“Abgetrieben wird immer und überall”

Errungenschaft der feministischen Bewegungen Seit dem Gerichtsurteil im August gibt es in Mexiko ein Recht auf Abtreibung (Foto: Gabriela Sanabria)

Viele Medien berichteten hierzulande im August über die Entscheidung der mexikanischen Justiz für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Wurde diese Entscheidung denn nicht schon früher gefällt?
Ja und nein. Es gab bereits ein historisches Urteil des obersten Gerichtshofs am 7. September 2021, das Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisierte. Das bedeutet, dass seither jede Frau auf mexikanischem Territorium abtreiben darf und kein Staatsanwalt gegen sie ermitteln kann. Jetzt, nach zwei Jahren, wurde diese Erklärung erneuert, was viel Aufmerksamkeit geschaffen hat. Denn obwohl das Bundesrecht über Landesrecht steht, blieb der Straftatbestand in den meisten Landesverfassungen bestehen. Das erste Urteil war nicht bindend und musste nicht umgehend umgesetzt werden, das neue schon. Für mich ist das nicht der eigentliche Sieg, denn im Prinzip waren wir schon so weit. Was wir nun gewonnen haben, ist die Sichtbarkeit. Nun müssen wir den Staat dazu bringen, dieses Recht auch umzusetzen.
Aktuell haben wir zusammen mit dem Netzwerk für reproduktive Gesundheit in Chiapas eine Verfassungswidrigkeitsklage gegen den chiapanekischen Staat eingereicht. Unser Ziel ist es, den Begriff „Delikt“ in Bezug auf Abtreibungen zu streichen – außer natürlich im Falle einer Abtreibung gegen den Willen der schwangeren Person. Ganz zu Schweigen von den Zwangssterilisationen indigener Frauen durch staatliche Gesundheitseinrichtungen, die es hier ja auch gibt. Das Landesgericht von Chiapas hat die Klage abgelehnt, nun machen wir auf Bundesebene weiter.

Lässt sich die mexikanische Gesetzgebung zu Abtreibung mit der deutschen vergleichen?
Bei euch ist es restriktiver, denn es ist nur straffrei. Das heißt ein Abbruch steht grundsätzlich unter Strafe und nur unter bestimmten Bedingungen ist die abtreibende Person von der Strafe befreit. Bis vor kurzem gab es in Deutschland ja sogar das sogenannte Werbungsverbot. An dieser Stelle: Glückwunsch an die Genoss*innen, die die Kampagne zu dessen Streichung organisiert haben! Außerdem darf bei euch eine Abtreibung nur nach einer offiziellen Beratung und durch anerkannte Gesundheitsdienstleister*innen durchgeführt werden. Das ist in Mexiko anders. Wir folgen hier den Vorgaben der WHO. Diese besagen, dass es jeder Person – also nicht nur medizinischem Personal – erlaubt ist, Abtreibungsprozesse zu begleiten, wenn sie die nötigen Fähigkeiten und Fortbildungen vorweisen kann. Absaugen oder Ausschabung muss natürlich von ausgebildetem medizinischem Personal durchgeführt werden. Eine medikamentöse Behandlung jedoch kann auch ambulant stattfinden. Dabei wird von der WHO die Verwendung von Misoprostol oder einer Kombination der Wirkstoffe Mifepriston und Misoprostol empfohlen. Die WHO erklärte, dass sich seit der Pandemie viel mehr Frauen für eine Abtreibung zu Hause entscheiden und dass dies eine sichere Vorgehensweise sei. Das können wir bestätigen. Seit 16 Jahren arbeiten wir in Mexiko mit diesen Medikamenten und es gab nicht einen Todesfall.
Unser Ziel ist es, diese Informationen für alle frei zugänglich zu machen. Wir müssen sie jedoch bis in die Dörfer und Familien bringen, um zu verhindern, dass Frauen mit unsicheren Mitteln und Werkzeugen abtreiben. Denn wie wir wissen: Abgetrieben wird immer und überall unabhängig von Gesetzen, sogar die Zahlen sind relativ konstant. Die Wahl der Mittel ist entscheidend.
Mit dem neuen Urteil sind alle staatlichen Gesundheitseinrichtungen gezwungen, diese Leistung auch zu erbringen. Abtreibung ist somit ein Recht, das ich als erwachsene, sexuell aktive Frau oder Person, die schwanger werden kann, habe. Genauso wie ich gebären kann, kann ich auch abtreiben. Und das auch zweimal, dreimal, so oft ich will. Sogar der oberste Gerichtshof hat das deutlich gemacht. Abtreibung ist ein Recht der Frauen auf ihre körperliche Autonomie, auf ihre reproduktive Autonomie. Und eben auch auf ihre Gesundheit. Das ist neu und wichtig endlich anzuerkennen: Ein sicher durchgeführter Abbruch ist für einen Körper weniger gesundheitsgefährdend als eine Geburt.

