AUF SICH ALLEIN GESTELLT

Peky Rubín de Celis ist seit den 1990er-Jahren in der bolivianischen Provinz Tarija feministisch aktiv. Derzeit arbeitet sie als Direktorin von Equipo de Comunicación Alternativa con Mujeres (ECAM) in der gleichnamigen Provinzhauptstadt.  ECAM unterstützt Frauen in der Wahrnehmung ihrer Rechte, leistet politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit und kämpft für die rechtliche und ökonomische Unabhängigkeit der Frauen.
(Foto: privat)


In Bolivien gibt es eine ziemlich strikte Ausgangssperre. Wie wirkt sie sich aus?

Wir haben derzeit nur einen Tag pro Woche, um rauszugehen, je nach Passnummer. Viele Bolivianer, darunter 70 Prozent der Frauen, haben keine feste Arbeit und arbeiten im informellen Sektor. Daher gibt es für viele aktuell keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder sich mit Nahrung zu versorgen.

Können Sie weiterhin in der Frauenrechtsorganisation ECAM aktiv sein?

Leider mussten wir aufgrund der aktuellen Situation unser Büro schließen. Jetzt stimmen wir uns mit der Stadtverwaltung ab, damit sie die Lebensmittelpakete an die bedürftigsten Familien verteilen kann.  Wir sammeln auch Hygieneartikel, Mundschutze, Handschuhe, Desinfektions- und Lebensmittel, insbesondere Milch für die Kinder. Durch unsere Arbeit wissen wir von den besonderen Notlagen.

Die Übergangsregierung unter Jeanine Añez hat Soforthilfen für Familien versprochen. Helfen diese Zuschüsse nicht?

Der bono familia ist ein einmaliger Zuschuss von 500 Bolivianos (ca. 65 Euro, Anm. d. Red.) pro Familie mit Schulkindern. Das löst keine Probleme. Außerdem müssen diese Zuschüsse und die staatlichen Renten in den Banken abgeholt werden. Das bedeutet, dass alte Menschen teils ab den frühen Morgenstunden anstehen müssen, um Geld für das Nötigste zu erhalten, wo man doch eigentlich zuhause bleiben sollte.

Dazu kommt die Kriminalisierung der Armen. Das Militär und die Polizei stehen bewaffnet auf den Straßen, als wäre Revolution. Wir befinden uns aber in einem sanitären Ausnahmezustand. Jeder, der trotz Ausgangssperre arbeitet oder dessen Passnummer ihn nicht zum Hinausgehen berechtigt, wird angehalten und muss eine Strafe von 1.000 Bolivianos bezahlen. Wer nicht zahlt, muss für acht Stunden ins Gefängnis.

Auch sind bei einer Demonstration gegen den Ausnahmezustand im östlichen Departement Beni mehrere Menschen festgenommen und wegen Aufruhrs angeklagt worden. Sie wurden auf dem Luftweg nach La Paz gebracht und befinden sich jetzt in Untersuchungshaft. Anstatt die Armut einer großen Mehrheit der Bevölkerung zu bekämpfen, kriminalisiert man sie und sperrt sie weg.

Abgesehen von den finanziellen Problemen, wie hat sich die Situation von Frauen und Kindern verändert?

Wir haben hier dieselbe Situation wie überall in Lateinamerika, wo es eine Quarantäne gibt. Die Realität, die nicht ignoriert werden kann, ist, dass Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich stattfindet. Die Frauen sind jetzt 24 Stunden täglich mit ihren Männern eingesperrt und haben im schlimmsten Fall kaum zu essen. Diese angespannte Situation wird oft gewalttätig. Die Beschwerden wegen häuslicher Gewalt sind zwar zurückgegangen. Aber nicht, weil die tatsächliche Gewalt abnimmt, sondern weil es wenig Zugang zu Hilfsangeboten gibt. Hier in Tarija gibt es derzeit viele Frauen, die mich anrufen und um Rat für die Situation zuhause bitten und mir von den tätlichen Übergriffen ihrer Ehemänner berichten. Auch beklagen sie, dass die öffentlichen Hilfstelefone nicht besetzt sind.

Wieso funktionieren die öffentlichen Stellen nicht?

Sie haben viel Personal abgebaut. Auch kommt aktuell längst nicht jeder zur Arbeit. Für die wenigen Frauen, die Zugang zu einem Telefon haben und die sich trauen dort anzurufen, ist das sehr schlimm.

Seit Beginn der Quarantäne haben wir vier registrierte Fälle von Frauenmord in Bolivien. Im Jahr 2020 waren es bisher 30. Bolivien steht bei den Feminiziden in Südamerika damit an erster Stelle. Alle drei Tage wird eine Frau ermordet und alle vier Stunden wird in Bolivien eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt. Der Machismo ist auch bei den Behörden so ausgeprägt, dass die Betroffenen nicht selten von Richtern erneut zu Opfern gemacht werden. Das heißt, ihnen wird nicht geglaubt, oder sie werden für die ihnen widerfahrene Gewalt verantwortlich gemacht. Wir haben zwar eine polizeiliche Spezialeinheit zur Bekämpfung solcher Gewalt, die ist allerdings chronisch unterfinanziert. Die Leute dort sind kaum ausgebildet und es gibt keine Ausrüstung, oft nicht einmal zum Fotokopieren von Dokumenten.

