Explosiver März gegen Milei

Ob organisiert oder nicht Die feministische Vollversammlung gibt allen eine Stimme (Fotos: Julieta Bugacoff)

Die feministische Vollversammlung fungiert als Koordinationsorgan der feministischen Bewegung Argentiniens: Seit 2016 bietet das Gremium den verschiedensten Strömungen der Bewegung einen Raum zur Vernetzung und Organisation. Auf dem Treffen diskutieren die Teilnehmer*innen, ob in politischen Strukturen und Kollektiven organisiert oder nicht, die aktuelle Situation und planen den Kampf auf der Straße. Dieses gemeinsame Treffen, welches auch immer einen Neuanfang darstellt, ist, was die Bewegung zu einer Einheit werden lässt.

Am 14. Februar fand das erste Vorbereitungstreffen für den kommenden 8. März im Hof der ATE, der Gewerkschaft der Staatsbediensteten von Buenos Aires, statt. Das Treffen war als Reaktion auf einen Eilaufruf zustande gekommen. Zugleich versuchte die Regierung, die parlamentarische Niederlage des Omnibus-Gesetzes zu vertuschen, indem sie einen schlecht recherchierten Gesetzentwurf zur erneuten Illegalisierung von Abtreibung aufsetzte. Ein wichtiges Anliegen der Vollversammlung war, die Empörung darüber nicht in den sozialen Medien verpuffen zu lassen. Damit fällt die feministische Bewegung nicht auf Mileis Provokationen herein, die ein doch nur zu offensichtliches Ablenkungsmanöver von der katastrophalen, aktuellen Situation darstellen, in welcher sich das Land befindet.

Die Vollversammlung wiederholt sich zwar jährlich, sie versucht jedoch jedes Mal, neue Antworten in Bezug auf aktuelle Geschehnisse zu finden. In ihr vereinigen sich Stimmen und Erfahrungen, die sonst in der Politik nicht gehört werden.

Der offene Charakter erlaubt es dabei auch Personen, die bisher nicht organisiert sind, sich einzubringen. Die erste Großdemonstration zum 8. März fand in Argentinien 2017 während der Regierung von Mauricio Macri statt. Der diesjährige 8M wird der erste gegen eine ultra-rechte Regierung sein, die schon im Wahlkampf ihren explizit antifeministischen Charakter zeigte und diesen seit der Übernahme der Präsidentschaft immer weiter bestätigt. Von seiner Rede vor dem Wirtschaftsforum in Davos, in der Javier Milei den Feminismus attackierte, bis hin zu seinen wiederholten Angriffen auf die Sängerin Lali, weist alles auf seine Besessenheit hin, den Feminismus als Feindbild zu konstruieren. Diese Sichtweise macht ihn zu einem Teil des globalen Skripts reaktionärer politischer Akteur*innen, die panische „Angst vor Gender“ haben, um den Titel eines kürzlich erschienenen Buches von Judith Butler zu verwenden.

Streiken gegen den Hunger

Der Raum der Vollversammlung im Februar war zum Bersten voll. Ihre Zusammensetzung und die Fürsorge als Teil der so genannten unsichtbaren politischen Arbeit ist das, was die „vielstimmige“ Gemeinschaft, wie Dora Barrancos sie zu Beginn nannte, zusammenhält. Unterschiedliche Stimmungen, Erwartungen und Sprechweisen treffen aufeinander, aber es gelingt ihnen, gemeinsame Strategien zu erarbeiten, um auf der Straße Schlagkraft zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Redebeiträge stand dabei besonders die Frage des Hungers: Der Lebensmittelnotstand in den Suppenküchen, den Stadtvierteln und Haushalten. Dina Sánchez, stellvertretende Generalsekretärin der UTEP (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular; Gewerkschaft der Arbeiter*innen im informellen Sektor) sprach von der „leeren Tupperbox, mit der die Genossinnen aus Suppenküchen zurückkommen, die nicht alle versorgen können“.

Ihr Redebeitrag bringt etwas zum Ausdruck, was die feministische Bewegung in den letzten Jahren wie keine andere erreicht hat: Gleichzeitig von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, sichtbarer und unsichtbarer, häuslicher und gemeinnütziger Arbeit zu sprechen. Dies hat es den feministischen Streiks des 8. März ermöglicht, viele unterschiedliche Realitäten zu berücksichtigen. Auch die derjenigen, die sich zunächst einen Weg zu streiken erfinden müssen: Erst durch die Abwesenheit der von ihnen übernommenen Aufgaben wird ihrer nicht als solchen anerkannten Arbeit Aufmerksamkeit zuteil.

