DER HUNGER IST ZURÜCK

Nahrung als Menschenrecht Das Kollektiv Força Tururu sammelt und verteilt Lebensmittelspenden (Foto: Coletivo Força Tururu @coletivo_tururu)

Es war eine Erfolgsgeschichte: 2014 sank der Anteil der hungernden Brasilianer*innen auf unter fünf Prozent und das Land verschwand erstmals von der Welthungerkarte der Vereinten Nationen. Für den rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro war dies 2019 in einem Interview mit El País bereits Grund genug, um die Aussage, dass Menschen in Brasilien nach wie vor an Hunger leiden, als „Lüge“ und „populistische Rederei“ zu bezeichnen.

Doch ob der Präsident es wahrhaben will oder nicht – das Land ist weit davon entfernt, das Problem Hunger abgehakt zu haben. Bereits 2019 bewegte sich Brasilien mit großen Schritten zurück auf die Welthungerkarte. Laut der landesweiten Stichprobenerhebung in Haushalten (PNAD, vergleichbar mit dem deutschen Mikrozensus) stieg der Anteil der Haushalte mit unsicherem Zugang zu Lebensmitteln zwischen 2013 und 2018 um 63 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass sich bereits Anfang 2018 rund 85 Millionen Brasilianer*innen um ihren zukünftigen Zugang zu Nahrung sorgten, dieser bereits eingeschränkt war oder sie hungerten – ein schockierender Rekord seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 2004.

Wie zwei aktuelle Studien des Netzwerks PENSSAN und des Forscher*innenkollektivs Food for Justice der Freien Universität (FU) Berlin zeigen, hat die Pandemie zu einer weiteren Verschlechterung der Ernährungssituation beigetragen. Fast 117 Millionen Brasilianer*innen waren demnach Ende 2020 von Ernährungsunsicherheit betroffen. 19 Millionen davon litten bereits an Hunger; fast doppelt so viele wie 2018, als es noch 10 Millionen waren.

19 Millionen Brasilianer*innen leiden an Hunger

Diese Entwicklung trifft bestimmte Gruppen stärker als andere. Wer in ländlichen Gebieten im Norden oder Nordosten lebt, kleine Kinder hat, als Frau allein für das Familieneinkommen sorgt oder Schwarz ist, dessen Zugang zu Nahrung ist deutlich unsicherer. Im Norden ist bereits fast ein Fünftel der Bevölkerung von Hunger betroffen, im Nordosten ein Siebtel. Auch Cidicleiton Zumba, den LN schon zu Beginn der Pandemie interviewte, bestätigt diese Verschlechterung. Er lebt in Tururu, einem prekären Stadtviertel an der Peripherie von Recife. „Wir sehen jetzt sehr viele Familien, die in Tururu von Tür zur Tür gehen und um Lebensmittel bitten. Auch wir als Kollektiv erhalten sehr viele Bitten um Hilfe. Ganz besonders trifft es Menschen, die auf der Straße leben. Und seit Beginn der Pandemie rutschen immer mehr Menschen in die Armut“, so Zumba.

Der „Kampf gegen den Hunger“ gehörte zu den wichtigsten Wahlversprechen der Präsidentschaftskampagne von Luis Inácio Lula da Silva. In seiner Amtsantrittsrede 2003 verkündete er: „Wenn am Ende meiner Amtszeit alle Brasilianer dreimal am Tag eine Mahlzeit essen können, dann habe ich die Mission meiner Präsidentschaft erfüllt.“ Bereits in den ersten 30 Tagen lancierte seine Regierung das Programm „Null Hunger“, zwischen 2004 und 2013 halbierte sich die Zahl der Hungernden auf 7,2 Millionen.

