„WIR HABEN DIE ANGST VERLOREN“

Mônica Francisco ist Abgeordnete der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL, Partido Socialismo e Liberdade) und Mitglied der gesetzgebenden Nationalversammlung von Rio de Janeiro. (Foto: Diegsf via commons.wikimedia, CC BY-SA 4.0)

Unter der Regierung des Gouverneurs von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, tötete die Polizei im ersten Quartal 2019 434 Menschen. Was sind Ihrer Meinung nach die Praktiken des Staates, die anzuprangern sind?
Rio de Janeiro ist heute ein krimineller Polizeistaat. Es gibt zwar keine Todesstrafe, aber die Kriminalisierung und Verfolgung der Jugend und ein Klima ständiger Todesdrohung: Scharfschützen schießen gezielt auf die Leute in den Favelas. Insgesamt wurden in den letzten sechs Monaten 3000 Menschen umgebracht. Der Bundesstaat Rio de Janeiro kann als Narcostaat der Milizen und als Polizeistaat mit einer kriminellen Strafgerichtsbarkeit bezeichnet werden.

Inwiefern lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Institutionalisierung der Gewalt sprechen? Wie viel Vertrauen können Schwarze, Angehörige der LGBTQ*-Szene und andere Minderheiten in Bezug auf den Schutz ihrer Rechte haben?
Für Mitglieder der LGBTQ*- Community ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung einer Transgender-Person liegt bei 35 Jahren. Durch den Versuch ein selbstbestimmtes Leben zu führen, stimmt eine LGBT-Person ihrem möglichen Todesurteil zu. In der Bevölkerung findet eine fortschreitende Militarisierung statt. Letztere und die Nutzung von Kriegswaffen werden in hohem Maße gefördert. Die Absurdität des Polizeistaats zeigt sich in der Militarisierung des Alltags und der Ausweitung der Gewalt insbesondere gegen die immer wieder selben Bevölkerungsgruppen: die Schwarzen, die Jugendlichen und die LGBTQ*-Gemeinde.

Seit dem Amtsantritt Jair Bolsonaros lässt sich ein dramatischer Anstieg der Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro feststellen. Sowohl auf Seiten der Banden und der Polizei, aber vor allem auf Seiten der ärmsten Bevölkerungsschichten sind viele Todesopfer zu beklagen. In welchem Zusammenhang stehen die Unterdrückung der Armen, der institutionelle Rassismus und die Macht der Milizen?
Die Institutionen des brasilianischen Staates haben den Rassismus quasi internalisiert. Er findet in den Handlungen gegen diese Bevölkerungsschichten seinen Ausdruck. Die arme Bevölkerung Brasiliens ist Schwarz oder parda (mestizisch), wie sich Angehörige dieser Ethnie selbst bezeichnen, und macht mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Trotzdem gilt sie politisch als eine unterrepräsentierte Minderheit ohne Macht und ohne politische Ämter, mit den schlechtesten Lebensbedingungen, extrem schlecht informiert und gesellschaftlich abgehängt. Das erzeugt eine Lebensrealität, die gänzlich von institutionellem Rassismus und institutioneller Gewalt durchdrungen wird. Deutlich wird das an einem Bildungsdefizit, das sich durch Analphabetismus, erhöhte Schulabbrüche und durch kognitive Störungen bemerkbar macht: als Objekt von Gewalt und Unterernährung hast du häufig mit Problemen in der Schule zu kämpfen. Es gibt also eine Reihe von Wechselwirkungen, welche durch den institutionellen Rassismus und die Terrorisierung dieser Bevölkerungsschichten durch den Staat ausgelöst werden, dessen Grenzen vom Narcostaat zur Macht der Milizen fließend sind.