Wie steht es um die Kapazitäten in den Krankenhäusern für schwangere Frauen oder für Abtreibungen?

In den Krankenhäusern werden nur noch Notfälle behandelt. Es gibt zudem viele Menschen, die durch den Mangel von Transportmitteln nicht dorthin gelangen können. Abtreibungen durchzuführen war zudem unter normalen Bedingungen schon sehr schwierig und ist nur in Ausnahmefällen, wie nach einer Vergewaltigung, erlaubt.

Was halten Sie von der Verschiebung der Wahl?

Die Verschiebung der Wahlen ist zweifellos richtig. Wir brauchen allerdings so bald wie möglich eine demokratische Regierung, die vom Volk gewählt wird. Auch sind wir sehr besorgt, welche Prioritäten die Übergangsregierung setzt. Präsidentin Añez hat zwar den Kampf gegen Feminizide ausgerufen, aber den evangelikalen Fundamentalisten Víctor Hugo als Bildungsminister eingesetzt. Während der Quarantäne wurden zudem internationale Flüge für reiche Bolivianer aus dem Ausland ermöglicht. Währenddessen wurden 800 bolivianische Saisonarbeiter und deren Familien im chilenischen Colchane nicht über die Grenze zurück ins Land gelassen und als Agenten der Bewegung zum Sozialismus (MAS) (siehe LN 547-550) bezeichnet. Auch hat die Übergangsregierung die Gehälter der Polizei erhöhen lassen und viel Geld in das Militär investiert.

Was müsste stattdessen getan werden?

P: Statt Polizei und Militär aufzurüsten, müssten medizinisch-soziale Brigaden aufgestellt werden. Wir brauchen Ärzte, die in die abgelegenen Gebiete gehen, um die Menschen zu untersuchen. Die Bedürftigen brauchen Medikamente. Daneben bestehen die Probleme des Dengue-Fiebers, der Gewalt und der Unterernährung weiter. Worte und Taten stimmen bei dieser Regierung nicht überein. Selbst die Ärzteschaft, die den Putsch unterstützt hat, kritisiert das und hat sogar mit Streiks gedroht.

 

DIE VERBLIEBENEN

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Die Krise eröffnet neue Möglichkeiten für Reinigungsfirmen Gesundheitsbrigaden in Medellín (Foto: Liberman Arango)

Du musst rausgehen und dich dem Risiko aussetzen, damit du was verdienen kannstsagt der Taxifahrer, während er zur Plaza Minorista fährt, dem größten Markt  Medellíns. Er trägt einen Mundschutz und hat  Desinfektionsmittel zur Hand. Schnell und entspannt fährt er über die leeren Straßen. Es ist Dienstag der 24. März, kurz bevor die von Präsident Iván Duque verordnete 19-tägige Quarantäne in Kraft tritt.

Die Stadt ist noch dieselbe, aber wirkt seltsam durch die allgegenwärtige Verwirrung und Vorsicht jener, die noch unterwegs sind. So seltsam, wie das Gefühl des Öffnens der Gürteltasche oder das Bedienen der Kamera mit von Latexhandschuhen bedeckten Fingern.

Auf dem Minorista-Markt gibt es Sonderangebote und frisches Gemüse; hunderte Menschen drängen sich über den Markt. Einige kaufen für sich selbst ein, andere für ihr gesamtes Viertel. Schwere liegt in der Luft.

Es ist 7 Uhr morgens. Da sind bereits seit drei Stunden Personen auf dem Minorista-Markt. Einige Taxis warten auf der Avenida Ferrocarril auf Kundschaft. Gegenüber tummeln sich Straßenverkäufer*innen mit Mundschutz, bei vielen von ihnen hört man den venezolanischen Akzent.
An diesem Tag steht die Minorista im Zeichen von Sauberkeit und Desinfektion. Am Markteingang sprühen Sicherheitsleute (ohne Handschuhe und Mundschutz) Desinfektionsmittel auf die Hände all jener Marktbesucher*innen, die es nicht schaffen, sich unbemerkt an ihnen  vorbeizuschleichen.

Die aktuelle Krise schlägt sich auch in den Preisen in der Minorista nieder.

Im Markt selbst ist die Firma CleanPRO mit ihren zehn Freiwilligen im Einsatz. Für CleanPRO, die seit zwei Jahren  die Oberflächen, Stühle und Bänke der Minorista reinigen, hat die Gesundheitskrise neue Möglichkeiten eröffnet. Der Markt ist nun einer der Einsatzorte der neu gegründeten Gesundheitsbrigaden. Eigentlich sollte hier auch sonst jeden Tag geputzt und desinfiziert werden, aber dafür reichen die finanziellen Mittel nicht aus. Das Coronavirus hat uns unsere Hygienestandards hinterfragen lassen und uns in einer neuen Art und Weise für Sauberkeit sensibilisiert. Jedes Händewaschen birgt die Hoffnung, den Virus für eine weitere Zeit fernzuhalten. Wer weiß, ob diese Gewohnheiten uns in der neuen Normalität, die wir nach dieser Krise erschaffen, erhalten bleiben werden.