Wie sieht eure Strategie aus, diese Informationen zu verbreiten?
Wir haben seit Jahren über das ganze Land Begleitnetzwerke von Personen geschaffen, die andere bei einer Abtreibung betreuen und die nötigen Medikamente besorgen. Sie haben Fortbildungen besucht und rund um die Uhr ist eine medizinische Fachkraft für sie erreichbar. Wir unterstützen auch Frauen auf der Durchreise und Migrant*innen. Unser aktuelles Projekt in Chiapas ist die Ausbildung von Multiplikator*innen, die die verschiedenen indigenen Sprachen sprechen, mit dem Ziel, dass sie in ihren Regionen weitere Begleiter*innen ausbilden.
Oft bieten die Begleitpersonen auch ihr Zuhause an, damit die betroffenen Personen einen sicheren Ort haben. Denn manchmal ist es in der eigenen Familie unmöglich, die Abtreibung durchzuführen.
In vielen Familien bekommt immer irgendjemand etwas mit, sei es eine spontane oder eine veranlasste Abtreibung. Klassischerweise ist das die Schwiegermutter, da kenne ich einige Fälle. Die sagt dann der Frau: „Du hast nicht das Recht, meinen Enkel zu töten. Du musst mich ausbezahlen für meinen Enkel. Sonst zeige ich dich an.“ Stell dir das mal vor! Das kann natürlich auch der Partner sein, oder sonst wer. Und die Frauen denken bis heute, dass sie dann ins Gefängnis kommen. Man kann Leute für alles Mögliche anzeigen. Aber niemand wird – nach der neuen Gesetzeslage – deswegen ins Gefängnis kommen. Denn es ist seit 2021 in ganz Mexiko untersagt, Ermittlungen wegen Abtreibung aufzunehmen – egal was die Landesverfassung des jeweiligen Bundesstaates sagt.

Unterstützt ihr auch über die Abbrüche hinaus?
Die Begleitnetzwerke unterstützen auch Betroffene sexualisierter Gewalt. Wollen sie im Krankenhaus abtreiben, müssen sie eine Anzeige aufgeben. Abgesehen von Mexiko-Stadt, war dies für lange Zeit der einzige Weg, um legal abzutreiben. Doch bis heute ist eine Abtreibung aus diesem Grund ein sehr langer Prozess. Manche wollen das nicht durchmachen, befürchten erneut viktimisiert oder gar kriminalisiert zu werden. Andere wollen, dass erst mal niemand von alledem erfährt. Das ist ihr gutes Recht! Die Begleiter*innen informieren sie über die verschiedenen Optionen, über private und staatliche Kliniken, Medikamente, etc. All das ist eine komplexe Arbeit und bedarf einer feministischen Perspektive!
Daher sind unsere Unterstützungsnetzwerke so wichtig. Sie informieren und geben Sicherheit, damit die Personen in Ruhe entscheiden können und nicht unter Druck gesetzt werden von ihren Familien, Partnern oder gar dem Staat und konservativem oder rassistischem Krankenhauspersonal.

Was passiert mit den Personen, die in der Vergangenheit wegen eines illegalisierten Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden?
Den Daten zufolge, die wir von anderen Organisationen haben, sollte sich aktuell keine Frau wegen dem Delikt der Abtreibung mehr in Haft befinden. Dennoch gibt es in Mexiko den – zugegebenermaßen uneindeutigen – Tatbestand des „Totschlags aus Gründen der Verwandtschaft“. Somit gibt es Frauen, die nicht wegen eines Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden, sondern wegen Mordes. Da ist das Strafmaß wesentlich gravierender. Diese Frauen müssen wir nun ausfindig machen. Man weiß gar nicht, wie viele das sind. In Chiapas wissen wir mindestens von einer Frau und es wird aktuell daran gearbeitet, dass sie freigesprochen wird.
Gleiches gilt auch für Fehl- oder Frühgeburten, auch die galten oft als Mord. Hier in Chiapas werden diese Prozesse gegenüber indigenen Personen geführt, ohne soziale Realitäten und feministische Perspektiven einzubeziehen. Es gibt nicht mal Übersetzung. Viele Frauen sprechen nur Tseltal oder andere Sprachen. Das ist ein Verbrechen, das der Staat hier gegenüber diesen Frauen begeht. Gleiches wissen wir aus vielen anderen Bundesstaaten.