#TemGenteComFome Die Zivilgesellschaft sammelt Spenden (Foto: Coletivo Força Tururu @coletivo_tururu)

Dass sich die Ernährungssituation unter den Regierungsprogrammen der Arbeiterpartei PT verbessert hat, ist international anerkannt. Die FAO hebt besonders die Einführung von Schulspeisungen hervor – in der Regel ein warmes Mittagessen mit Bohnen, Reis und Gemüse für 43 Millionen Kinder und Jugendliche. Die dafür verwendeten Lebensmittel wurden über das Programm PAA weitgehend aus der lokalen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft angekauft, was ebenso zur Bekämpfung der Armut beitrug.

Der erste Rückschlag für diese erfolgreiche Politik gegen Armut und Hunger erfolgte 2014. Bereits ab 2012 waren international die Preise für Rohstoffe gesunken, deren Export bisher die finanzielle Grundlage der PT-Sozialpolitik gebildet hatte. Es folgte ein deutlicher Konjunktureinbruch. Mit dem parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff und der Amtsübernahme Michel Temers 2016 begann der sozialpolitische Abbau. Besonders fatal ist in diesem Zusammenhang das Gesetz zur Beschränkung der staatlichen Ausgaben, das im Dezember 2016 verabschiedet wurde. Es begrenzt den Staatshaushalt für 20 Jahre im Prinzip auf den Stand von 2016 (plus Inflationsrate) – trotz wachsender Bevölkerung. Selbst wenn also der politische Wille für höhere Sozialausgaben da wäre, das Gesetz schränkt den Handlungsspielraum der Regierung in der Pandemie erheblich ein.

Entwicklung der Ernährungsunsicherheit, Grafik: Martin Schäfer

„Null Planung gegen den Hunger“ statt „Null Hunger“

In scharfem Kontrast zu Lula setzte Bolsonaro bereits am Tag seiner Amtseinführung die Aktivitäten des Nationalen Rats für Ernährungssicherheit (Consea) aus. Der 1993 gegründete Consea koordinierte bis dahin die bundesweiten Programme zur Sicherung der Ernährung und spielte eine wichtige Rolle bei der Hungerbekämpfung, auch im Dialog mit der Zivilgesellschaft. Im September 2019 votierte das brasilianische Parlament für die Abschaffung des Rates, die meisten Angestellten des Sekretariats für Ernährungssicherheit wurden entlassen. Statt „Null Hunger“ war nun „Null Planung gegen den Hunger“ Regierungspolitik. Dies zeigt sich auch an der Auflösung der staatlichen Nahrungsmittelreserven und der Aushöhlung des Landwirtschaftsprogramms PAA. In den ersten neun Monaten der Pandemie – mit all ihren Einschränkungen für Handel und Transport – gab die Regierung nur sieben Prozent des 500 Millionen-Budgets des PAA aus. Gegen bereits verabschiedete Pläne von Kongress und Senat, die Zahlungen an die kleinbäuerliche Landwirtschaft im Rahmen der Nothilfen zu erhöhen, legte Bolsonaro im September 2020 sein Veto ein. „Genau diese Familienbetriebe sind es aber, die die Versorgung der Bevölkerung sichern“, stellt die Wissenschaftlerin Ana Maria Segall, die zum Thema Ernährungssicherheit forscht, gegenüber LN fest.

Obwohl 19 Millionen Brasilianer*innen hungern, prahlte Bolsonaro bei der UN-Generalversammlung im September 2020 damit, sein Land habe noch nie so viel exportiert und die Welt sei „bei der Ernährung zunehmend von Brasilien abhängig“. Tatsächlich ist Brasilien weltweit der drittgrößte Lebensmittelexporteur – nach den USA und China. Im Jahr 2019 exportierte das Land 240 Millionen Tonnen Zucker, Sojabohnen, Mais, Orangensaft, Rindfleisch und anderes in 180 Länder und setzte so 34,1 Milliarden US-Dollar um. Für das laufende Jahr sieht das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (IGBE) zudem eine Rekordernte an Getreide, Hülsen- und Ölfrüchten voraus. Was paradox erscheint, ist für Segall eine Frage der Priorisierung: „Während das Agrobusiness mit staatlichen Anreizen bedacht wird, gehen die Familienbetriebe leer aus. Anstelle eines Paradoxes sehen wir viel mehr politische Entscheidungen darüber, was die Regierung wichtig findet und unterstützt.“