Welche Möglichkeiten des organisierten Widerstands sehen Sie? Was kann der Schwarze feministische Widerstand dazu beitragen und warum ist er wichtig?
Wenn man nach Lateinamerika und nach Brasilien schaut, stellt man fest, dass die wichtigsten revolutionären Widerstandsbewegungen in den letzten Jahren durch Frauen vorangetrieben wurden. Auch der Schwarze Feminismus entspringt diesem Prozess. Trotz des prekären politischen Umfelds gibt es eine Reihe junger, Schwarzer Kollektive, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand leisten. Sie machen aus ihrem Zuhause Räume des kulturellen, künstlerischen Widerstands, zum Beispiel in Form von rodas de rima (sogenannte Reimkreise: Zusammenkünfte der Hip-Hop Kultur in Rio de Janeiro, in denen Poesie und Musik präsentiert werden, Anm.d.Red.). Es gibt Medienkanäle, die als Sprachrohr des Widerstands dienen und für die kollektive Organisierung verwendet werden und verschiedenste Akteure mit einbeziehen. Es gibt trotz der aktuell sehr schwierigen Situation viele kleine Revolutionen. Die Rolle des Schwarzen Feminismus ist in diesem Prozess von besonderer Bedeutung. Dies zeigte sich zum Beispiel während der #EleNão-Kampagne (#ErNicht-Kampagne, s. LN 533), eine der wichtigsten Aktionen gegen die Wahl von Bolsonaro, die von Frauen angeführt wurde, welche sich über Facebook organisiert hatten. Die Frauen werden dadurch zu Vorreiter*innen revolutionärer Prozesse und Auseinandersetzungen. Sie produzieren nicht nur Antworten und Anklagen, darunter konkrete Aktionen auf nationaler Ebene wie bei #EleNão, sondern auch auf regionaler Ebene. Die Funktion der feministischen Bewegung bestand vor allem darin, eine Avantgarde im Prozess des Widerstands gewesen zu sein.

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Abgeordnete auch als evangelische Pastorin tätig. Es ist immer wieder zu hören, dass sich die Wahl Jair Bolsonaros größtenteils evangelikaler Unterstützung verdankt. Welche Rolle übernimmt die Kirche im aktuellen politischen Tagesgeschäft? Kann es eine Form des evangelikalen Widerstands geben und wenn ja wie könnte er aussehen?
Vor allem im zweiten Wahlgang haben viele Evangelikale durch Initiativen wie „Evangélicos com Haddad“ (Evangelikale für Haddad) versucht, die Kandidatur von Haddad zu unterstützen. Deshalb muss man sehr genau sein und nicht alle Evangelikalen über einen Kamm scheren. Die Evangelikalen in Brasilien sind nicht als Einheit zu betrachten, sondern es gibt unter ihnen eine große Vielfalt. Bolsonaro ist Katholik und sucht den Schulterschluss mit den ultrakonservativen und fundamentalistischen Katholiken ebenso wie mit den weißen, reichen und sich in Elitepositionen befindenden Evangelikalen, die sowohl mediale als auch finanzielle Macht über ihre Gläubigen ausüben können. Ich denke, dass vor diesem konservativen und extremistischen Hintergrund unser Einsatz um die narrative Hoheit in der Berichterstattung von besonderer Bedeutung ist. Als die Leute das im zweiten Wahlgang 2018 erkannten, schafften wir es 40 Prozent der Evangelikalen auf die Seite von Haddad (Kandidat der Arbeiterpartei PT, Anm.d.Red.) zu ziehen. Auch wenn es schon zu spät war, um diesen Kampf zu Ende zu führen, war dies vor allem die Leistung der progressiven Evangelikalen. Es war ein Affront gegen die konservative Mehrheit, die den biblischen Diskurs missbraucht hat um Gewalt und Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu schüren. Deshalb ist es für uns so wichtig, um dieses politische Feld zu ringen und eine alternative politische Sichtweise aufrechtzuerhalten.

