Aktuell | Mexiko | Nummer 593 - November 2023

“Abgetrieben wird immer und überall”

Ein neues Recht auf Abtreibung muss in Mexiko nun vor allem in ländlichen Regionen bekannter gemacht werden

Der oberste Gerichtshof in Mexiko hat im August für ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche entschieden, das landesweit gelten und den Flickenteppich von bundesstaatlichen Regelungen ablösen soll. Ein Abbruch ist nun nicht nur straffrei, wie etwa in Deutschland, sondern gilt künftig als Recht auf Gesundheitsversorgung aller schwangeren Menschen. Eigentlich gar nicht so neu in Mexiko, dennoch eine wichtige Errungenschaft feministischer Bewegungen, wie Bárbara Pérez Roldán erklärt. Sie ist Mitglied des Kollektivs Red Aborta Libre Chiapas (Netzwerk für freie Schwangerschaftsabbrüche Chiapas). Mit LN spricht sie über die Hürden im Kampf um sichere Abtreibungen, die weiterhin zu überwinden sind.

Interview: Anne Haas
Errungenschaft der feministischen Bewegungen Seit dem Gerichtsurteil im August gibt es in Mexiko ein Recht auf Abtreibung (Foto: Gabriela Sanabria)

Viele Medien berichteten hierzulande im August über die Entscheidung der mexikanischen Justiz für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Wurde diese Entscheidung denn nicht schon früher gefällt?
Ja und nein. Es gab bereits ein historisches Urteil des obersten Gerichtshofs am 7. September 2021, das Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisierte. Das bedeutet, dass seither jede Frau auf mexikanischem Territorium abtreiben darf und kein Staatsanwalt gegen sie ermitteln kann. Jetzt, nach zwei Jahren, wurde diese Erklärung erneuert, was viel Aufmerksamkeit geschaffen hat. Denn obwohl das Bundesrecht über Landesrecht steht, blieb der Straftatbestand in den meisten Landesverfassungen bestehen. Das erste Urteil war nicht bindend und musste nicht umgehend umgesetzt werden, das neue schon. Für mich ist das nicht der eigentliche Sieg, denn im Prinzip waren wir schon so weit. Was wir nun gewonnen haben, ist die Sichtbarkeit. Nun müssen wir den Staat dazu bringen, dieses Recht auch umzusetzen.
Aktuell haben wir zusammen mit dem Netzwerk für reproduktive Gesundheit in Chiapas eine Verfassungswidrigkeitsklage gegen den chiapanekischen Staat eingereicht. Unser Ziel ist es, den Begriff „Delikt“ in Bezug auf Abtreibungen zu streichen – außer natürlich im Falle einer Abtreibung gegen den Willen der schwangeren Person. Ganz zu Schweigen von den Zwangssterilisationen indigener Frauen durch staatliche Gesundheitseinrichtungen, die es hier ja auch gibt. Das Landesgericht von Chiapas hat die Klage abgelehnt, nun machen wir auf Bundesebene weiter.

