IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.

DIE KRISE SELBST VERWALTEN

Eingang zur „Bienenwabe“ 2021 Das Tor zur „Sozialistischen Kommune Panal 2021“  (Foto: Tobias Lambert)

Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels 23 de Enero hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohner*innen einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt. Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die „Sozialistische Kommune Panal 2021“ an. Panal bedeutet Bienenwabe. „Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung“, erklärt Ana Marín. „Die Königin ist für uns die Versammlung der Community. Und was wir uns aufbauen, verteidigen wir mit unserem Leben, denn die Biene stirbt, wenn sie sticht.“
Das 23 de Enero ist bis heute eine Bastion der Chavistas, der Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Früher hieß es scherzhaft, jeder der Hochhausblocks habe seine eigene marxistische Partei. Maríns Augen glänzen, wenn sie davon erzählt, wie Chávez vor 20 Jahren die zahlreichen linken Organisationen in dem politischen Projekt vereint hat, das unter dem Namen Bolivarianische Revolution bekannt wurde. Sie ist Aktivistin des Colectivo „Fuerza Alexis Vive“, der treibenden Kraft hinter Panal 21. Entstanden ist das Kollektiv während des kurzzeitigen Staatsstreichs gegen Chávez im April 2002, der Namensgeber Alexis González Revette wurde damals von putschenden Polizeieinheiten erschossen.
Seitens der rechten Opposition wird der Begriff Colectivo meist als Synonym für bewaffnete motorisierte Stoßtrupps der Regierung verwendet. Tatsächlich gibt es derartige Gruppen, auch das Kollektiv „Alexis Vive“ ist früher durchaus martialisch aufgetreten. Doch verbergen sich hinter den Colectivos ebenso zahlreiche linke Organisationen, die radikaldemokratische Basisarbeit betreiben. „Das ist an sich nichts Neues“, sagt Ana Marín. Auch früher schon seien linke Bewegungen als Guerillas oder Kommunist*innen diffamiert worden. Bei Gruppen, die das Spiel mitmachten und sich den Medien mit Waffen präsentierten, handele es sich jedoch häufig schlicht um Kriminelle.

„Sozialismus heißt für uns unabhängiger zu werden und uns selbst zu verwalten“

Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen „Kommunalen Staates“ sollten die kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können diese Räte sogenannte comunas (Kommunen) bilden. Nach einer Anfangsphase in reiner Selbstverwaltung erhielt Panal 21 umfassende Fördermittel seitens der Regierung Chávez. „Das was war eine sehr wichtige Hilfe, doch in der dritten Phase zeigt sich nun, ob wir als comuna funktionieren oder nicht.“ Mit den staatlichen Institutionen kooperiert Panal 21 noch immer. Im Gegensatz zu anderen sieht sich die Kommune aus dem 23 de Enero jedoch nicht als Anhängsel des Staates, sondern baut in mehreren Regionen Venezuelas ein Netzwerk produzierender comunas auf. „Sozialismus heißt für uns, dass wir unabhängiger von der staatlichen Finanzierung werden und uns selbst verwalten.“
Auf dem Gebiet von Panal 21 leben heute etwa 14.000 Menschen, die in sieben kommunalen Räten mit zahlreichen sozialen und kulturellen Gruppen organisiert sind. Die comuna betreibt eine Bäckerei, einen Textilbetrieb sowie eine Zuckerverpackungsanlage und baut Gemüse auf einer urbanen Ackerfläche an. Sogar eine eigene kommunale Währung gibt es. „Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“, sagt Marín.
Seit Jahren leidet Venezuela unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Versuche der Regierung unter Nicolás Maduro, die Wirtschaft mittels einer Währungsreform und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren, schlugen fehl. Die öffentlichen Dienstleistungen stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet. Der monatliche Mindestlohn beträgt zurzeit umgerechnet etwa 7,5 Dollar. Zusätzlich gibt es Lebensmittelgutscheine in gleicher Höhe. Im Privatsektor wird etwas mehr gezahlt, doch ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten die meisten Venezolaner*innen zurzeit nicht überleben.

„Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“

Zwischen Oktober 2018 und März dieses Jahres legalisierte die Regierung den Tausch von US-Dollar und schaffte die Preiskontrollen de facto ab. In der Folge stehen die meisten Produkte mittlerweile wieder in den Supermarktregalen, aber zu horrenden Preisen. Bargeld in der Landeswährung ist kaum zu bekommen, dafür wird der Dollar nun fast überall als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert. Lange Zeit machte die Regierung einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Opposition und der USA für die Krise verantwortlich, also die gezielte Sabotage und Hortung von Waren. Heute sieht sie das Hauptproblem in den US-Sanktionen.
Der linke Ökonom Manuel Sutherland erinnert hingegen an die Rolle der Regierung selbst. „Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat“. Durch den niedrig gehaltenen Dollarkurs habe die Regierung ab 2003 die Importe künstlich verbilligt, gleichzeitig jedoch der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass sehr viel Geld ins Ausland abgeflossen sei. „Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht“, sagt Sutherland. Die Sanktionen, die sich erst seit August 2017 gezielt gegen die Wirtschaft richten, hätten die Krise nicht ausgelöst, verschlimmerten die Situation vor allem der ärmeren Bevölkerung aber drastisch. Derzeit beobachtet Sutherland einen offiziell niemals erklärten Privatisierungskurs. „Die Regierung hat mit ihnen nahe stehenden Wirtschaftsakteuren und Militärs unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“, sagt er. Durch die US-Sanktionen sei es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. Daher investiere eine kleine aufstrebende Elite ihr Geld in plötzlich entstehende private Immobilienprojekte oder importiere Luxusgüter.