Angehörige Ihrer Partei sehen sich Morddrohungen und öffentlicher Diffamierung durch Fake News ausgesetzt. Jean Wyllys verließ das Land. Wie schätzen Sie Ihre eigene Situation und die anderer Abgeordneter Ihrer Partei im Bundesstaat Rio de Janeiro aktuell ein?
Angesichts des Exils von Jean Wyllys, der Morddrohungen gegen Abgeordnete und Aktivisten und den Auftragsmorden, wie dem an Marielle Franco, kann man festhalten, dass es heutzutage in Brasilien eine riskante Angelegenheit ist, linker Parlamentarier zu sein oder als Verfechter des säkularen Staates, für kulturelle Vielfalt, für Frauenrechte oder gegen Rassismus aufzutreten. Als Parlamentarier wirst du zwangsläufig zur Zielscheibe, wie im Fall von Jean Wyllys durch die Verbreitung von Fake News. Das Problem ist nicht der bloße Angriff auf die Person, sondern vor allem, dass sich diese Form der falschen Berichterstattung in erster Linie an den einfachen Bürger richtet, der sich dem Gefühl der Ablehnung und des Hasses hingibt. Es muss nicht zwangsläufig sein, dass dieser Bürger einen Hinterhalt plant, um jemanden umzubringen, aber er kann es sein, der dich plötzlich an der Bushaltestelle, in der Metro oder in einem Laden angreift. Es ist also jemand, der zum Täter wird, weil er von einem Hassdiskurs beeinflusst wurde. Es ist nicht nur die Figur von Bolsonaro selbst, sondern das was dieser Diskurs in einem Teil der brasilianischen Bevölkerung angerichtet hat. Er richtet sich gegen Frauen, linke Politiker und Menschenrechtsverteidiger. Es sind die einfachen Leute, die sich mit Hass aufladen und die dazu in der Lage sind physisch oder verbal eine barbarische Gewalttat gegen jemanden auszuüben der neben ihnen auf der Straße läuft.

Was schlagen Sie vor, wie am besten mit dem Klima der Angst in der Öffentlichkeit umgegangen werden sollte?
Zunächst ist es wichtig, die Existenz der Angst anzuerkennen. Mein Slogan während des Wahlkampfs war: „Sie haben uns soviel genommen, dass wir die Angst verloren haben.“ Die Angst ist ein wichtiges Gefühl, um uns aufrechtzuhalten, zu schützen und auf uns aufzupassen. Aber die Angst darf uns nicht so sehr lähmen, dass wir nicht mehr kämpfen, Widerstand leisten oder uns kollektiv organisieren. Es ist wichtig, weiterhin die Stimme zu erheben, uns durch Aktionen sichtbar zu machen und so lange wie möglich Auffangnetzwerke aufrechtzuerhalten.
Welche Bedeutung hat der Funk für die Schwarze Bevölkerung in den Favelas?
Der Funk ist ein kulturelles und soziales Ausdrucksmittel, er dient der Verarbeitung von Erfahrungen, ist Abbild der Lebensformen der Schwarzen Bevölkerung in den Favelas. Er ist die Befreiung von der alltäglichen Unterdrückung. Funk, Samba, Jazz und Bossa Nova sind Ausdrucksweisen der Seele der Négritude (anti-kolonialer Kulturbegriff für Schwarze Kultur, Anm.d.Red.). Diese musikalischen Ausdrucksformen kommen aus der verletzlichsten Bevölkerungsschicht der Favela: der Jugend. Indem sie Funk schreiben, singen und tanzen, werden die Jugendlichen zu Protagonisten unserer Geschichte. Ich war selbst in der Funk-Szene engagiert und weiß um seine emanzipatorische Kraft.