Dass dabei die meisten zentralen gewerkschaftlichen Organisationen vertreten sind, zeugt von der Bedeutung des gewerkschaftlichen Feminismus. Angesichts der brutalen Abwertung von Löhnen, Renten und Subventionen unterstreicht die gewerkschaftliche Präsenz auch den Anschluss an den Generalstreik vom 24. Januar.

Neben analytischen Perspektiven auf die politischen Veränderungen werden deren direkte Folgen im Alltag beschrieben: Medikamente, die nicht mehr bezahlt werden können, Schulsachen, die zum Luxus werden, Mietpreise, die Diebstahl gleichkommen und alle drei oder sechs Monate erhöht werden, das SUBE-Guthaben (Anm. d. Red.: Bezahlsystem für den ÖPNV in Buenos Aires), das immer schneller verschwindet.

Feministisch zuhören Wie wirken sich die politischen Umstände auf den Alltag von FLINTA* aus?

Diese Erfahrungsberichte zeigen, dass das Zuhören eine zentrale Funktion der Versammlung ist. So ist sie ein Ort, an dem verständlich wird, wie das Leben durch die immer dringlicheren, prekäreren Umstände gefährdet ist, die selbst die grundlegendsten Alltagsroutinen durcheinanderbringen. Mehrere Beiträgen der Vollversammlung hoben die perversen Auswirkungen des DNU (Decreto de necesidad y urgencia; dt.: Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit) hervor. Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, schafft dieses Dekret eine Atmosphäre der Gewalt: Rassistische Gewalt und Diskriminierung gegen rassifizierte Menschen, insbesondere gegen diejenigen, die auf der Straße arbeiten, würden durch die Hassreden der Machthaber*innen gefördert und seien heute schon an der Tagesordnung.

Feministisch zuhören und analysieren

Ein weiteres Thema, das sich durch die Versammlung zog, war das der Kriminalisierung des Protests und politischer Verfolgung als zentrales Problem der feministischen Bewegung. Dabei wurde auch eine absurde Verdrehung feministischer Anliegen seitens der Institutionen zum Zwecke der Kriminalisierung aufgezeigt. So zum Beispiel im Fall der beiden Personen, die in Jujuy wegen eines Tweets verhaftet wurden und bei denen „geschlechtsspezifische Gewalt“ als strafverschärfender Faktor in den Urteilen verwendet wurde, wie die Lebensgefährtin einer der beiden Personen per Video erläuterte. Das Manöver ist unheimlich: Es handelt sich um einen Versuch, ein feministisches Anliegen heranzuziehen und zu instrumentalisieren, um Protest zu kriminalisieren und die Meinungsfreiheit aufzuheben.

Ebenfalls anwesend war die lesbische Aktivistin Pierina Nocchetti, die ohne Beweise beschuldigt wird, in Necochea ein Graffiti mit dem Slogan „Wo ist Tehuel?“ (Anm. d. Red.: Vermisstenfall eines jungen trans Mannes) gemalt zu haben, und die sich in der Woche des 8. März der Gerichtsverhandlung stellen muss.

Kehren wir zu Butlers Frage zurück: Warum ist „Gender“ zu einem phantomhaften Symbol geworden, das in der Lage ist, Ängste, Unsicherheiten und Befürchtungen so zu binden, dass es zur Grundlage für die Feindbildkonstruktion reaktionärer Politiker*innen und Machthaber*innen wird? Den Faschisten des 21. Jahrhunderts erlaubt dies, eine Art konzentrierte Schuld – und eine wirksame, gemeinsame Sache – für die Übel zu finden, die der Neoliberalismus an Unsicherheiten mitbringt, wie etwa Zukunftsängste, Beziehungsängste und Existenzängste. So wird die Fantasie der Rückkehr zur patriarchalen Ordnung erzeugt: Eine idyllische Zeit, die es nie gab, die aber die Rolle einer „natürlichen“ Ursprungsgeschichte spielt.

Die feministische Vollversammlung bietet für die kommenden Wochen ein Rendezvous inmitten des Trubels, einen Ort des arbeitsamen Treffens mit der Aufgabe, einen politischen Moment in einem März zu schaffen, der, wie man jetzt schon spürt, explosiv sein wird. „Wir werden nicht aufgrund unserer Fehler als Feinde bezeichnet, sondern weil wir tiefe Strukturen der Ungleichheit ins Wanken gebracht haben. Gegen diese werden wir uns organisieren“, fasste Luci Cavallero vom Kollektiv Ni Una Menos am Ende der ersten Versammlung zusammen.

// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!

// Lateinamerika positioniert sich neu

Mit der Amtsübernahme des neoliberalen Fundamentalisten Milei erwartet Argentinien den Einsatz der „Motorsäge“. Aber auch geopolitisch wird gesägt. Zwei Tage nach dem Wahlsieg Mileis warnte die chinesische Regierung, die Beziehungen abzubrechen wäre ein „großer Fehler“. Milei hatte „keine Geschäfte mit China“ angekündigt, das sei „keine makroökonomische Tragödie“. Das chinesische Außenministerium wies nun darauf hin, dass die Volksrepublik die zweitgrößte Handelspartnerin Argentiniens sei. China hatte auch mit einem „Swap“-Abkommen ermöglicht, bilateralen Handel in Yuan und nicht in US-Dollar abzuwickeln. Das hilft, den Druck des IWF auf das in Dollar höchst verschuldete Land zu mildern.

Jetzt wurde schon vor der Regierungsübernahme ein weiterer Ast gekappt: Die künftige Außenministerin Mondino verkündete, das Land habe sich gegen eine Aufnahme in die BRICS entschieden. BRICS steht für eine Gemeinschaft wirtschaftlich aufstrebender Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die ein Gegengewicht zur G7 des globalen Nordens bilden wollen. Noch auf dem Gipfel in Johannesburg im August hatte Argentinien sich in die Warteschlange der Länder des Globalen Südens eingereiht, die Mitglieder werden wollten. Und es hatte geklappt: Zum 1. Januar 2024 sollte Argentinien zusammen mit Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten beitreten. Das ist jetzt vorbei. Die BRICS-Länder wollen ihre gegenseitige wirtschaftliche Entwicklung fördern, ihre Stimme in globalen Angelegenheiten stärken und die globale Finanzarchitektur und das Währungssystem reformieren, um es fairer zu gestalten.

Die Forderung nach einer fairen Weltwirtschaftsordnung ist nicht neu. Vor fast 50 Jahren, am 1. Mai 1974, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, in der sich die Völkergemeinschaft zur Errichtung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO) verpflichtete. Diese sollte den Ländern des Südens Souveränität über ihre Rohstoffe, faire Preise und Austauschbeziehungen, Kontrolle multinationaler Konzerne und Industrialisierung ihrer Länder ermöglichen. Die Hoffnungen haben sich weltweit nicht erfüllt. Mit der neoliberalen Globalisierung sind die globalen Abhängigkeiten größer geworden und soziale Ungleichheiten haben zugenommen. 200 Jahre nach der Unabhängigkeit und 50 Jahre nach NWWO hat sich an der Rolle Lateinamerikas als abhängiger Rohstoffproduzent wenig geändert.

Gleichwohl sind die übrigen Schwellenländer Lateinamerikas angetreten, sich geopolitisch neu zu positionieren. Allen voran Brasilien. Lula war mit einer der größten Delegationen zur COP 28 in Dubai angereist, um dort die Stimme des globalen Südens gegen den Klimawandel zu erheben. Seit dem 1. Dezember hat Brasilen den Vorsitz in der G20 inne. Brasilien bleibt engagiert in den BRICS und für deren Erweiterung um neue Mitglieder. Bei seinem Besuch in Berlin warb Lula nun auch noch für einem baldigen Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Mercosur. Dieses war in über 20 Jahren bisher nicht zum Abschluss gekommen, gerade auch aufgrund des gewachsenen Selbstbewusstseins Lateinamerikas und der Sorge, dass es neokoloniale Abhängigkeiten reproduziert. Europa, insbesondere Deutschland, braucht Ressourcen aus Lateinamerika für die Aufrechterhaltung seiner industriellen Führungsrolle und die grüne Transformation seiner Industrie: „grüner“ Wasserstoff, Lithium für Autobatterien, Fachkräfte. Lula hingegen scheint die Erwartung zu haben, dass Beziehungen zu allen zumindest den Einfluss der ehemals einzigen Hegemonialmacht USA reduzieren. Dort wo Lula Brücken baut, will Milei nun sägen: Auch der Mercosur und Lulas Brasilien stehen auf seiner Liste.

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