Hunger nach Region, Prozent der Bevölkerung, Grafik: Martin Schäfer

Der für den Export lukrative Anbau von Soja und Mais wurde in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut – auf Kosten von Grundnahrungsmitteln wie Bohnen und Reis. Durch die Abwertung des Real werden mit dem Verkauf ins Ausland außerdem höhere Gewinne erzielt. Allein zwischen März und Juli 2020 stieg der Reisexport um 260 Prozent. Teurere Importe und Hamsterkäufe während der Pandemie haben im vergangenen Jahr zu einem durchschnittlichen Preisanstieg von Lebensmitteln um 14 Prozent geführt: Statt 15 Reais kostete etwa der Fünf-Kilo-Sack Reis auf einmal 40 Reais (2020 umgerechnet etwa zehn Euro).

Trotzdem wurde die in der Pandemie ausgezahlte monatliche Nothilfe von anfangs 600 Reais sukzessive gekürzt und schließlich zwischen Januar und März 2021 komplett ausgesetzt. Wie die Studie von Food for Justice zeigt, spielte sie im letzten Jahr eine fundamentale Rolle: „Die Nothilfe kam bei den Bedürftigsten an. Ohne sie wäre die Situation noch schlechter. Allerdings reicht der Betrag nicht aus, um eine gewisse Ernährungssicherheit aufrechtzuerhalten, die sehr stark vom Einkommen abhängt“, erklärt Renata Motta, Professorin an der FU Berlin und Teil des Forscher*innenkollektivs im Gespräch mit LN. Ab April wurde die Nothilfe mit durchschnittlich 250 Reais (38 Euro) pro Familie wieder aufgenommen – völlig unzureichend, wie auch Segall findet: „Die Nothilfe ist nur für eine begrenzte Personenzahl zugänglich und ihr Wert entspricht nur noch einem Viertel dessen, was Mitte 2020 ausgezahlt wurde. Die Bevölkerung ist dem Hunger und der Pandemie ohne staatliche Unterstützung ausgesetzt.“ Diese Einschätzung bestätigt auch Eliane Farias do Nascimento aus der Favela Santa Luiza in Recife gegenüber LN: „Es gibt sehr viel Hunger im Viertel, viele sind arbeitslos geworden. Die Hilfe, die sie zahlen, ist viel zu wenig. Es reicht nur für Essen oder für Trinkwasser oder für den Strom. Es ist schwierig, zu überleben und wenigstens Brot im Haus zu haben. Zwei meiner Kinder trinken noch Milch, aber an manchen Tagen kann ich keine kaufen.“

Angesichts des zunehmenden Hungers und der Untätigkeit der Regierung organisiert sich die Zivilgesellschaft, um Spenden zu mobilisieren. Tem gente com fome („Es gibt Leute, die hungern“) heißt eine der Kampagnen, zu der sich kleinere und größere Organisationen wie Amnesty International, Oxfam Brasil und das Instituto Ethos zusammengeschlossen haben. Die Landlosenbewegung MST spendet regelmäßig große Mengen Nahrungsmittel, die auf den Flächen der Agrarreform von ihren Mitgliedern angebaut werden. Zuletzt verteilten sie Ende April 100 Tonnen Lebensmittel und 3.000 Liter Milch in verschiedenen Regionen Brasiliens. Aber auch kleinere Organisationen sehen in Kampagnen das Gebot der Stunde. So hat das Kollektiv Força Tururu nach zwölf Jahren kulturellen Aktivismus 2020 erstmals um Nahrungsmittelspenden im Stadtviertel gebeten und setzt dies angesichts der Not bis heute fort. „Wir reagieren auf das Leid unserer Nachbarn, gleichzeitig sehen sie, dass wir Nahrung als Menschenrecht einfordern“ so Cidicleiton Zumba. „Zuzugeben, dass man hungert, ist für niemanden leicht, es ist immer noch ein Tabu. Doch mit uns können sie darüber sprechen. Und ich bin froh, dass es uns gelingt, dieses Tabu zu brechen.“