Die CleanPRO-Brigade desinfiziert alle vorstellbaren Berührungs- und Ansteckungspunkte, seien es Geländer, Schubkarren, Körbe oder Taschenrechner. Mit ihren weißen Anzügen rücken die Brigadist*innen vor; wie Figuren aus Star Wars oder Tschernobyl brechen sie mit der täglichen Routine des Einkaufs und jeglicher Illusion, dass dies ein normaler Tag sei. Die Menschen in ihrer Umgebung reagieren alarmiert: Es kann nichts Gutes heißen, wenn eine seltsam verkleidete Gruppe herumläuft und alles besprüht, was ihnen in den Weg kommt.

Aber als über Lautsprecher verkündet wird, dass die Desinfektionssubstanz nicht giftig sei, nutzen einige der Marktbesucher*innen die Gelegenheit für etwas Sauberkeit: „Sprüh mir mal was auf die Hand.”

 

Halten den Laden am Laufen Viele Menschen können sich nicht aussuchen zu Hause zu bleiben (Foto: Liberman Arango)

Die Brigade ist in der Minorista nicht nur wegen ihrer Reinigungsarbeit beliebt. Der Besitzer einer sonst bereits morgens gut gefüllten Kneipe lädt die Freiwilligen in den Schutzanzügen auf eine Limonade ein und hat so für einen Moment Gesellschaft. Auch für die Freiwilligen eine willkommene Pause: Obwohl sie alle recht jung sind, ächzen sie dennoch unter den schweren Tanks auf dem Rücken.

In einer Bäckerei wird auch Mundschutz angeboten. Wer ein Gebäck kauft, soll es mit Abstand zur Theke verzehren. „Ist es hier in Ordnung?” fragt ein Mann aus anderthalb Metern Abstand. „Ja, da ist perfekt”, antwortet der Verkäufer.

Die aktuelle Krise schlägt sich auch in den Preisen in der Minorista nieder. Ein 40.000 Pesos-Einkauf kostet heute bereits 72.000 Pesos, Nudeln und Thunfisch sind Mangelware. Einige Arbeiter*innen, viele von ihnen aus Venezuela, bieten ihre Hilfe beim Tragen der Ware an. Um den Unterhalt für ihre Familien zu verdienen sind sie auf jede nur mögliche Verdienstmöglichkeit angewiesen. Dabei kommen sie nicht umhin, die Hygienevorkehrungen zu missachten.

Keine andere Wahl, als hinauszugehen und weiter zu arbeiten.

Die Warenträger*innen erhalten 2000 oder 3000 Pesos pro Einkauf. Viele von denen, die die Tüten in Schubkarren verladen, sind ältere Menschen. Zu viele alte Menschen für all die Risiken, die sie in einer Situation wie dieser eingehen; aber auch zu viele Gründe, die keine andere Wahl lassen, als hinauszugehen und weiter zu arbeiten.

Auch Kinder und Säuglinge trifft man in der Minorista an. Möglicherweise Kinder von Arbeiter*innen, zum Nichtstun und Warten verdammt.

Am Infopunkt des Marktes werden Essensspenden für Bedürftige entgegengenommen. In diesen Tagen auch für all die, für die es keine Option ist, heute oder die kommenden Tage nicht arbeiten zu gehen. Bevor man an Selbstisolation wegen des Virus denken kann, braucht man Geld für einen Schlafplatz.

Die überfüllte Metro bringt die verbliebenen Arbeiter*innen morgens an ihre Arbeitsorte. Im Rahmen der  Möglichkeiten versucht sich jede*r selbst zu schützen. Die Fahrgäste halten sich nicht an den Stangen fest und bleiben auf Abstand zueinander. Ist das nicht möglich, hofft man, dass die Fahrt bald endet. Niemand hustet oder räuspert sich, es herrscht angespannte Stille.

Am Busterminal von Medellín versuchen unzählige Menschen zwischen Polizist*innen und Fernsehteams am letzten Tag vor der Quarantäne ein Ticket zu ergattern, raus aus der Stadt, in ihre Dörfer. Sie wollen zu ihren Familien oder die Zeit der Quarantäne einfach an einem sichereren Ort verbringen.  „Warum reisen sie heute?” fragt ein Reporter einen Wartenden. „Ich muss nach Hause kommen, hier habe ich keinen Ort, an dem ich bleiben kann und nun auch meine Arbeit verloren.”

Kollektives Mundschutz-Tragen Jede*r versucht sich nach Möglichkeit zu schützen (Foto: Liberman Arango)

Die Hoffnung auf ein Ticket schwindet jedoch schnell. Sicherheitskräfte versperren den Zugang zu den Bussteigen. Es würden heute keine Busse mehr fahren, man habe entsprechende Anweisungen bekommen. „Wer hat die Anweisung gegeben?” „Die”, heißt es wie immer, obwohl niemand ihre Namen kennt. „Die” sind sicher nicht die Sicherheitskräfte, die nun versuchen, der Menge zu erklären, dass sie auch nicht dafür sorgen können, dass heute noch Busse fahren. „Ich muss aber nach Marinilla”, bettelt eine Frau, die auf die 60 zugeht.

„Wisst ihr wessen Schuld das ist?”, sagt eine andere Frau. „Die des Präsidenten. Der hätte die Grenzen früher schließen müssen. Jetzt sind wir am Arsch”, sagt sie, wütend und ängstlich zugleich.