Der Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco, deren Beraterin Sie waren, ist nun 20 Monate her. Sie ist zur Ikone des Schwarzen und feministischen Widerstands in den Favelas geworden. Was hat ihr Tod in den Favelas bewirkt?
Durch ihren Tod hat die Bevölkerung der Favelas verstanden, dass Körper, wie der ihre, leichtfertig weggeworfene Leben sind. Er offenbarte, dass der brasilianische Staat rassistisch ist. Ihr Tod bewirkte ein verstärktes Bewusstsein für feministische Kämpfe. Er brachte die Gewissheit, dass ihre Hinrichtung eine Botschaft an die Schwarzen Frauen darstellte und dass die Notwendigkeit besteht, trotz der andauernden Angriffe des Staates auf die Favelas von Rio de Janeiro, weiterhin Widerstand zu leisten. Gegen immer absurdere Formen der Gewalt antwortet die Favela mit Vernetzung, der Produktion von Kultur und Kräften, die soziale Antworten bereit halten.

 

ERST EINMAL DAVONGEKOMMEN

#Elenao – “Er nicht” Hunderttausende demonstrierten gegen Bolsonaro (Foto: Mídia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

„Ich bin für Folter, das weißt du” und „der einzige Fehler der Diktatur war, dass sie gefoltert und nicht getötet hat” – es sind öffentliche Aussagen wie diese, die es so unfassbar machen, dass fast fünfzig Prozent der brasilianischen Wähler*innen in Jair Bolsonaro den nächsten Präsidenten Brasiliens sehen. Als das brasilianische Parlament am 17. April 2016 über die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff abstimmte, widmete Bolsonaro sein Votum dem Andenken von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra. Ustra leitete die militärische Einrichtung, in der während der Militärdiktatur zwischen 1970 und 1974 politische Gefangene gefoltert wurden, unter ihnen auch Dilma Rousseff.

Bolsonaro macht immer wieder deutlich, dass er ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist

Dass Bolsonaro als Hauptmann der Reserve ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist, hat er immer wieder deutlich gemacht. „Er ist ein nationaler Held”, sagte er neun Wochen vor der Wahl in einem Interview über Ustra. Und weiter: „Warum greifen die uns an? Weil wir von den Streitkräften das letzte Hindernis für den Sozialismus sind.” Nach dem Attentat auf ihn am 6. September bekräftigte er: „Als Präsident werde ich mehr Militär auf die Straßen schicken. Wer dagegen ist, soll mir sagen, wie wir die Probleme lösen, ohne zu schießen.” Sein offizieller Vizepräsident ist folgerichtig ein General: Der 65-jährige Antônio Hamilton Martins Mourão gehört zur Reserve des Heeres.

Doch es sind nicht nur diese Äußerungen von Bolsonaro und auch seinem Vize, die demokratischen Kräften und sozialen Bewegungen Anlass zu äußerster Besorgnis geben. Beide vertreten eine sexistische, rassistische und homophobe Agenda in einem selbst in Brasilien seltenen Ausmaß. Bolsonaro teilte einer Kollegin im Kongress vor laufenden Kameras mehrfach mit: „Sie verdienen es nicht vergewaltigt zu werden!” Später erklärte er: „Sie ist zu hässlich.”. Er hält es für gerecht, wenn Frauen weniger verdienen, weil „sie schwanger werden”. Seit 2016 ist er evangelikaler Christ und grundsätzlich gegen Abtreibung.

Kandidat und Vize machten öffentlich ihre Ablehnung der Menschenrechte von afrobrasilianischen und indigenen Brasilianer*innen überdeutlich – gepaart mit der Ankündigung, dass unter einem Präsidenten Bolsonaro in indigenen Territorien „kein weiterer Zentimeter zusätzlich demarkiert” werde.

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte. Als „Frauen geeint gegen Bolsonaro“ erreichte eine geschlossene Facebookgruppe innerhalb weniger Tage die Millionengrenze. Kurz vor dem ersten Wahlgang waren es fast vier Millionen.