HAUTE CUISINE IM ARMENVIERTEL

Unterricht bei Chefkonditor Marcos Guima Vorbereitungen für den Apfelkuchen (Fotos: Martin Ling)

Die Umgebung ist trist. Streunende Hunde, schlaglochgesäumte Straßen, auf denen Kinder die im Schritttempo vorbeihuschenden Autofahrer um Kleingeld anbetteln. Das ist das Umfeld einer bemerkenswerten Einrichtung in Pachacútec, einem Armenviertel im Nordwesten Limas, in dem rund 150.000 Menschen leben. Mitten in der öden Landschaft befindet sich der Campus del Centro de Estudios y Desarrollo Comunitario (CEDEC) mit seinem Prunkstück: der 2007 eröffneten Kochschule von Gastón Acurio. Ihr Slogan lautet: „Alle können in Peru Koch werden.“ Acurio selbst wurde quasi mit goldenen Löffeln im reichen Stadtteil San Isidro geboren. Dort geboren zu sein, heißt ein vom Glück begünstigtes Kind zu sein, ist seine Überzeugung und ihm Verpflichtung, der Gesellschaft etwas davon zurückzugeben. Das 2004 aus der Taufe gehobene CEDEC kam ihm da gelegen, wird das Zentrum doch von der Stiftung Pachacútec geführt, bei der der Name Programm ist. Pachacútec heißt „Weltveränderer“ und so hieß der berühmteste aller Inkaregenten, der von 1438 bis 1471 als neunter Herrscher das Imperium der Inka anführte. Die Welt verändern will auch Acurio.

Die Lehrlinge kommen aus einkommensschwachen Verhältnissen. „Anfangs war die Ausbildung umsonst“, erzählt der Campus-Direktor Alexis Pancorvo. Inzwischen betrage die Gebühr 120 Soles (rund 30 Euro), als Ansporn und zur Steigerung der Wertschätzung, führt er aus. „Das ist etwa ein Zehntel dessen, was in vergleichbaren Kochakademien verlangt wird, die gewinnorientiert arbeiten.“ Und an den Gebühren ist noch kein Auszubildender gescheitert. „Wir sind flexibel, wenn einer knapp bei Kasse ist, kann er auch in den Ferien arbeiten und dann nachträglich zahlen, keiner fliegt, weil er oder sie mal nicht flüssig ist“, erklärt Pancorvo. Der Campus sei kostensparend organisiert, führt er aus: „Für das Sicherheitspersonal wird Geld ausgegeben, für die Reinigung nicht, das gehört zu den Aufgaben der Schüler und Schülerinnen. Verantwortung zu übernehmen, ist Teil der Ausbildung.“ Die Gebühren deckten 25 bis 30 Prozent der Kosten, der Rest wird über strategische Partner aufgebracht, beschreibt Pancorvo das Konzept. Einer davon ist Gastón Acurio, der die Küchenausstattung geliefert hat und Lehrpersonal kostenlos zur Verfügung stellt, aber auch andere Unternehmen sind beispielsweise mit Lebensmittelspenden für die Lehrküche beteiligt, aus denen die Kochschüler*innen dann leckere Speisen zuzubereiten lernen.

