Aktuell | El Salvador | Nummer 586 - April 2023

Ein Jahr im Ausnahmezustand

Tausende willkürliche Verhaftungen hinterlassen verzweifelte Angehörige

Am 27. März jährte sich der Beginn des landesweiten Ausnahmezustands in El Salvador zum ersten Mal. Die Bilanz dieser von Präsident Nayib Bukele eingeleiteten Ausnahmeregelung, die inzwischen zur Regel geworden ist, beläuft sich nach einem Jahr auf über 66.000 Verhaftungen. Die willkürlichen Festnahmen und ebenso willkürlichen Freilassungen stellen Angehörige vor große Herausforderungen. Ein Bericht mit Eindrücken aus San Salvador.

Von Lya Cuéllar
“Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend will ich ihn zurück” Demonstration von Angehörigen von iM Ausnahmezustand Inhaftierten (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Heute ist der 24. März, es ist erst achtzehn Uhr, aber Camila weiß schon, dass sie fast die ganze Nacht vor „El Penalito“ warten wird. Sie hat schon viel gewartet. Geduldig hat sie die dreistündige Autofahrt von Jiquilisco, einer Küstengemeinde im äußersten Osten des Landes, in die salvadorianische Hauptstadt San Salvador überstanden. Ebenso jede Busfahrt zuvor, als sie die paquetes für ihre Familienangehörigen ins La Esperanza-Gefängnis, bekannt als „Mariona“, gebracht hat. Aber besonders geduldig war Camila in den vergangenen zehn Monaten ohne ihren Ehemann, ihren Bruder und ihre Söhne, die alle im Mai 2022 im Rahmen des Ausnahmezustands festgenommen wurden. Seit fast einem Jahr hat sie keinen Kontakt zu ihnen.

„El Penalito” ist der Spitzname jener Polizeikaserne in San Salvador, in der sich der Sitz der Abteilung für außerordentliche Dienste befindet. Dort werden von Montag bis Freitag jede Nacht um die zehn Gefangene freigelassen, die aus verschiedenen Gefängnissen des Landes verlegt werden. Daher treffen sich vor dem Tor, aus dem die Gefangenen entlassen werden, jeden Abend Dutzende Familien in der Hoffnung, ihre Familienangehörigen wiedersehen zu können.

Die Berichte über willkürliche Festnahmen häufen sich

Die vier Männer aus Camilas Familie gehören zu den über 66.000 Personen, die seit dem 27. März 2022 verhaftet wurden, nachdem der salvadorianische Kongress mit einer Mehrheit der Regierungsparteien den Ausnahmezustand erklärt hat. Die Maßnahme war eine Reaktion auf ein dreitägiges Massaker, bei dem 87 Menschen von der Mara Salvatrucha (MS-13), einer der größten Gangs in El Salvador, ermordet wurden. Eine Recherche des investigativen Journalist*innenteams von El Faro hat bewiesen, dass die Massaker eine Reaktion auf den Bruch eines geheimen Pakts zwischen MS-13 und der Regierung von Präsident Nayib Bukele waren.

Präsident Bukele forderte den Kongress in der Folge erfolgreich dazu auf, grundlegende Rechte – die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Verteidigung und das Fernmeldegeheimnis – für mindestens 30 Tage auszusetzen. Allein am ersten Tag wurden 1.400 mutmaßliche Gangmitglieder verhaftet. Eine Woche später verabschiedeten die Parlamentarier*innen mehrere Reformen des Strafgesetzbuchs, die den Freiheitsentzug für Bandenmitglieder auf bis zu 45 Jahre erhöht haben und unter anderem Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für 12-Jährige und bis zu 20 Jahren für 16-Jährige vorsehen.