Lässt sich die mexikanische Gesetzgebung zu Abtreibung mit der deutschen vergleichen?
Bei euch ist es restriktiver, denn es ist nur straffrei. Das heißt ein Abbruch steht grundsätzlich unter Strafe und nur unter bestimmten Bedingungen ist die abtreibende Person von der Strafe befreit. Bis vor kurzem gab es in Deutschland ja sogar das sogenannte Werbungsverbot. An dieser Stelle: Glückwunsch an die Genoss*innen, die die Kampagne zu dessen Streichung organisiert haben! Außerdem darf bei euch eine Abtreibung nur nach einer offiziellen Beratung und durch anerkannte Gesundheitsdienstleister*innen durchgeführt werden. Das ist in Mexiko anders. Wir folgen hier den Vorgaben der WHO. Diese besagen, dass es jeder Person – also nicht nur medizinischem Personal – erlaubt ist, Abtreibungsprozesse zu begleiten, wenn sie die nötigen Fähigkeiten und Fortbildungen vorweisen kann. Absaugen oder Ausschabung muss natürlich von ausgebildetem medizinischem Personal durchgeführt werden. Eine medikamentöse Behandlung jedoch kann auch ambulant stattfinden. Dabei wird von der WHO die Verwendung von Misoprostol oder einer Kombination der Wirkstoffe Mifepriston und Misoprostol empfohlen. Die WHO erklärte, dass sich seit der Pandemie viel mehr Frauen für eine Abtreibung zu Hause entscheiden und dass dies eine sichere Vorgehensweise sei. Das können wir bestätigen. Seit 16 Jahren arbeiten wir in Mexiko mit diesen Medikamenten und es gab nicht einen Todesfall.
Unser Ziel ist es, diese Informationen für alle frei zugänglich zu machen. Wir müssen sie jedoch bis in die Dörfer und Familien bringen, um zu verhindern, dass Frauen mit unsicheren Mitteln und Werkzeugen abtreiben. Denn wie wir wissen: Abgetrieben wird immer und überall unabhängig von Gesetzen, sogar die Zahlen sind relativ konstant. Die Wahl der Mittel ist entscheidend.
Mit dem neuen Urteil sind alle staatlichen Gesundheitseinrichtungen gezwungen, diese Leistung auch zu erbringen. Abtreibung ist somit ein Recht, das ich als erwachsene, sexuell aktive Frau oder Person, die schwanger werden kann, habe. Genauso wie ich gebären kann, kann ich auch abtreiben. Und das auch zweimal, dreimal, so oft ich will. Sogar der oberste Gerichtshof hat das deutlich gemacht. Abtreibung ist ein Recht der Frauen auf ihre körperliche Autonomie, auf ihre reproduktive Autonomie. Und eben auch auf ihre Gesundheit. Das ist neu und wichtig endlich anzuerkennen: Ein sicher durchgeführter Abbruch ist für einen Körper weniger gesundheitsgefährdend als eine Geburt.

Wie sieht eure Strategie aus, diese Informationen zu verbreiten?
Wir haben seit Jahren über das ganze Land Begleitnetzwerke von Personen geschaffen, die andere bei einer Abtreibung betreuen und die nötigen Medikamente besorgen. Sie haben Fortbildungen besucht und rund um die Uhr ist eine medizinische Fachkraft für sie erreichbar. Wir unterstützen auch Frauen auf der Durchreise und Migrant*innen. Unser aktuelles Projekt in Chiapas ist die Ausbildung von Multiplikator*innen, die die verschiedenen indigenen Sprachen sprechen, mit dem Ziel, dass sie in ihren Regionen weitere Begleiter*innen ausbilden.
Oft bieten die Begleitpersonen auch ihr Zuhause an, damit die betroffenen Personen einen sicheren Ort haben. Denn manchmal ist es in der eigenen Familie unmöglich, die Abtreibung durchzuführen.
In vielen Familien bekommt immer irgendjemand etwas mit, sei es eine spontane oder eine veranlasste Abtreibung. Klassischerweise ist das die Schwiegermutter, da kenne ich einige Fälle. Die sagt dann der Frau: „Du hast nicht das Recht, meinen Enkel zu töten. Du musst mich ausbezahlen für meinen Enkel. Sonst zeige ich dich an.“ Stell dir das mal vor! Das kann natürlich auch der Partner sein, oder sonst wer. Und die Frauen denken bis heute, dass sie dann ins Gefängnis kommen. Man kann Leute für alles Mögliche anzeigen. Aber niemand wird – nach der neuen Gesetzeslage – deswegen ins Gefängnis kommen. Denn es ist seit 2021 in ganz Mexiko untersagt, Ermittlungen wegen Abtreibung aufzunehmen – egal was die Landesverfassung des jeweiligen Bundesstaates sagt.