Hätten die Gestrandeten das Geld für ein Flugticket gehabt, wären sie wohl ans Ziel gelangt. Am ausgestorbenen Flughafen von Medellín kann jede*r, der ein Ticket hat, ohne Probleme in eines der letzten Flugzeuge steigen.

Warum gibt es noch Flüge aber keine Busse mehr? Um selbst darüber entscheiden zu können, wo man die Quarantäne verbringt, braucht man eine Menge Geld.

Am Nachmittag verabschiedet sich ein Herr an der Minorista per Handschlag von seinem Gesprächspartner und erklärt sogleich das ungewöhnliche Verhalten in Corona-Zeiten: „Herr Pfarrer, ich gebe Ihnen die Hand, weil Gott uns vor dem Virus schützen wird.”

Selbst zu entscheiden, wo man die Quarantäne verbringt, erfordert eine Menge Geld.

Derweil beschweren sich in den sozialen Medien viele Kolumbianer*innen über die Fotos von Menschenmengen in den öffentlichen Verkehrsmitteln: Ob sie denn gar nichts verstanden hätten, es sei unverantwortlich, die Polizei solle dagegen vorgehen. Ihr Ärger ist verständlich, schließlich sind diese Wochen entscheidend für die Eindämmung des Virus. Das funktioniert nur, wenn die Menschen zu Hause bleiben. Trotzdem ist wohl niemand in der Minorista, am Busbahnhof oder im Taxi glücklich darüber, draußen zu sein. Die meisten erfüllen eine Pflicht oder tun das Nötigste, um über die Runden zu kommen.

Die Idee, dass Quarantäne ein Privileg sei, ist populär geworden. Dabei wäre es angebrachter, sie als ein Recht zu bezeichnen. Angesichts einer Pandemie sollten alle – mit Ausnahme derjenigen, die wichtige Arbeitsplätze haben, damit die Gesellschaft in der Zwischenzeit nicht zusammenbricht – zu Hause bleiben können, bis das Risiko abnimmt. Die Rede von der Quarantäne als Privileg verbirgt die Verantwortung des Staates: dieser müsste einen umfassenden Ansatz für öffentliche Gesundheit verfolgen, bei dem niemand mehr gezwungen wäre, auf die Straße zu gehen und dabei sich selbst und andere zu gefährden.

Auf dem Heimweg von der Minorista berechnet ein Taxifahrer, der von einem Obdachlosen gerade ein geklautes Radio gekauft hat, einen absurd hohen Preis für die Fahrt. Es gibt kaum Taxis und so ist der Preis alternativlos. Welche Idee von Gemeinschaft bleibt, wenn wir uns eigentlich alle gegenseitig vor dem Coronavirus schützen müssten, es sich aber einige nicht leisten können, darauf zu achten, weil sie sonst nichts mehr zu essen haben? Hunger oder Coronavirus, wähl deine Folter selbst.

Viele, die heute draußen unterwegs sind, werden auch in den nächsten Tagen unterwegs sein. Vielleicht denken sie zuerst an sich selbst als an die anderen. Dabei verleiht das kollektive Mundschutz-Tragen die Illusion einer Gemeinschaft. Das Coronavirus hat zudem etwas Demokratisches: auch Reiche sind erkrankt; Geld macht nicht immun. Doch die finanzielle Sicherheit erlaubt es auch, in Erwartung der nächsten warmen Mahlzeit zu Hause über die Verirrten dort draußen zu twittern.

Vielleicht ist Corona auch schon längst in der Minorista oder am Busbahnhof angekommen? War bereits jemand infiziert? Wir werden es erst in ein paar Wochen wissen.

HISTORISCH, ABER NICHT VORBEI

Die Maskerade des Ausnahmezustands

Neuer Anstrich Die Erinnerungen an den Aufstand werden aus dem Stadtbild entfernt (Foto: Martin Yebra)

Die Spuren der fünfmonatigen Proteste wurden auf der Plaza de la Dignidad bereits beseitigt: Kein Mensch ist auf dem eingezäunten Platz unterwegs, die Statue des Militärchefs Manuel Baquedano wurde geputzt, neu angestrichen und die Denkmäler der Mapuche entfernt. All dies geschah am 19. März, lediglich Stunden nach Beginn des von Präsident Sebastián Piñera – eigentlich zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – verhängten landesweiten Ausnahmezustands. Es symbolisiert nur allzu gut, welchen Effekt die Ausbreitung des Virus in Chile gerade hat.

Drei Wochen zuvor, als bereits die ersten Fälle der Lungenkrankheit Covid-19 im Land Schlagzeilen machten, gaben sich die Protestierenden noch gelassen. „Der wahre Virus heißt Piñera“, hieß es auf den Massendemonstrationen der ersten Märzhälfte. Inzwischen ist diese laxe Haltung bei den meisten der Vorsicht gewichen.

Vielen geht die Ausrufung des Ausnahmezustands inklusive des Versammlungsverbots und der Schließung von Einkaufszentren nicht weit genug. „Denkst du, der Staat will uns so schützen? Bleib‘ zu Hause!“, lautete die Antwort eines protestierenden Schülers auf die unzureichenden Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Virus – die Botschaft hinterließ er auf einem Schild auf der leeren Plaza de la Dignidad und postete ein Bild davon auf Twitter.

