb sagt eine Genossin, Eva Reinoso, immer: „Wir sind unbequem für den Feminismus, aber die Betten in den Gefängniszellen sind viel unbequemer.”
Und mit anarchistischen Bewegungen gibt es eine Nähe zu bestimmten Ideen, sofern wir Anarchismus als Praxis gegen Autorität verstehen. Außerdem stehen die Bündnisse in einer historischen Tradition: Die Anfänge der Kriminalisierung sexuell dissidenter Menschen und Sexarbeiterinnen fallen mit der Kriminalisierung von anarchistischen und kommunistischen Bewegungen zusammen.

Vielleicht hilft das auch die Beziehungen innerhalb des Kollektivs, aber auch nach außen zu stärken. Wie blickt ihr auf die nächsten Wochen?

Uff, schwierig. Wir glauben, dass die nächsten Wochen immer komplexer werden, aber gleichzeitig ist es auch wichtig, dass wir uns weiter verbünden. Mit der Erfahrung des Macrismo, der nicht mal ein Zehntel so schlimm, aber dennoch schrecklich war, können wir vielleicht eine Haltung weder der Hoffnung noch des Optimismus haben. Denn das war auch ein großer Moment der Alternativen: Wir waren so erstickt, so unterdrückt, so unfähig gemacht zu leben, dass wir Leben schaffen mussten. Und die einzige Möglich­keit war, sich zusammenzuschließen und zu mobilisieren. Das Gleiche tun wir jetzt. Aber die Aussicht ist ziemlich entmutigend und eine große Herausforderung. Es ist sehr traurig und schmerz­haft. Gleichzeitig war zum Beispiel der Mostri-Block auf der Demo vom 8M ein Fest und hat uns eine Lebendigkeit wiedergegeben. Deshalb beharren wir, ohne Hoffnung und ohne Optimismus, auf die Traditionen des Kampfes in un­seren Territorien, die sehr mächtig sind und die in uns wohnen.

Contra la motosierra, con un solo puño

Für die deutschsprachige Version hier klicken

El 24 de marzo se conmemoraron los 48 años del golpe y a las víctimas de la última dictadura militar en Argentina. ¿En qué contexto político ocurrió esto?
Vemos con horror que el Gobierno quiere destrozar consensos democráticos que se construyeron en los 80, uno de ellos el Nunca Más. Muy preocupante fue la denuncia, dos días antes del 24 de marzo, de una compañera de la agrupación de hijes de personas desaparecidas H.I.J.O.S.. Ella denunció que entraron a su casa y la amenazaron con un arma. Es increíble que 48 años después, personas a quienes les desaparecieron a sus familiares tengan que estar viviendo estas situaciones.
Volvió también la discusión sobre el número, si son 30.000 personas desaparecidas o no. Yo creo que no debemos enfrascarnos en esa discusión, sino vincular el tema de los derechos humanos con los proyectos de país. Lo que se hizo con la dictadura fue imponer un proyecto de país desigual, injusto y violento. La enorme mayoría de personas desaparecidas son trabajadoras o hijes de trabajadoras. Hay que volver a construir ese lazo que nos une desde la explotación, la pobreza y los problemas de género para justamente entender que este no es un gobierno que represente nuestros intereses como trabajadores y trabajadoras. Hay que hablar con nuestres compañeres de clase, porque Milei ganó porque la clase obrera votó por él. Esta es la tarea y se logra con mucha comunicación, con mucha paciencia y con mucha militancia.

El grupo Poder Popular milita desde hace dos años. ¿Cuáles son las áreas más importantes de su trabajo?
Poder Popular trabaja en la autoorganización barrial, tiene bachilleratos populares, comedores y centros comunales que se organizan para luchar por la vivienda, por mejores condiciones de vida en el barrio. También trabajamos con compañeres en organizaciones sindicales, luchando por mejores condiciones de trabajo, por sindicatos más democráticos, llevando también las demandas de la agenda feminista a los sindicatos. Además, hay compañeres actives en el sector cultural con centros culturales, teatros independientes, así como compañeres que tienen militancia estudiantil en las universidades o en las luchas ecosocialistas.