Am 29. September mobilisierte die Frauenbewegung Hunderttausende in 114 Städten zu öffentlichen Demonstrationen gegen Bolsonaro. Sie erreichte eine breite Allianz von feministischen, indigenen, afrobrasilianischen, gewerkschaftlichen, queeren und anderen Bewegungen, die dem Protest von der Anzahl der Teilnehmer*innen und der Vielfalt der Agenda eine historische Dimension gab.

Das „Phänomen Bolsonaro” wird oft mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump verglichen. Wie diesem gelingt es ihm, sich als „neu und unverbraucht”, als „anti-systemisch” und „gegen Korruption” zu inszenieren, was umso erstaunlicher ist, weil er auf eine lange parlamentarische Karriere zurückblicken kann. Allein 27 Jahre ist er Abgeordneter im Kongress, allerdings für neun verschiedene Parteien. Die längste Zeit, von 2005 bis 2016, war er Abgeordneter der rechtskonservativen PP, deren Mitglieder von allen Parteien am stärksten in den Lava-Jato-Korruptionsskandal (s. LN 513) verwickelt sind. In einem Interview hat Bolsonaro zugegeben, selbst über die PP Zahlungen des Nahrungsmittelkonzerns Friboi erhalten zu haben.

In einem zentralen Punkt unterscheidet er sich allerdings vom Trump: Er kokettiert im Gegensatz zum selbst ernannten „Dealmaker” mit seinen fehlenden ökonomischen Kenntnissen und Erfahrungen. Wenn Journalisten nach seinem Wirtschaftsprogramm fragen, verweist er nur auf seinen zukünftigen „Superminister“: Paulo Guedes. Der hat 1979 an der Universität Chicago in Ökonomie promoviert, unter Brasiliens Wirtschaftswissenschaftlern ist der „Chicago Boy“ eher ein Außenseiter. Als Investmentbanker wurde er zum Millionär und gründete eine Privatuniversität. In zahlreichen Artikeln kritisiert er immer wieder die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Im Kabinett von Bolsonaro hätte er ausreichend Möglichkeiten, es anders zu machen, denn dieser will ihm das Finanz-, Wirtschafts-, Planungsministerium ebenso unterstellen wie das Ministerium für Privatisierungen.

Bolsonaro plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe sowie das Renten- und Bildungssystem zu privatisieren

Letzteres würde Guedes besonders gern besetzen. Als radikaler Neoliberaler will er die Politik weitestgehend aus allen gesellschaftliche Bereichen heraushalten. Er plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe zu privatisieren, um die Staatsschulden zu begleichen. Außerdem will er das bestehende Renten- und Bildungssystem privatisieren und eine Einheitssteuer einführen, die für eine Hausangestellte mit einem Mindestlohn von rund 280 Euro ebenso gilt, wie für einen Multimillionär. Da Guedes über keinerlei Regierungserfahrung verfügt und noch nie in der Position war, unbeliebte Reformen gegen mächtige Interessensgruppen durchzusetzen, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass er mit seinem Programm Erfolg hätte.

Bisher steht die brasilianische Wirtschaft dem Kandidaten Bolsonaro positiv gegenüber, vor allem der agro-industrielle Sektor, der im Parlament die stärkste informelle „Fraktion” mit den meisten Abgeordneten bildet. LN-Autor Thomas Fatheuer bereiste während des Wahlkampfs mit dem Bus die 1.700 Kilometer lange Bundesstraße zwischen Cuiabá und Santarém, eine Amazonasregion, die besonders von der Agro-Industrie (Soja und Rinder) geprägt ist: „Auf den gesamten 1.700 Kilometern habe ich, ohne jede Übertreibung, nur Wahlwerbung von einem einzigen Kandidaten gesehen: Bolsonaro. Teile des Landesinneren unter der Ägide des Agrobusiness haben sich total diesem Kandidaten zugewandt, der auch von diesen Kräften unterstützt wird”, berichtete er im Interview mit Radio Dreyeckland. Als sich Anfang Oktober die Meinungsumfragen zugunsten von Bolsonaro stabilisierten, wurde die Landeswährung Real gegenüber dem US-Dollar deutlich aufgewertet und an der Börse stiegen die Aktienkurse explosionsartig.