„Der wahre Virus heißt Piñera“

Mit diesem Aufruf blieb er nicht allein. Die Forderung nach der Einschränkung breiter Teile des öffentlichen Lebens kam von unten – teilweise auch von denen, die seit Monaten auf den Straßen protestierten. Viele von ihnen haben Angst vor dem drohenden Zusammenbruch des privatisierten Gesundheitssystems.

Insbesondere wegen der Unfähigkeit des chilenischen Gesundheitsministers Jaime Mañalich haben die Menschen geringes Vertrauen in den Umgang der Regierung mit der Pandemie (siehe LN 550). Auch in den Krankenhäusern wurde Kritik an den wenig zielführenden Maßnahmen der Regierung laut: „Wir müssen gesund sein, um unsere Patienten versorgen zu können. Quarantäne jetzt!“ und „Weniger Wasserwerfer und Panzer, mehr Beatmungsgeräte!“, hieß es auf den Transparenten, die Angestellte der Klinik San José in Santiago an den Eingängen des Krankenhauses befestigten.

Die nur langsam angelaufenen Maßnahmen der Regierung trotz sich häufender bestätigter Fälle von Covid-19 im Land sorgten auch in den chilenischen Gefängnissen, in denen bereits mehrere Infizierte gemeldet sind, für Protest. In zwei Haftanstalten in Santiago kam es zu Tumulten mit Verletzten, Gefangene legten Brände und forderten lautstark bessere Hygienemaßnahmen.

Amnesty International hat in einem offenen Brief an die chilenische Regierung Besorgnis über die Haftbedingungen in chilenischen Gefängnissen geäußert: Fast die Hälfte der Anstalten sei überfüllt, elf davon in kritischem Maße, die Gefangenen hätten außerdem keinen ständigen Zugang zu Wasser und notwendiger Hygiene. Dennoch sitzen derzeit auch 13 Angeklagte der primera línea (der ersten Reihe der Protestierenden), die bei den Protesten der letzten Monate festgenommen worden waren, in Untersuchungshaft.

Von unten verordnete Quarantäne

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Guillermo Silva, hatte gegenüber Radio Biobío betont: „Teil der ersten Reihe zu sein ist keine Straftat an sich.“ Ein Berufungsgericht entschied nun trotzdem, die Haft nicht durch Hausarrest zu ersetzen.

Die Coronakrise hat die Proteste zwar in ihrer bisherigen Form unmöglich gemacht, trotzdem herrscht weiter Unzufriedenheit über die Regierung. Und obwohl die Forderungen nach Ausgangssperren und physischer Distanzierung nicht aus der politischen Führungsriege kommen, profitiert gerade die von den nun möglich gewordenen Einschränkungen bürgerlicher Rechte.

Seit dem Eintritt des Katastrophenzustands und der nächtlichen Ausgangssperre im ganzen Land sind die Handlungsspielräume der Protestierenden begrenzt. Das Versammlungsverbot, der Einsatz des Militärs auf den Straßen – all das kommt Piñera nicht nur zur Eindämmung der Pandemie, sondern auch der Proteste gelegen. In einigen Kommunen des Landes gelten komplette Ausgangssperren – nur, wer einen Passierschein zum Einkaufen oder für den Arbeitsweg vorweisen kann, darf überhaupt die Wohnung verlassen.

Demonstrationen oder die Sitzungen der cabildos und asambleas – hunderte Bürger*innenversammlungen haben sich seit Oktober zusammengefunden – sind wegen der Ansteckungsgefahr im ganzen Land verboten. Manche finden trotzdem statt: in WhatsApp-Gruppen oder Videokonferenzen.

Ohne Abstand Als Demonstrationen und Proteste noch erlaubt waren (Foto: Martin Yebra)

Dabei war die breite gesellschaftliche Mobilisierung gegen Piñera unmittelbar vor der Coronakrise wieder stärker geworden: Den Sommer über mit dem Slogan „Wenn erst der März kommt“ angekündigt, kochten die Proteste zum Schul- und Unibeginn erneut hoch. Schon am ersten Tag des Monats waren im ganzen Land cacerolazos zu hören.

Als „März ohne Angst“ bezeichneten die Protestierenden das neue Kapitel der Bewegung – allen voran die in die Städte zurückgekehrten Schüler*innen. Wie schon im Oktober machten sie den Anfang, indem sie Schulen und Metrostationen in Santiago besetzten. Die Vereinigung der Sekundärschüler*innen ACES sprach von 30 besetzten Schulen im ganzen Land, an 150 Institutionen gab es dauerhaften Protest.

Das war nur der Vorgeschmack auf die Mobilisierung, die das ganze Land eine Woche später erfahren sollte. Zum Internationalen Frauentag gingen am 8. März so viele Menschen auf die Straße wie noch nie: Allein in Santiago waren es zwei Millionen – vor allem Frauen und Queers – die gegen Feminizide und machistische Gewalt, ungleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse und für mehr Rechte protestierten.

Ein historischer März

Históricas, „historisch“, stand es zwischen dem Menschenmeer auf der Plaza de la Dignidad in großen weißen Lettern, die bis heute zu sehen sind. Auch den 9. März nutzten Frauen zum Protest: Angestellte des Gesundheits- und Bildungssektors streikten, ihr Demonstrationszug zog auch am Präsidentenpalast La Moneda vorbei.