¿Qué ha cambiado para ustedes desde que Javier Milei asumió el poder?
Nosotres en Argentina veníamos desde hace varios años una crisis económica con un nivel muy alto de inflación, lo que ya significaba un desafío grande para les militantes. Cuando tenemos que recurrir a múltiples empleos para poder sobrevivir, se hace difícil el activismo. A partir de diciembre del 2023 vivimos una profundización de la crisis económica y se sumó también un contexto represivo: Tenemos muches compañeres que han sido víctimas de la represión en las movilizaciones, que tienen causas penales por haberse manifestado en defensa de nuestros recursos naturales, por mejores salarios y en contra del avasallamiento de sus derechos, también compañeres que se están quedando sin trabajo.

¿Cuáles son los problemas más urgentes que experimentan en el trabajo barrial y sindical?
El Gobierno de Milei nos ha puesto a todes en una situación de mucha emergencia y de mucha precariedad. Con el Ministerio de Capital Humano muchos ministerios fueron reducidos a secretarías y todo está paralizado. Esa parálisis implica que por ejemplo los comedores de los movimientos sociales no reciban mercadería y no están pudiendo cocinar su desayuno, el almuerzo, la cena, las meriendas de un montón de niñes en un país que tiene un 41% de pobres y 11,9% de indigentes.
Por otro lado, se han caído muchos planes de subsidio a trabajadoras y trabajadores, alegando argumentos supremamente extraños e incomprobables. Son personas que están adentro de proyectos productivos, trabajan limpiando las calles, en cooperativas de trabajo. Y esas personas ya no están recibiendo ese subsidio como contraprestación por el trabajo.
Por el lado de los sindicatos justamente esa parálisis estatal que además viene de la mano de lo que Milei tantas veces llamó la motosierra, implica que, a finales de marzo, 70.000 trabajadoras y trabajadores del Estado están esperando saber si van a tener trabajo el mes que viene. Desde diciembre estaban con un contrato que fue renovado solamente por 3 meses.

Con la huelga general del 24 de enero, los sindicatos y movimientos sociales reaccionaron a medidas como ésta casi inmediatamente…
Sí, fue la huelga general más rápida que la Conferedacion General del Trabajo (CGT) de Argentina haya hecho a un gobierno, después de un mes y medio en el poder. Esto es un gran indicador de la conflictividad en la que nos encontramos en el país. Argentina tiene dos grandes actores que hoy discuten la situación política y activan resistencias: los sindicatos y los movimientos sociales. Nosotres estamos en ambos. En los movimientos sociales hoy, a diferencia de los años anteriores, se unen organizaciones del peronismo popular con los sectores más duros de los movimientos sociales, los sectores de izquierda que nunca fueron representados por los gobiernos anteriores.

¿Cómo se debaten dentro de los movimientos sociales los grandes porcentajes de aprobación que, según las encuestas, sigue teniendo Milei en la población argentina?
Por las experiencias de los 90, nosotres sabemos que lo que hace Milei es un experimento que no termina bien. Pero las encuestas todavía dicen que más del 50% de la población que lo votó lo apoya. Eso no lo podemos negar. Ese tema para muchos es un problema bastante difícil de sortear pensando en el deterioro de las condiciones de vida que se acrecienta cada vez más. Obviamente, el caldo de cultivo que lleva a un gobierno como el de Milei no se crea de un día para el otro o es solamente un invento de las redes. Tiene sus raíces muy profundas en el deterioro de la situación económica de la población en Argentina y se explica por el desastre de los gobiernos anteriores. Yo creo que después de la pandemia las personas vienen de una situación económica tan terrible que honestamente creen que pueden estar mejor si se sacrifican un poco ahora.
Además, los operadores mediáticos de Milei son muy hábiles generando confusión, información falsa y propaganda. Hay algunas medidas que la población en general ve bien, como el congelamiento salarial de les diputades y senadores que cobran mucho más que una persona del común. Son aquellas medidas en contra de la “casta”, como la llama Milei, sumado a los efectos de los gobiernos anteriores, en especial el Kirchnerismo, que Nancy Fraser llamaría de neoliberalismo progresista: al tiempo que te hacen vivir una vida de privaciones cada vez mayores, te dicen que eso es un Estado presente. La respuesta de la gente es: “Si esto es un Estado presente, entonces que el Estado se vaya!”.