Wut und Angst seien die bestimmenden Emotionen dieses Wahlkampfs gewesen, ist die einhellige Einschätzung. Dies trifft ebenso auf die Anhänger*innen Bolsonaros zu wie auf seine Gegner*innen. Die Dämonisierung der Arbeiterpartei PT als Wegbereiterin des „Sozialismus”, die aus Brasilien ein „zweites Kuba” machen wolle, ist bereits seit mehreren Jahren verbreitet.

Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich ihrer Privilegien beraubt sehen.

Verschwörungsideologische Befürchtungen vor einer „Genderdiktatur“ an den Schulen, trugen zu den Angstszenarien bei. Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich durch die Forderung nach gleichen Rechten für alle und ihrer politischen Umsetzung, z.B. durch Quoten an Universitäten, ihrer Privilegien beraubt sehen. Die juristische Verfolgung der zahlreichen Korruptionsskandale, die zur Verhaftung von führenden Politiker*innen fast aller Parteien führte, hat das Ausmaß an Korruption zumindest teilweise öffentlich gemacht. Für viele Wähler*innen hat dies die gesamte politische Klasse des Landes diskreditiert. Bolsonaro konnte sich mit seinen provokanten Aussagen und Regelverstößen von der „politischen Elite” medial erfolgreich abgrenzen – eine Parallele zum US-amerikanischen Präsidenten Trump.

Fernando Haddad, der zunächst nur als Vizepräsident unter Präsidentschaftskandidat Lula von der PT nominiert worden war, wurde von Lula selbst als Kandidat ausgewählt. Als ehemaliger Bürgermeister von São Paulo, mit Abschluss als Jurist und Ökonom sowie einem Doktor in Philosophie, vertritt Haddad einen ganz anderen Typ von PT-Politiker als der ehemalige Metallgewerkschafter Lula. In der größten Stadt Brasiliens war er als Bürgermeister durchaus erfolgreich, auch haushaltstechnisch. Auf der anderen Seite konnte er seine moderne Stadtpolitik selbst unter PT-Wähler*innen nur schwer vermitteln, gerade der Ausbau von Busspuren und Fahrradwegen rief große lokale Widerstände hervor.

Erst in allerletzter Minute hatte die PT die formale Kandidatur von Lula – der in den Umfragen auch aus dem Gefängnis heraus immer mit mehr als 40 Prozent führte – durch Haddad ersetzt. Dieser hatte dadurch weniger Zeit für seine persönliche Kampagne, konnte jedoch die Anzahl seiner Wählerstimmen in weniger als vier Wochen von 9 auf 29,3 Prozent steigern.
Selbst wenn das schlimmste anzunehmende Szenario für die demokratischen Kräfte und sozialen Bewegungen in Brasilien – ein Wahlsieg von Jair Bolsonaro im ersten Wahlgang – nicht eingetreten ist, sind die Ergebnisse mehr als besorgniserregend. Mit 46 Prozent der Stimmen hat Bolsonaro einen Vorsprung von nahezu 17 Prozentpunkten gegenüber Haddad. Meinungsforschungsinstitute sagten zudem voraus, dass es für Haddad deutlich schwieriger werden würde, im zweiten Wahlgang gegen Bolsonaro zu gewinnen. Andere Kandidaten, wie Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT (12,5 Prozent) oder Geraldo Alckmin von der rechtsliberalen PSDB (4,8 Prozent), sind für das bürgerlich-konservative Spektrum wählbarer als der PT-Kandidat. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Haddad alle Wähler*innen von Ciro Gomes und weitere Stimmen gewinnen sollte, ist der Vorsprung von Bolsonaro groß. Es scheint, als sei ein rechtsextremer Präsident in Brasilien nicht mehr aufzuhalten.

Newsletter abonnieren