Erst Tage zuvor hatte eine unsägliche Äußerung von Präsident Piñera die Wut der feministischen Bewegung neu angefacht: In seiner Rede zur Verabschiedung des Ley Gabriela zur Erweiterung des Tatbestands Feminizid im Strafregister hatte er gesagt, es sei „manchmal nicht nur der Wille der Männer, zu missbrauchen, sondern auch die Rolle der Frauen, missbraucht zu werden“.

Gleichzeitig machen seit Monaten Berichte über die politisch motivierte sexualisierte Gewalt der Carabineros die Runde. Das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH zählt in seinem Bericht vom 18. März bereits mehr als 200 Fälle sexualisierter Gewalt durch Angehörige der Sicherheitsbehörden, die seit Mitte Oktober 2019 zur Anzeige gebracht worden sind.

Feministischer Protest Am 8. und 9. März gingen so viele Menschen wie noch nie auf die Straße (Foto: Martin Yebra)

Kurze Zeit später, zum zweiten Jahrestag von Piñeras Amtsantritt am 11. März, protestierten vor allem junge Menschen im Zentrum von Santiago und brachten dort mit Molotowcocktails und Barrikaden den öffentlichen Verkehr weitestgehend zum Erliegen, wie Bio Bio Chile berichtete. Die Demonstration gegen Piñera war eine der letzten großen Protestveranstaltungen vor Beginn der Einschränkungen durch das Coronavirus.

Die Coronakrise überschattet die gesellschaftlichen Themen, die die Protestbewegung in den letzten Monaten vorgebracht hat. Auch der Prozess hin zu einer neuen Verfassung ist vorerst auf Eis gelegt. Das Abgeordnetenhaus hat das Plebiszit über die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta auf den 25. Oktober verschoben. Noch Anfang März war der verfassungsgebende Prozess konkreter geworden: Beide Kammern einigten sich über eine Regelung, um die Geschlechterparität in der verfassungsgebenden Versammlung zu gewährleisten. Die Einigung sieht bei ungleicher Verteilung der Geschlechter einen Ausgleich vor.

„Wir werden Millionen sein“

Ganz ersticken konnten die Beschränkungen der Coronakrise die Proteste jedoch nicht. Zum 29. März, dem Día del Joven Combatiente, an dem nun zum 35. Mal mit Protesten Opfern der Diktatur gedacht wird, gingen Menschen in Santiago und anderen Städten des Landes auf die Straßen. Mitten in der Ausgangssperre traten die Protestierenden den Carabineros entgegen und entzündeten Barrikaden, zwei Carabineros wurden verletzt. Andere begingen den Gedenktag mit einer Videokonferenz sowie Livestreams unter dem Motto „Auf dass das Gedenken die Quarantäne erleuchtet“.

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der Protest in Zeiten der Krise weiterzuführen ist. Im Vordergrund steht jetzt die gegenseitige Unterstützung und Solidarität während der Pandemie sowie die Entwicklung klarer politischer Forderungen, wie sie etwa die feministische Koordinationsgruppe 8M in ihrer Notstandserklärung festgehalten hat: Nachbarschaftsstrukturen, die vor allem Frauen* und Kinder unter die Arme greifen; die Entwicklung von Strategien gegen die Zunahme häuslicher Gewalt in der Quarantäne; die Bestreikung nicht-systemrelevanter Arbeit und die Forderung nach ausreichender medizinischer Versorgung für alle.

Das Coronavirus hat die Proteste zwar eingeschränkt, sie jedoch keineswegs beendet, wie die Regierung es sich vielleicht erhofft hat. Die cacerolazos finden nun an den Fenstern und Balkonen der Städte statt, die Mobilisierung wird aus der Isolation heraus online weitergeführt. Unter #LaMarchaVirtual („Die virtuelle Demo“) teilen Nutzer*innen in den digitalen Netzwerken derzeit Fotos von den Demonstrationen der letzten Monate. Auf dem neu gestrichenen Denkmal auf der Plaza de la Dignidad prangt unterdessen ein neues Graffiti. In blauer Schrift steht dort: „Ich komme zurück und wir werden Millionen sein!“

ZUSAMMENBRUCH UNVERMEIDBAR

Demonstrieren nein, konsumieren ja Strenge Ausgangssperren wurden in Chile bisher kaum verhängt (Foto: Martin Yebra)

Als am 8. März in Santiago über zwei Millionen Frauen für ihre Rechte auf die Straße gingen, ahnte noch niemand, dass die Tage größerer Demonstrationen bis auf weiteres gezählt sein würden. Das Coronavirus, Auslöser der Lungenkrankheit Covid-19, war seit fünf Tagen im Land bekannt, es gab bereits zehn bestätigte Fälle. Seitdem hat sich die Zahl der Infizierten exponentiell vervielfacht: Anfang April gab es bereits über 3000 bestätigte Infizierte und 16 Todesfälle. Chile verfügt landesweit derzeit nur über etwa 1000 Intensivbetten, die mit für die Behandlung schwerer Covid-19-Verläufe nötigen Beatmungsgeräten ausgestattet sind. Sollte sich die Zahl der Infizierten weiterhin wie zuletzt etwa alle vier Tage verdoppeln, könnten die Intensivstationen sehr schnell voll sein, auch 800 neu bestellte Beatmungsgeräte wären dann nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Regierung Piñera muss daher wie auch anderswo zwischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, Einschränkungen individueller Freiheitsrechte und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft abwägen.