Unterstützt ihr auch über die Abbrüche hinaus?
Die Begleitnetzwerke unterstützen auch Betroffene sexualisierter Gewalt. Wollen sie im Krankenhaus abtreiben, müssen sie eine Anzeige aufgeben. Abgesehen von Mexiko-Stadt, war dies für lange Zeit der einzige Weg, um legal abzutreiben. Doch bis heute ist eine Abtreibung aus diesem Grund ein sehr langer Prozess. Manche wollen das nicht durchmachen, befürchten erneut viktimisiert oder gar kriminalisiert zu werden. Andere wollen, dass erst mal niemand von alledem erfährt. Das ist ihr gutes Recht! Die Begleiter*innen informieren sie über die verschiedenen Optionen, über private und staatliche Kliniken, Medikamente, etc. All das ist eine komplexe Arbeit und bedarf einer feministischen Perspektive!
Daher sind unsere Unterstützungsnetzwerke so wichtig. Sie informieren und geben Sicherheit, damit die Personen in Ruhe entscheiden können und nicht unter Druck gesetzt werden von ihren Familien, Partnern oder gar dem Staat und konservativem oder rassistischem Krankenhauspersonal.

Was passiert mit den Personen, die in der Vergangenheit wegen eines illegalisierten Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden?
Den Daten zufolge, die wir von anderen Organisationen haben, sollte sich aktuell keine Frau wegen dem Delikt der Abtreibung mehr in Haft befinden. Dennoch gibt es in Mexiko den – zugegebenermaßen uneindeutigen – Tatbestand des „Totschlags aus Gründen der Verwandtschaft“. Somit gibt es Frauen, die nicht wegen eines Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden, sondern wegen Mordes. Da ist das Strafmaß wesentlich gravierender. Diese Frauen müssen wir nun ausfindig machen. Man weiß gar nicht, wie viele das sind. In Chiapas wissen wir mindestens von einer Frau und es wird aktuell daran gearbeitet, dass sie freigesprochen wird.
Gleiches gilt auch für Fehl- oder Frühgeburten, auch die galten oft als Mord. Hier in Chiapas werden diese Prozesse gegenüber indigenen Personen geführt, ohne soziale Realitäten und feministische Perspektiven einzubeziehen. Es gibt nicht mal Übersetzung. Viele Frauen sprechen nur Tseltal oder andere Sprachen. Das ist ein Verbrechen, das der Staat hier gegenüber diesen Frauen begeht. Gleiches wissen wir aus vielen anderen Bundesstaaten.

Was sind eure weiteren Schritte und welche Erkenntnisse ziehst du aus den letzten Entwicklungen?
Meiner Meinung nach hätten wir schon vor zwei Jahren mit einer großen Kampagne starten sollen, um Frauen und Personen, die gebären können, darüber aufzuklären, dass sie nicht mehr kriminalisiert werden können. Darüber hinaus müssen wir dringend die gesellschaftliche Stigmatisierung des Themas angehen. Denn auch heute gilt: Legalisierung hin oder her, wie kann eine schwangere Person in den beschriebenen Kontexten unserer Gesellschaft eine freie Entscheidung treffen?
Aber ich finde, dass wir mit den Netzwerken zur Begleitung bei Schwangerschaftsabbrüchen einen wichtigen Zug gemacht haben. In all den Ländern, in denen die Rechte nun eingeschränkt wurden, wie in den USA oder in einigen europäischen Ländern und Kriminalisierung zunimmt, wie in Zentralamerika, zeigt sich, wie wichtig unabhängige Organisierung ist. Zwischen Frauen und Personen, die gebären können, damit wir uns gegenseitig begleiten und sichere Abtreibungen ohne Diskriminierung gewährleisten können. Das hat uns gestärkt und das kann uns kein Gesetz der Welt nehmen. Das wäre auch in anderen Ländern anwendbar. Unabhängig von Staat und Gesetz: Einfach anfangen und die Kontrolle über unsere Körper in die eigene Hand nehmen. Gerne geben wir unsere Erfahrung weiter!

Bárbara Pérez Roldán

ist Mitglied des 18-köpfigen Kollektivs Red Aborta Libre Chiapas. Das Netzwerk arbeitet daran, rechtliche, praktische und gesundheitsrelevante Informationen zum Thema Abtreibung, besonders im ländlichen Raum, nicht nur in indigenen Gemeinden, zugänglich zu machen.

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