¿Cuáles son las estrategias que utiliza Poder Popular para contrarrestar estos discursos?Nosotres creemos que la estrategia más importante es la construcción de un frente único: debemos construir un programa, candidaturas y portavoces comunes. Pero, mientras tanto, consideramos muy importante no dejar la calle y seguir movilizándonos sin miedo a la represión, visibilizando que lo que está pasando es injusto, que la casta no somos las personas de los barrios que no estamos pudiendo comer. Tratamos de desenmascarar justamente que el programa económico de Milei está hecho a medida de la gran burguesía argentina y le cae como anillo al dedo. Milei se queja de la casta, mientras la Ley Omnibus propone privatizar empresas estratégicas que están armadas a medida para sus amiges. Además, estas medidas van a traer muchos problemas, como la renuncia a nuestra soberanía aeronáutica y a nuestra política energética.
Entonces, hay que seguir construyendo los espacios que tenemos y llenarlos de contenido. Hoy más que nunca, es importante estar allí donde está el pueblo, reconstruyendo los lazos entre trabajadoras y trabajadores, personas desocupadas, mujeres y disidencias para poder enfrentar con un solo puño estas medidas.

¿Qué papel desempeña ahora el feminismo?
Los feminismos se están enfrentando a ataques permanentes a las conquistas y los derechos adquiridos en los últimos años. Uno de ellos, mundialmente famoso, es el derecho al aborto. El discurso del gobierno niega los derechos de las mujeres que han recibido una jubilación como amas de casa, ni hablar de todo lo que tiene que ver con las disidencias y la ley de violencia de género. Milei eligió al movimiento feminista como un enemigo, como chivo expiatorio, como el culpable de nuestro infortunio. Es muy parecido a lo que pasa con otras derechas a nivel global.
Yo creo que el rol de los feminismos ahora es tender puentes con aquellas personas que tal vez no terminan de entender lo importante que es la discusión de las políticas identitarias y lo poco que a fin de cuentas le cuestan al Estado. Hace 4 años, cuando se legalizó el aborto, creíamos que estaba saldada la discusión de que al Estado le salía más barato garantizar que una mujer pueda abortar y no se muera, que internaciones y muertes de mujeres por abortos clandestinos. Evidentemente, eso ahora vuelve a ser puesto en discusión. Ante este escenario, tenemos que volvernos más populares que nunca y explicar a la gente por qué también hay un componente de clase en esto. Y es muy importante que dejemos de lado cierto punitivismo que el feminismo desarrolló en algún momento y que nos hizo bastante daño. Tenemos que luchar por un feminismo queer que no culpabilice y no persiga a quienes, dentro de este enorme universo que es el feminismo, piensa distinto sobre algunos temas. En vez de eso deberíamos sentarnos a pensar qué es lo que no estamos dispuestes a perder.

¿Qué esperas de los meses que vienen?

Yo creo en nuestro pueblo, en nuestra capacidad de autoorganizarnos. Hemos sobrevivido a una dictadura, a un gobierno totalmente impopular y neoliberal como el de Carlos Saúl Menem, a una crisis económica tremenda como la del 2001 y también vamos a poder con esto. Para eso tenemos que revivir todas las estructuras de participación y de construcción de poder popular.
Me gustaría agregar otra cosa: Es muy importante que todo el mundo sepa que muchas de las cosas que están pasando en Argentina no aparecen en los grandes medios de comunicación. Actualmente es muy importante la denuncia y que se haga eco de ella porque así nos sentimos más acompañades.

Explosiver März gegen Milei

Ob organisiert oder nicht Die feministische Vollversammlung gibt allen eine Stimme (Fotos: Julieta Bugacoff)

Die feministische Vollversammlung fungiert als Koordinationsorgan der feministischen Bewegung Argentiniens: Seit 2016 bietet das Gremium den verschiedensten Strömungen der Bewegung einen Raum zur Vernetzung und Organisation. Auf dem Treffen diskutieren die Teilnehmer*innen, ob in politischen Strukturen und Kollektiven organisiert oder nicht, die aktuelle Situation und planen den Kampf auf der Straße. Dieses gemeinsame Treffen, welches auch immer einen Neuanfang darstellt, ist, was die Bewegung zu einer Einheit werden lässt.