Seit Bekanntwerden des Virus wurden auch in Chile nach und nach verschiedene Einschränkungen des öffentlichen Lebens wirksam: Ab dem 16. März gab es keine Großveranstaltungen mehr, die Schulen wurden geschlossen. In den darauffolgenden Tagen folgte die Schließung der Grenzen, Einkaufszentren, Kinos, Theater, Restaurants, Diskotheken und sportlicher Einrichtungen. Ab dem 19. März galt der Ausnahmezustand, ab dem 22. eine nächtliche Ausgangssperre. Faktisch führten diese Maßnahmen zum vorläufigen Ende der seit Oktober andauernden Massenproteste für grundlegende soziale und politische Veränderungen (siehe LN 550).

Die Maßnahmen bedeuten das Ende der Massenproteste

Noch weitergehende Maßnahmen lehnte die Regierung zunächst ab. Im Zuge einer öffentlichen Debatte um das Ausmaß der Regeln zu sozialer Distanzierung forderte am 20. März daraufhin eine Gruppe von 56 Bürgermeister*innen verschiedener Parteien von rechts bis links, unterstützt von Ärzt*innen und Parlamentarier*innen, in einem offenen Brief eine sofortige landesweite Ausgangssperre. Einzelne von ihnen begannen, auf eigene Faust Ausgangssperren in ihren Kommunen zu verhängen. Izkia Siches, Präsidentin der chilenischen Ärztekammer, hob hervor, dass eine Ausgangssperre aufgrund der vielen Infizierungen besonders in der ganzen Hauptstadtregion dringend erforderlich sei. Die Regierung sah hierfür jedoch keinen Grund, zweifelte an der Machbarkeit und vertrat die Ansicht, dass eine totale Ausgangssperre zum Zusammenbruch des Landes und der Versorgungsketten führen könne. „Das ist absurd, eine unverhältnismäßige Maßnahme”, kommentierte Gesundheitsminister Jaime Mañalich. Und fügte hinzu: „Was ist, wenn dieses Virus zu einer gutartigeren Form mutiert? Was ist, wenn es mutiert und zu einem netten Virus wird?“ Verärgerte Reaktionen auf diese unsinnige Aussage folgten verständlicherweise prompt.

Gesundheitsminister Mañalich gilt als Einzelgänger, der wenig auf abweichende Meinungen hört. Seine einzige Machtbasis ist das enge Verhältnis zu Präsident Piñera: Er ist nicht nur dessen Hausarzt, sondern auch ehemaliger Geschäftsführer der exklusiven Privatklinik Clínica Las Condes, an der Piñera bis zu seiner ersten Präsidentschaft Anteile hielt.

Der Gesundheitsminister hofft auf ein „nettes Virus“

Erst auf den starken öffentlichen Druck hin wurde schließlich ein Runder Tisch zu Covid-19 mit Vertreter*innen von Regierung, Kommunen und Ärzt*innen eingerichtet, der statt von Mañalich von Innenminister Blumel geleitet wird. Außerdem wurde eine „progressive Quarantäne” angekündigt, die sich von freiwilliger Distanzierung über Abriegelung von Kommunen bis hin zur totalen Ausgangssperre steigert. Letztere wurde am 26. März, etwa eine Woche nach dem offenen Brief, schließlich in sieben Kommunen der Hauptstadtregion verhängt, die vor allem die wohlhabenden, wirtschaftsstarken Viertel Santiagos ausmachen, später auch in Temuco, Punta Arenas und auf der Osterinsel.

Schon seit Oktober protestierte das Personal der öffentlichen Krankenhäuser bei jedem der Besuche von Gesundheitsminister Mañalich gegen die schlechte medizinische Ausstattung. Daraufhin hatte der Minister erklärt, das chilenische Gesundheitssystem sei eines der besten und effizientesten der Welt. Carlos Ruiz Encina, Präsident des dem linken Parteienbündnis Frente Amplio nahestehenden Thinktanks Fundación Nodo XXI, hingegen ist da anderer Meinung. Gegenüber der argentinischen Tageszeitung Página 12 erklärte er: „Pinochet hat das öffentliche Gesundheitssystem zerstört, aber die zivilen Regierungen danach haben es nicht wieder aufgebaut.“ Im öffentlichen System gäbe es lange Wartelisten und -schlangen. Staatliche Gesundheitsausgaben würden daher weitgehend über ein Gutscheinsystem abgewickelt, mit denen sich die Leute in einer Privatklinik behandeln lassen können. „Mit anderen Worten: Die Privatwirtschaft florierte dank der staatlichen Subventionen. Anstatt das universelle soziale Recht auf Gesundheit wieder aufzubauen, trägt der Staat zum Geschäft der Privatkliniken bei”, so Encina weiter.