Was sind eure weiteren Schritte und welche Erkenntnisse ziehst du aus den letzten Entwicklungen?
Meiner Meinung nach hätten wir schon vor zwei Jahren mit einer großen Kampagne starten sollen, um Frauen und Personen, die gebären können, darüber aufzuklären, dass sie nicht mehr kriminalisiert werden können. Darüber hinaus müssen wir dringend die gesellschaftliche Stigmatisierung des Themas angehen. Denn auch heute gilt: Legalisierung hin oder her, wie kann eine schwangere Person in den beschriebenen Kontexten unserer Gesellschaft eine freie Entscheidung treffen?
Aber ich finde, dass wir mit den Netzwerken zur Begleitung bei Schwangerschaftsabbrüchen einen wichtigen Zug gemacht haben. In all den Ländern, in denen die Rechte nun eingeschränkt wurden, wie in den USA oder in einigen europäischen Ländern und Kriminalisierung zunimmt, wie in Zentralamerika, zeigt sich, wie wichtig unabhängige Organisierung ist. Zwischen Frauen und Personen, die gebären können, damit wir uns gegenseitig begleiten und sichere Abtreibungen ohne Diskriminierung gewährleisten können. Das hat uns gestärkt und das kann uns kein Gesetz der Welt nehmen. Das wäre auch in anderen Ländern anwendbar. Unabhängig von Staat und Gesetz: Einfach anfangen und die Kontrolle über unsere Körper in die eigene Hand nehmen. Gerne geben wir unsere Erfahrung weiter!


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“FRAUENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE”

Die Nachrichten, die uns aus Mexiko erreichen, drehen sich um Verschwundene, um Femizide und den Drogenhandel. Wie ist es, in einem solchen Klima zu arbeiten?
Es gibt kein anderes Gegengewicht zur Regierung als die Zivilgesellschaft und diese ist akut bedroht. Korruption und Straflosigkeit betreffen auch das Gesundheitssystem. In manchen Dörfern gehen die Medikamente aus, weil sie geklaut werden. Es ist wichtig zu zeigen, dass Korruption und Straflosigkeit die tödliche Mischung in allen Bereichen ist. Am meisten leiden darunter die Frauen, die, weit entfernt von den Städten, kaum finanzielle Mittel haben. Es ist schwierig zu arbeiten, während das Land in Stücke zerfällt. Wir kooperieren viel mit Menschenrechtsorganisationen. Zum Beispiel machen wir jetzt ein Projekt zum Thema Straflosigkeit, das zeigen soll, dass es egal ist, an welchem Thema du arbeitest. Ob es um Migration, Mord, Verschwindenlassen oder Abtreibung geht – die Mechanismen der Straflosigkeit sind die gleichen.

Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
GIRE hat einen Bereich für Rechtsstreitigkeiten eröffnet. Wir nehmen Fälle an, begleiten, dokumentieren sie und führen Gerichtsprozesse. Dadurch sind wir in engem Kontakt mit den Frauen. Die Fälle sind fast nie in Mexiko-Stadt, sodass wir viel durch das ganze Land reisen. Wenn es einen Fall gibt, betreuen wir ihn. Ein Grund einen Fall nicht anzunehmen wäre höchstens, wenn die Frau genug Geld hat, selbst einen Anwalt zu bezahlen. Schwierig ist auch, wenn die Taten sehr lange zurückliegen, dann kann man rechtlich oft nichts mehr machen. Auch kämpfen wir für Gesetzesänderungen im Kongress und organisieren Kampagnen, denn der öffentliche Druck hilft bei der rechtlichen Aufarbeitung schon sehr. Wir machen öffentlich, dass es um Muster, nicht um Einzelfälle geht. Der klassische Fall ist der der indigenen, armen Frau, die stirbt, schlecht behandelt oder der die Abtreibung verweigert wird.

Wie können diese Missstände behoben werden?
Ein wichtiger Schritt ist, dass während der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung über Gewalt gesprochen wird. Die Frauen und die Ärzte sollen wissen, dass es nicht normal ist, dass Frauen der Zugang zu Kliniken verwehrt wird, sie mit niemandem in ihrer Sprache sprechen können. Viele erleiden schreckliche Grausamkeiten, von Überdosierung von Medikamenten, Demütigung, Schläge. Und das in einem Moment größter körperlicher und psychischer Verwundbarkeit. Es muss öffentlich gemacht werden, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist die schlimmste Art von Machismus, weil sich die Frau in diesem Moment nicht verteidigen kann.