Gefangene leiden wegen der mangelhaften Ernährung unter niedrigem Blutdruck und Herzrasen

Es gibt zahlreiche Berichte von willkürlichen Inhaftierungen. Seit einem Jahr sitzen immer mehr Männer und Frauen in den schon vorher überfüllten Gefängnissen El Salvadors. Dort erleben sie Bedingungen, die nur als Folter beschrieben werden können. Nayib Bukele hatte bereits zu Beginn des Ausnahmezustands über Twitter erklärt, er würde den Gefangenen nur sehr wenig Essen zur Verfügung stellen lassen. Dies bestätigt eine Person, die in einem der Gefängnisse arbeitet, gegenüber LN: „Die Gefangenen des Ausnahmezustands werden schlecht ernährt, nur Nudeln oder Reis, Fleisch vielleicht einmal in der Woche. Vorher haben sie nur zwei Mahlzeiten am Tag bekommen, aber das mussten sie ändern“, erklärt sie. „Da die Gefangenen nur wenig Wasser trinken durften, mussten sie häufig in die Gefängnisklinik, etwa mit extrem niedrigem Blutdruck und Herzrasen. Erst als mehrere Gefangene mit sehr niedrigem Blutdruck in Folge von Dehydrierung starben, hat man ihnen Zugang zu einem Wasserhahn verschafft“, berichtet sie.

Am 23. März hatte die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR) in den sozialen Netzwerken den Tod von Orlando Claros, ebenfalls aus Jiquilisco, öffentlich gemacht. Laut Informationen von MOVIR ist er wenige Stunden nach seiner Entlassung nach elfmonatiger Haft an schwerer Anämie gestorben. Zwar konnten seine Kinder ihn ein letztes Mal sehen. Seine Frau, die ebenfalls in Haft ist, weiß jedoch vermutlich nichts von seinem Tod. Es gibt viele solche Fälle: Laut Menschenrechtsorganisationen sind in einem Jahr Ausnahmezustand mindestens 111 Personen in Haft gestorben.

„Wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben?“

Antonio, ein weiterer Bruder von Camila, der neben ihr am Bürgersteig vor „El Penalito“ auf einem Plastikstuhl wartet, beschreibt, was der Ausnahmezustand für seine Familie bedeutet: „Der Präsident hat den Befehl gegeben (den Ausnahmezustand zu erklären, Anm. d. Red.), das verstehe ich. Aber er merkt nicht, wie er Unschuldige und arme Familien verletzt.“ Später fügt er wütend hinzu: „Er behauptet, er sorge für Gerechtigkeit, aber wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben; für die Mütter, die an Verzweiflung sterben, weil sie auf ihre Kinder warten müssen?“

Trotz konstanten Drucks der Familienangehörigen von unschuldig verhafteten Personen und der starken Kritik aus der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft wird der Ausnahmezustand jeden Monat verlängert. Die Prozesse der verhafteten Personen werden immer wieder verschoben und rechtswidrig in die Länge gezogen. Familien wie die von Camila, die jede Nacht vor dem „Penalito“ warten, wurden von ihren Anwält*innen darüber informiert, dass ihre Angehörigen bereits „Entlassungsbriefe“, also Gerichtsbeschlüsse für ihre sofortige Freilassung, bekommen haben. Allerdings kann es bis zur tatsächlichen Freilassung lange dauern. „Manche werden erst ein bis zwei Monate nach dem Erhalt des Briefes willkürlich freigelassen“, erklärt Ramón, ein Rechtsanwalt aus dem ehrenamtlichen Kollektiv Socorro Jurídico Humanitario (SJH), der fast jede Nacht mit den Familien dort wartet. Der Ehemann und der Bruder von Camila haben Anfang März ihre Briefe zur sofortigen Entlassung bekommen. Zwei Wochen später wurde nur Camilas Bruder freigelassen.

Jede Nacht Hoffnung auf die Freilassung Gefangene kommen mit dem Bus an und können ihre Familien in den Arm nehmen (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Jeden Tag entsteht im „Penalito“ eine Liste mit den Namen der Personen, die in der Nacht freigelassen werden. Diese Liste ist nicht offiziell: Personen in der Kaserne lassen sie durchsickern, die Bewegung MOVIR veröffentlicht sie in den sozialen Netzwerken. Die Familienangehörigen von verhafteten Personen müssen also jeden Tag auf die Liste warten, um dann Zeit und Mittel zu organisieren, um aus allen Ecken des Landes zum „Penalito“ zu fahren und bis Mitternacht zu warten.