Am 14. Februar fand das erste Vorbereitungstreffen für den kommenden 8. März im Hof der ATE, der Gewerkschaft der Staatsbediensteten von Buenos Aires, statt. Das Treffen war als Reaktion auf einen Eilaufruf zustande gekommen. Zugleich versuchte die Regierung, die parlamentarische Niederlage des Omnibus-Gesetzes zu vertuschen, indem sie einen schlecht recherchierten Gesetzentwurf zur erneuten Illegalisierung von Abtreibung aufsetzte. Ein wichtiges Anliegen der Vollversammlung war, die Empörung darüber nicht in den sozialen Medien verpuffen zu lassen. Damit fällt die feministische Bewegung nicht auf Mileis Provokationen herein, die ein doch nur zu offensichtliches Ablenkungsmanöver von der katastrophalen, aktuellen Situation darstellen, in welcher sich das Land befindet.

Die Vollversammlung wiederholt sich zwar jährlich, sie versucht jedoch jedes Mal, neue Antworten in Bezug auf aktuelle Geschehnisse zu finden. In ihr vereinigen sich Stimmen und Erfahrungen, die sonst in der Politik nicht gehört werden.

Der offene Charakter erlaubt es dabei auch Personen, die bisher nicht organisiert sind, sich einzubringen. Die erste Großdemonstration zum 8. März fand in Argentinien 2017 während der Regierung von Mauricio Macri statt. Der diesjährige 8M wird der erste gegen eine ultra-rechte Regierung sein, die schon im Wahlkampf ihren explizit antifeministischen Charakter zeigte und diesen seit der Übernahme der Präsidentschaft immer weiter bestätigt. Von seiner Rede vor dem Wirtschaftsforum in Davos, in der Javier Milei den Feminismus attackierte, bis hin zu seinen wiederholten Angriffen auf die Sängerin Lali, weist alles auf seine Besessenheit hin, den Feminismus als Feindbild zu konstruieren. Diese Sichtweise macht ihn zu einem Teil des globalen Skripts reaktionärer politischer Akteur*innen, die panische „Angst vor Gender“ haben, um den Titel eines kürzlich erschienenen Buches von Judith Butler zu verwenden.

Streiken gegen den Hunger

Der Raum der Vollversammlung im Februar war zum Bersten voll. Ihre Zusammensetzung und die Fürsorge als Teil der so genannten unsichtbaren politischen Arbeit ist das, was die „vielstimmige“ Gemeinschaft, wie Dora Barrancos sie zu Beginn nannte, zusammenhält. Unterschiedliche Stimmungen, Erwartungen und Sprechweisen treffen aufeinander, aber es gelingt ihnen, gemeinsame Strategien zu erarbeiten, um auf der Straße Schlagkraft zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Redebeiträge stand dabei besonders die Frage des Hungers: Der Lebensmittelnotstand in den Suppenküchen, den Stadtvierteln und Haushalten. Dina Sánchez, stellvertretende Generalsekretärin der UTEP (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular; Gewerkschaft der Arbeiter*innen im informellen Sektor) sprach von der „leeren Tupperbox, mit der die Genossinnen aus Suppenküchen zurückkommen, die nicht alle versorgen können“.

Ihr Redebeitrag bringt etwas zum Ausdruck, was die feministische Bewegung in den letzten Jahren wie keine andere erreicht hat: Gleichzeitig von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, sichtbarer und unsichtbarer, häuslicher und gemeinnütziger Arbeit zu sprechen. Dies hat es den feministischen Streiks des 8. März ermöglicht, viele unterschiedliche Realitäten zu berücksichtigen. Auch die derjenigen, die sich zunächst einen Weg zu streiken erfinden müssen: Erst durch die Abwesenheit der von ihnen übernommenen Aufgaben wird ihrer nicht als solchen anerkannten Arbeit Aufmerksamkeit zuteil.

Dass dabei die meisten zentralen gewerkschaftlichen Organisationen vertreten sind, zeugt von der Bedeutung des gewerkschaftlichen Feminismus. Angesichts der brutalen Abwertung von Löhnen, Renten und Subventionen unterstreicht die gewerkschaftliche Präsenz auch den Anschluss an den Generalstreik vom 24. Januar.