Was verbindet die meisten Fälle, die Sie begleiten?
In fast allen Fällen geht es um Vergewaltigung. Manchmal sind es junge Mädchen, die von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt wurden und schwanger sind. Sie bitten um legale Abtreibung. Wir übernehmen ihre Verteidigung, verklagen die örtliche Verwaltung wegen Vorenthaltung medizinischer Grundversorgung. Wir haben Klagen gegen Bundesstaaten eingereicht. Diese Fälle haben wir nicht gewonnen. Die Richter sagen, dass die Frau die Schwangerschaft fortsetzen müsse, um den Fall zu gewinnen. Immerhin haben wir erreicht, dass Frauen ihren Vergewaltiger – manchmal den eigenen Vater – nicht mehr anzeigen müssen und Minderjährige nicht mehr das Einverständnis ihrer Eltern benötigen, um abtreiben zu dürfen. Die politische Rechte hat Einspruch eingelegt, die Entscheidung liegt jetzt beim Obersten Gericht. Das Schlimme ist, dass so viele Mädchen dazu gezwungen werden, sehr jung Mütter zu werden, das Risiko einer frühen Geburt zu tragen und die Schule abzubrechen.

Warum stellt sich die Politik so gegen die Legalisierung von Abtreibung?
Ich glaube, es ist ideologisch motiviert. Viele können nicht tolerieren, dass eine Frau nicht Mutter sein will. Es gibt diese Wahrnehmung, dass die Mutterschaft ein Geschenk Gottes ist, über das man sich freuen muss. Es gibt viel Druck von Seiten verschiedener Kirchen und Konservativer, die glauben, dass du das Leben ab Empfängnis respektieren musst. Der politische Wille von oben fehlt, zu sagen, dass Mexiko ein laizistischer Staat ist und es die Option geben muss, auf legale und sichere Weise abzutreiben.

Haben Sie schon konkrete Angriffe auf Ihre Organisation erlebt?
Unsere Internetseite wurde angegriffen, wir haben Briefe bekommen, dass wir Kindermörder*innen seien, solche Sachen, aber mehr zum Glück noch nicht. Schwierig ist, dass die Frauen, die wir verteidigen, manchmal bedroht werden. Ich weiß nicht, wie ihre Identität bekannt wird, wahrscheinlich durch die lokalen Behörden selbst. Jemand bietet ihnen Geld an für ein Video, in dem sie behaupten sollen, dass GIRE sie gezwungen habe abzutreiben. Das ist besorgniserregend. Deshalb müssen wir sehr eng mit den Familien zusammenarbeiten, Vertrauen aufbauen. Wir haben auch ein Sicherheitsprotokoll für alles. Zum Beispiel reisen wir nicht mehr nach Michoacán, Tamaulipas und Sinaloa. Es ist schrecklich, einer Frau zu sagen, dass wir sie nicht begleiten können. Wir suchen dann nach anderen Wegen, um ihnen in ihren Bundesstaaten zu helfen.

Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation ein?
Ich bin besorgt darüber, was im nächsten Jahr bei den Wahlen passieren wird. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.) ist absolut korrupt. Andrés Manuel López Obrador von Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung, Anm. d. Red.) ist auch nicht unser Freund. Zwar will niemand die PRI. Aber die Alternative ist für Frauen auch nicht überzeugend. Neulich wurde López Obrador in einem Interview gefragt, ob er Feminist sei und hat geantwortet, dass die Frauen „den Himmel verdienen“. Es ist traurig.

Was müsste passieren, damit sich die Situation für die Frauen verbessert?
Legalisierung von Abtreibung. Gute medizinische Versorgung. Die Möglichkeit, Armut nicht dein Leben bestimmen zu lassen. Vor allem die Entnormalisierung von Gewalt gegen Frauen. Nicht mehr ständig in der Defensive sein zu müssen, alltägliche Entscheidungen frei von Angst treffen zu können. Es ist im internationalen Kontext wichtig, Solidarität zu zeigen. Das gibt den Organisationen in Mexiko Kraft. Ein Gegengewicht zur offiziellen Version muss her. Für uns war dieser Preis sehr wichtig. Normalerweise bekommt das Thema Frauenrechte nicht viel Aufmerksamkeit.

 


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