Die staatlichen Sicherheitskräfte scheinen sich unantastbar zu fühlen

Der Name des Ehemanns von Camila stand noch nicht auf der Liste. Trotzdem wartet sie jede Nacht dort. In der Woche zuvor wurde ihr Bruder freigelassen, obwohl er nicht auf der Liste war. Das hat sie überrascht und darf nicht nochmal passieren: Denn wenn eine Person freigelassen wird, aber keine Familienangehörigen oder Bekannte dort sind, um sie aufzunehmen und sich als Verantwortliche mit Ausweis und Unterschrift anzumelden, dann werden sie zurück in die Haft geholt. Dies verstößt eindeutig gegen den Gerichtsentscheid, ist aber gängige Praxis geworden.

Die Willkür der staatlichen Sicherheitskräfte, die sich unantastbar zu fühlen scheinen, ist spürbar. In derselben Nacht verweigert ein Polizist in der Nähe des „Penalito“ drei Jugendlichen in Schuluniformen den Durchgang und nimmt ihnen ein Plakat weg, das sie für den Unterricht gemacht hatten. Später steigen zwei Polizisten in einen Bus, der vor der Polizeikaserne vorbeifährt, ziehen einen Mann auf die Straße, schlagen ihn und schleifen ihn über den Boden, während er noch liegt – alles vor den Augen dutzender Menschen. Bislang zählen eine Allianz von sieben Organisationen der Zivilgesellschaft 4.723 Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand.

Der kleine Bus mit den Gefangenen kommt um 20.30 Uhr an. Acht Männer in Handschellen steigen aus, drei weniger als Namen auf der Liste. Alle Familienangehörigen versuchen von der anderen Straßenseite aus zu sehen, ob die Person, auf die sie warten, dabei ist. Das ist nicht einfach, denn alle acht Häftlinge sehen gleich aus: dünn, glattrasiert, mit weißer Uniform und einem Mund-Nasen-Schutz. Der Mann von Camila ist leider auch heute nicht dabei.

Die Familien und Ehrenamtliche vor Ort haben mit der Zeit eine Art informelles Netzwerk organisiert. Mithilfe der Geschäfte vor dem „Penalito“ machen sie schnell Kopien von Dokumenten, die sie für die Freilassung brauchen und koordinieren Transport und Unterkunft für diejenigen, die keine verantwortliche Person vor Ort haben. „Keiner wird zurückgelassen“, sagt Marina, eine Verkäuferin, die vor der Kaserne arbeitet und die Familien unterstützt. „Wenn sie wirklich niemanden haben, der sie abholt, besorgen wir irgendwie eine Unterkunft hier in der Nähe“, erzählt sie. Die Familien und Ehrenamtlichen selbst spenden immer ein paar Münzen für diese Menschen.

Die sogenannte Ausnahme ist zur Regel geworden

Um 21.10 Uhr kommt der erste Mann raus. Er findet sofort eine Frau in Türkis und umarmt sie so doll, dass beide lachend fast umkippen. Dann der nächste, der eine ältere Dame für eine Minute umarmt und nicht mehr loslässt. Der Dritte sieht eine Frau seiner Familie auf der anderen Straßenseite, die fast überfahren wird, als sie zu ihm rennt. Der vierte Mann kreuzt selbst die Straße, um eine junge Frau und ein Kleinkind zu drücken und zu küssen. Seine Mutter ist auch da und will auch eine Umarmung. Sie ruft weinend: „Komm her, papito lindo, komm bitte her!“

Die Umarmungen lösen Applaus in der kleinen Menschenmenge aus. Viele, fast alle Beobachter*innen weinen. Es ist ein überwältigender Moment: Diese Familien sehen sich zum ersten Mal seit zehn, elf Monaten. Doch was hier außergewöhnlich erscheint, wiederholt sich seit einem Jahr an jedem Wochentag – seitdem die sogenannte Ausnahme zur Regel und Routine geworden ist.

Eine halbe Stunde später sind alle Menschen nach Hause gegangen. Die Straße vor dem „Penalito“ ist einsam. Am darauffolgenden Montag wird alles wieder von vorne beginnen. Neue und einige der gleichen Familien, wie die von Camila, werden eine weitere Nacht dort warten. Etwa ein Dutzend Männer und vielleicht auch Frauen werden durch diese Tür kommen und hoffentlich ihre Familie in die Arme nehmen. Aber ihr Albtraum ist noch nicht vorbei, denn die Gefahr, wieder willkürlich verhaftet zu werden, wird weiterhin bestehen: Solange, bis der Ausnahmezustand nicht mehr verlängert wird.

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