Rosa Dayenú de la Cruz ist im zweiten Lehrjahr. Die 20-Jährige nimmt täglich zwei Stunden Fahrt in Kauf – jeweils für Hin- und Rückfahrt. In dem vom Verkehrsinfarkt geplagten 11-Millionen-Moloch Lima ist das keine Seltenheit. Manche Lehrlinge kommen aus der Nähe, manche haben dreieinhalb Stunden Anfahrt, manche aus der Provinz mieten sich ein kleines Zimmer, um die begehrte Ausbildung zu machen. 500 bis 600 bewerben sich pro Jahr, 90 werden eingeladen, 25 ausgewählt. Geprüft werde fast alles – außer vorhandene Kochkünste: Logik, Rechtschreibung, Mathematik. Ein Eignungsgespräch, ein psychologischer Charaktertest bilde den Abschluss, so Pancorvo.

„Das Auswahlverfahren war hart“, sagt Rosa, „aber in der Ausbildung sind wir eine große Familie.“ Diesen Eindruck kann man in der Lehrküche in der Tat gewinnen. Konzentriert, aber fröhlich machen sich die Kochschüler*innen des zweiten Lehrjahres in Kleingruppen an die Arbeit. In zwei Stunden gilt es unter Anleitung einen Apfelkuchen zu backen. Die Anleitung kommt nicht von irgendwem, sondern von Marcos Guima, Chefkonditor im Acurio-Imperium. Für seine Lehrtätigkeit wird er von seinem Arbeitgeber freigestellt, Kosten für die Berufsschule fallen nicht an. „Das gehört zu den Beiträgen von Gastón Acurio für die Stiftung Pachacútec“, erzählt Dan Sacacco, der als Assistent in der Koordination der Kochschule arbeitet. Das Acurio-Imperium reicht inzwischen vom weltbekannten Edelrestaurant Astrid & Gastón in Lima bis zu Dutzenden Restaurants in und außerhalb Perus – 23 Jahre nachdem Acurio als 27-Jähriger sein erstes Restaurant zusammen mit seiner deutschen Frau Astrid eröffnete. Mit 37 Jahren setzte sich Acurio das Ziel, Perus Küche weltweit bekannt zu machen, inzwischen befinden sich in den einschlägigen Weltranglisten immer mehrere peruanische Restaurants unter den besten 50, Acurios Astrid & Gastón ist nur eines davon und selbst in Peru nicht mehr die Nummer 1. Er kann das verschmerzen, denn er hat sich zu seinem diesjährigen 50. Geburtstag ein neues Vorhaben gesetzt: „Mein Ziel ist es, Teil jener Generation zu sein, die aus Peru ein Land frei von Hunger macht.“ In Peru trifft Spitzengastronomie auf 50 Prozent unterernährte Kinder, und das treibt Acurio um, wie er in einem Interview im Wochenendmagazin „Somos“ der führenden Tageszeitung El Comercio bekannte.

Rosas Traum ist bescheidener: „Ich will mal ein eigenes Restaurant besitzen.“ Das ist noch ein weiter Weg. „Zweieinhalb Jahre dauert die Ausbildung“, sagt sie, bevor sie sich ans Blanchieren der Äpfel in der Pfanne macht, während andere sich um die Teigherstellung kümmern.
Neben der Kochschule offeriert der Campus fünf weitere Ausbildungen: Dreijährige Ausbildungen zur Elektriker*in oder Verwaltungsfachmann oder -frau und einjährige Ausbildungen zur Friseur*in, zur Kellner*in oder Call-Center-Agent*in.

Auf dem schwarzen Brett der Kochschule “Der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig”

Der Campus CEDEC wurde 2003 eingeweiht, die Kochschule kam vier Jahre später dazu und feierte gerade ihr zehnjähriges Jubiläum. Die Zielsetzung von CEDEC ist ambitioniert: Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus extrem armen Verhältnissen Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, die sie befähigen sollen, selbstverantwortlich ihr Berufsleben entwickeln zu können. Auch die Privatwirtschaft leistet ihren Beitrag, sponsert Ausrüstungsmaterial oder Ausbildungen. „Kirche, Staat, alle Sektoren sind bei CEDEC eingebunden“, erzählt Pancorvo. Auch eine Grund- und eine weiterführende Schule sowie ein medizinisches Zentrum gehören zum weitläufigen Campus in Pachacútec, der sich über 178 Hektar erstreckt.