Abstand halten Regierung, Bürgermeister*innen und Ärzt*innen streiten sich, wie dies erreicht werden soll (Foto: Martin Yebra)

Auch die Ärztin Fabiola Alzamora vom zentralen Notfallkrankenhaus von Santiago teilte Mañalichs Meinung nicht: „Im ,besten Gesundheitssystem der Welt‘ haben wir kein Desinfektionsgel, man gibt uns eine Schutzmaske pro Person. Wir haben nichts, um uns die Hände zu waschen. Die Gesundheit des Personals wird aufs Spiel gesetzt”. Mañalich antwortete abwiegelnd und beschwichtigend, dass genügend Vorräte vorhanden seien und Personen mit geringem Risiko keine “hyper-außergewöhnlichen Schutzmaßnahmen” bräuchten. Ärztekammerpräsidentin Siches sieht den Umgang der Regierung mit der Coronakrise ebenfalls kritisch: „Die bisher veröffentlichten Daten sind unvollständig, inkonsistent und weisen einen enormen Mangel an Transparenz auf, den es in der institutionellen Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in Chile so noch nie gab”.

Kritik enstpann sich auch um die Verfügbarkeit von diagnostischen Tests, die laut Regierungsangaben angeblich in hoher Zahl vorhanden seien. Aber anstatt sich zum Beispiel um vereinfachte und kostenfreie Zugänge zu Tests zu kümmern, fiel es der Regierung wesentlich leichter, sich für konkrete Interessen der Wirtschaft einzusetzen. Auf der Insel Chiloé protestierten Bürger*innen mit Straßensperren dagegen, dass trotz lokaler Quarantänebestimmungen nicht nur Lebensmittel und Dinge des täglichen Gebrauchs auf die Insel kamen, sondern auch die Lastwagen der Lachsindustrie. Die Polizei löste die Barrikaden gewaltsam auf, es gab Repression, Verletzte, Verhaftungen und jede Menge wütende Menschen.

Im „besten Gesundheitssystem der Welt” fehlt medizinische Schutzausrüstung

Die Regierung nutzte die Corona-Konjunktur außerdem dazu, mit Hilfe von Stimmen der Mitte-Links-Parteien ihr lang gehegtes Projekt eines Homeoffice-Gesetzes durchzudrücken, das es Arbeitgeber*innen erlaubt, mit ihren Angestellten gemeinsam flexible Arbeitszeiten zu vereinbaren. Nun können geltende Arbeitsverträge in unbegrenztes Homeoffice ohne Bezahlung von Überstunden verwandelt werden.  Zusätzlich sollen Löhne vom Arbeitgeber nicht weitergezahlt werden müssen, wenn jemand aufgrund der Notfallbestimmungen der Arbeit fernbleibt. Hier soll nach einem jetzt geplanten Gesetz die Arbeitslosenversicherung einen Teil des Lohns zahlen – eine Art Kurzarbeit.

Dass es bei den Neuerungen im Arbeitsrecht wenig um die Interessen der Arbeitnehmer*innen ging, wurde klar, als das Gesundheitsministerium Ärzt*innen die Möglichkeit blockierte, zum Zweck der Isolierung Krankschreibungen auszustellen. „Was bringt #QuédateEnCasa („Bleib zu Hause”), wenn man es nicht umsetzen kann?” fragten sich daraufhin Ärzt*innen auf Twitter.

Im Gegensatz zu Gesundheitsminister Mañalich haben die Kontroversen Präsident Piñera in der öffentlichen Meinung bisher wenig geschadet. Im Gegenteil, seine Zustimmung ist im März laut der Umfrage des privaten Markt- und Meinungsforschungsinstituts Cadem vom vorherigen Niedrigstniveau auf 21 Prozent angestiegen. Dazu mag auch der Beschluss der Regierung beitragen, dass niemand von der Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten werden soll, wenn während der Krise Rechnungen nicht bezahlt werden können. Einkommensschwache Familien sollen zudem für zwei Monate gratis Internet bekommen.

Die Regierung nutzt die Lage zur Liberalisierung des Arbeitsrechts

Nach Monaten sozialer Aufstände für mehr soziale und politische Rechte erscheint es paradox, dass nun die Kritiker*innen der Regierung mit der landesweiten Ausgangssperre eine sehr weitreichende Einschränkung der persönlichen Freiheiten fordern und die Regierung dabei eher zurückhaltend ist. Schließlich hat Chile eine unheilvolle Geschichte der Einschränkung von Freiheitsrechten und Repression, vor und nach Ende der Diktatur Pinochets. Auf den zweiten Blick sind die vertauschten Rollen jedoch nicht überraschend: Für Sebastián Piñera war das Ende der Straßenproteste als Folge des Mitte März erfolgten Verbotes von Großveranstaltungen und großen Menschenansammlungen ein Geschenk, nachdem er seit Oktober vergeblich versucht hatte, diese einzudämmen. Das öffentliche Leben noch darüber hinaus einschränkende Maßnahmen schaden jedoch vor allem der Wirtschaft, deren Interessen die Richtschnur dieser Regierung sind.

Solche noch strengeren Maßnahmen könnten dennoch nötig werden, da die schon beschlossenen möglicherweise zu spät kommen. Tomás Pérez Acle, Leiter einer mit Prognosen zur Pandemie betrauten Gruppe Wissenschaftler*innen, äußert sich gegenüber der chilenischen Onlinezeitung El Mostrador eindeutig: „Wenn wir die Maßnahmen vor drei Wochen getroffen hätten, würden wir die Situation jetzt nicht bedauern. Aber nun ist der Zusammenbruch des Gesundheitssystems unvermeidbar, laut unserer Prognosen könnte es im Mai oder Juni soweit sein.”

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