Neben analytischen Perspektiven auf die politischen Veränderungen werden deren direkte Folgen im Alltag beschrieben: Medikamente, die nicht mehr bezahlt werden können, Schulsachen, die zum Luxus werden, Mietpreise, die Diebstahl gleichkommen und alle drei oder sechs Monate erhöht werden, das SUBE-Guthaben (Anm. d. Red.: Bezahlsystem für den ÖPNV in Buenos Aires), das immer schneller verschwindet.

Feministisch zuhören Wie wirken sich die politischen Umstände auf den Alltag von FLINTA* aus?

Diese Erfahrungsberichte zeigen, dass das Zuhören eine zentrale Funktion der Versammlung ist. So ist sie ein Ort, an dem verständlich wird, wie das Leben durch die immer dringlicheren, prekäreren Umstände gefährdet ist, die selbst die grundlegendsten Alltagsroutinen durcheinanderbringen. Mehrere Beiträgen der Vollversammlung hoben die perversen Auswirkungen des DNU (Decreto de necesidad y urgencia; dt.: Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit) hervor. Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, schafft dieses Dekret eine Atmosphäre der Gewalt: Rassistische Gewalt und Diskriminierung gegen rassifizierte Menschen, insbesondere gegen diejenigen, die auf der Straße arbeiten, würden durch die Hassreden der Machthaber*innen gefördert und seien heute schon an der Tagesordnung.

Feministisch zuhören und analysieren

Ein weiteres Thema, das sich durch die Versammlung zog, war das der Kriminalisierung des Protests und politischer Verfolgung als zentrales Problem der feministischen Bewegung. Dabei wurde auch eine absurde Verdrehung feministischer Anliegen seitens der Institutionen zum Zwecke der Kriminalisierung aufgezeigt. So zum Beispiel im Fall der beiden Personen, die in Jujuy wegen eines Tweets verhaftet wurden und bei denen „geschlechtsspezifische Gewalt“ als strafverschärfender Faktor in den Urteilen verwendet wurde, wie die Lebensgefährtin einer der beiden Personen per Video erläuterte. Das Manöver ist unheimlich: Es handelt sich um einen Versuch, ein feministisches Anliegen heranzuziehen und zu instrumentalisieren, um Protest zu kriminalisieren und die Meinungsfreiheit aufzuheben.

Ebenfalls anwesend war die lesbische Aktivistin Pierina Nocchetti, die ohne Beweise beschuldigt wird, in Necochea ein Graffiti mit dem Slogan „Wo ist Tehuel?“ (Anm. d. Red.: Vermisstenfall eines jungen trans Mannes) gemalt zu haben, und die sich in der Woche des 8. März der Gerichtsverhandlung stellen muss.

Kehren wir zu Butlers Frage zurück: Warum ist „Gender“ zu einem phantomhaften Symbol geworden, das in der Lage ist, Ängste, Unsicherheiten und Befürchtungen so zu binden, dass es zur Grundlage für die Feindbildkonstruktion reaktionärer Politiker*innen und Machthaber*innen wird? Den Faschisten des 21. Jahrhunderts erlaubt dies, eine Art konzentrierte Schuld – und eine wirksame, gemeinsame Sache – für die Übel zu finden, die der Neoliberalismus an Unsicherheiten mitbringt, wie etwa Zukunftsängste, Beziehungsängste und Existenzängste. So wird die Fantasie der Rückkehr zur patriarchalen Ordnung erzeugt: Eine idyllische Zeit, die es nie gab, die aber die Rolle einer „natürlichen“ Ursprungsgeschichte spielt.

Die feministische Vollversammlung bietet für die kommenden Wochen ein Rendezvous inmitten des Trubels, einen Ort des arbeitsamen Treffens mit der Aufgabe, einen politischen Moment in einem März zu schaffen, der, wie man jetzt schon spürt, explosiv sein wird. „Wir werden nicht aufgrund unserer Fehler als Feinde bezeichnet, sondern weil wir tiefe Strukturen der Ungleichheit ins Wanken gebracht haben. Gegen diese werden wir uns organisieren“, fasste Luci Cavallero vom Kollektiv Ni Una Menos am Ende der ersten Versammlung zusammen.

// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!

// Lateinamerika positioniert sich neu

Mit der Amtsübernahme des neoliberalen Fundamentalisten Milei erwartet Argentinien den Einsatz der „Motorsäge“. Aber auch geopolitisch wird gesägt. Zwei Tage nach dem Wahlsieg Mileis warnte die chinesische Regierung, die Beziehungen abzubrechen wäre ein „großer Fehler“. Milei hatte „keine Geschäfte mit China“ angekündigt, das sei „keine makroökonomische Tragödie“. Das chinesische Außenministerium wies nun darauf hin, dass die Volksrepublik die zweitgrößte Handelspartnerin Argentiniens sei. China hatte auch mit einem „Swap“-Abkommen ermöglicht, bilateralen Handel in Yuan und nicht in US-Dollar abzuwickeln. Das hilft, den Druck des IWF auf das in Dollar höchst verschuldete Land zu mildern.

Jetzt wurde schon vor der Regierungsübernahme ein weiterer Ast gekappt: Die künftige Außenministerin Mondino verkündete, das Land habe sich gegen eine Aufnahme in die BRICS entschieden. BRICS steht für eine Gemeinschaft wirtschaftlich aufstrebender Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die ein Gegengewicht zur G7 des globalen Nordens bilden wollen. Noch auf dem Gipfel in Johannesburg im August hatte Argentinien sich in die Warteschlange der Länder des Globalen Südens eingereiht, die Mitglieder werden wollten. Und es hatte geklappt: Zum 1. Januar 2024 sollte Argentinien zusammen mit Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten beitreten. Das ist jetzt vorbei. Die BRICS-Länder wollen ihre gegenseitige wirtschaftliche Entwicklung fördern, ihre Stimme in globalen Angelegenheiten stärken und die globale Finanzarchitektur und das Währungssystem reformieren, um es fairer zu gestalten.

Die Forderung nach einer fairen Weltwirtschaftsordnung ist nicht neu. Vor fast 50 Jahren, am 1. Mai 1974, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, in der sich die Völkergemeinschaft zur Errichtung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO) verpflichtete. Diese sollte den Ländern des Südens Souveränität über ihre Rohstoffe, faire Preise und Austauschbeziehungen, Kontrolle multinationaler Konzerne und Industrialisierung ihrer Länder ermöglichen. Die Hoffnungen haben sich weltweit nicht erfüllt. Mit der neoliberalen Globalisierung sind die globalen Abhängigkeiten größer geworden und soziale Ungleichheiten haben zugenommen. 200 Jahre nach der Unabhängigkeit und 50 Jahre nach NWWO hat sich an der Rolle Lateinamerikas als abhängiger Rohstoffproduzent wenig geändert.

Gleichwohl sind die übrigen Schwellenländer Lateinamerikas angetreten, sich geopolitisch neu zu positionieren. Allen voran Brasilien. Lula war mit einer der größten Delegationen zur COP 28 in Dubai angereist, um dort die Stimme des globalen Südens gegen den Klimawandel zu erheben. Seit dem 1. Dezember hat Brasilen den Vorsitz in der G20 inne. Brasilien bleibt engagiert in den BRICS und für deren Erweiterung um neue Mitglieder. Bei seinem Besuch in Berlin warb Lula nun auch noch für einem baldigen Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Mercosur. Dieses war in über 20 Jahren bisher nicht zum Abschluss gekommen, gerade auch aufgrund des gewachsenen Selbstbewusstseins Lateinamerikas und der Sorge, dass es neokoloniale Abhängigkeiten reproduziert. Europa, insbesondere Deutschland, braucht Ressourcen aus Lateinamerika für die Aufrechterhaltung seiner industriellen Führungsrolle und die grüne Transformation seiner Industrie: „grüner“ Wasserstoff, Lithium für Autobatterien, Fachkräfte. Lula hingegen scheint die Erwartung zu haben, dass Beziehungen zu allen zumindest den Einfluss der ehemals einzigen Hegemonialmacht USA reduzieren. Dort wo Lula Brücken baut, will Milei nun sägen: Auch der Mercosur und Lulas Brasilien stehen auf seiner Liste.

Newsletter abonnieren