„Pachacútec war ein Modell, von dem wir die Idee hatten, dass der Staat es übernehmen werde und ähnliche Ausbildungszentren für Tourismus, Hotellerie und Gastronomie in Cusco, Arequipa, Puno, etc einrichten würde; jedoch ist das nicht geschehen”, zog Acurio zum zehnten Jahrestag der Kochschule ein ernüchterndes Fazit. Dabei regt deren Bilanz durchaus zur Nachahmung an: „Mehr als 300 Jugendliche haben bisher die Kochausbildung beendet. Sie haben nun eine berufliche Laufbahn, sie haben ihr Leben zum Besseren verändert, einige haben es schon zum Chefkoch gebracht und einige von ihnen werden zu den besten Köchen der Welt werden.“

Einige der aktuell berühmtesten Köche der Welt geben sich dank Acurios Kontakten in der Kochschule die Klinke in die Hand. Auf dem schwarzen Brett gibt es eine Spalte mit Motivations­sprüchen à la „der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig“, und dort hängt auch ein Foto von Kataloniens Starkoch Ferran Adrià, dem Picasso der Köche, dessen legendäres Lokal „El Bulli“ an einer malerischen Bucht an der Costa Brava fünfmal hintereinander zum besten Lokal der Welt gekürt wurde – dann machte Adrià es zugunsten einer schöpferischen Pause zu. Vor allem rund um die von Acurio initiierte und alljährlich in Lima stattfindende internationale Gastronomiemesse Mistura trifft sich die Crème de la Crème der Spitzenköche und schaut auf einen Abstecher auch in der Kochschule vorbei. Nicht nur der direkte Kontakt zu den Vorbildern ist motivierend, den vier besten Absolvent*innen des Jahrgangs winkt ein Europaaufenthalt, in der Regel in Spanien dürfen sie dann in der Spitzengastronomie Erfahrungen sammeln. Wer die Kochschule erfolgreich absolviert, hat beste Jobperspektiven. Acurio erhält immer wieder Anfragen aus dem Ausland für seine Köche und Köchinnen, denn die peruanische Küche ist weltweit auf dem Vormarsch, angefangen von den Cevicherias, die Sushi-Bars zunehmend Konkurrenz machen. Der Bedarf nach Acurio-Schüler*innen ist groß. Er selbst benötigt regelmäßig Nachwuchs für sein wachsendes Imperium, das Ausland lockt die größten Talente und auch der Rest wird sicher unterkommen.

„Diese Schule hat vermocht, die Hoffnung wieder zu wecken, den Glauben in das Leben, in die Zukunft, in die Kraft, eine Chance zu haben. Die Obsession einer Gesellschaft wie der unseren sollte sein, dass kein Kind wegen fehlender Chancen auf der Strecke bleibt“, blickt der Meisterkoch in die Zukunft. Da der Staat seiner Idee bisher nicht nacheifert, will Acurio in einem weiteren Armenviertel Limas alsbald eine zweite Kochschule gründen. Dieses Mal im Südosten. „Wir haben es nicht geschafft, den Überfluss des Landes in das Wohlbefinden aller umzusetzen.“ Überfluss wie 800 Mais- und 3.000 Kartoffelsorten, immenser Fischreichtum und eine breite Palette an Früchten. 2021 begeht Peru den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. „Wenn ich an Peru 2021 denke, besorgt mich das, es quält mich.“ 2021 finden turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Acurio, selbst Sohn eines Politikers, wird wie in 2016 und ohne sein Zutun wieder von vielen als Präsidentschaftskandidat gehandelt werden. Der Präsident der Herzen ist er schon.

 

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