„Die Regierung hat unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“

Tatsächlich wächst in Caracas in jüngster Zeit eine Infrastruktur, die ausschließlich vermögende Leute anspricht. In Einkaufszentren und Luxushotels werden teure Importwaren von französischem Champagner über spanische Weine und Chorizo bis hin zu Handtaschen internationaler Modefirmen angeboten. Im historischen Stadtzentrum, das zahlreiche Regierungsgebäude beherbergt, ansonsten aber eine ärmere Wohngegend ist, sind hippe Cafés mit europäisch anmutendem Interieur entstanden. Die staatliche Supermarktkette Abastos Bicentenario, die seit 2010 stark subventionierte Lebensmittel verkauft hatte, ist bereits im vergangenen Jahr den privaten Tiendas CLAP gewichen. An den Eingängen prangt das identische Logo der ebenfalls als CLAP bezeichneten „Lokalen Produktions- und Versorgungskomitees“, die seit 2016 Lebensmittelkisten zu symbolischen Preisen an offiziell sechs Millionen Haushalte verteilen. Doch die Tiendas CLAP haben nichts mit den Kisten zu tun, sondern verkaufen überteuerte Waren. Im noch immer sozialistischen Regierungsdiskurs werden solch obskure Privatisierungen nicht an die große Glocke gehängt. „Von Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez’ Erbe fortzuführen“, sagt Sutherland. „Mit dem sozialistischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition.“
Ana Marín von Panal 21 hingegen sieht es positiv, dass etwa die Kommunen im Regierungsdiskurs noch immer präsent sind. „Doch es gibt große Defizite“, meint sie. „Denn die Regierung blickt vor allem auf Statistiken. Es geht aber nicht um die Anzahl der Kommunen, sondern um einen politischen Sprung.“ Die derzeitige Situation hinterlasse jedoch ihre Spuren. „Jetzt während der Krise ziehen sich viele Leute zurück und entpolitisieren sich.“ Sutherland traut der Regierung nicht mehr zu, aus eigener Kraft die Krise zu überwinden. „Sie hat dafür keine Instrumente“, sagt er. Die Erholung der Wirtschaft könne nur in einem Dialog zwischen den moderaten Sektoren beider politischer Lager ausgehandelt werden.
Nachdem Gespräche zwischen rechter Opposition und Regierung unter der Vermittlung Norwegens im September gescheitert waren, verkündete Maduro überraschend einen neuen Dialog mit einem kleineren Teil der Regierungsgegner*innen. Damit ist die Spaltung der rechten Opposition, die bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 zu einem Teilboykott geführt hatte, erneut aufgebrochen. „Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden“, meint Sutherland. „Wenn, dann wird die Regierung die Macht an eine ihnen näher stehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.“
Ana Marín will trotz aller Kritik nichts von einem Regierungswechsel wissen. „Wir glauben nicht an die Opposition, die während des Putsches 2002 unseren Compañero Alexis erschossen hat.“ Was die Regierung mit ihren Gegner*innen zu verhandeln habe, weiß die Aktivistin nicht. „Als comuna führen wir einen Dialog mit der Bevölkerung“, betont sie. „Das hier muss ein transparenter, ethischer Raum sein, der angesichts der Zersetzung der Gesellschaft als Vorbild gilt.“

 

DIE HÜGEL ORGANISIEREN SICH WIEDER

Laut und riesig Demonstrationszug vom benachbarten Viña del Mar nach Valparaíso (Foto: Vania Berríos)

„Ich fühle mich wie am Tag nach dem NO, glücklich“, bemerkt ein Nachbar in einem kleinen Laden im Viertel Cerro Bellavista. Der Tag nach der bislang größten Demonstration Chiles mit über sechs Millionen Teilnehmenden im ganzen Land fühlt sich für ihn und viele andere befreiend an. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist die Stimmung zum ersten Mal lockerer, der Wind weht Musikfetzen durch die Straßen, es herrscht Wochenendtreiben in den Hügeln. Inzwischen macht sich das Gefühl breit, dass die erste Seite eines neuen Kapitels aufgeschlagen wurde. Wie damals vor 31 Jahren, als die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Verbleiben an der Macht des Diktators Augusto Pinochet für weitere acht Jahre stimmte.
Die letzten Wochen waren voller vielseitiger Gefühle. Das Bewusstsein, einen historischen Moment mitzuerleben, ihn mit zu gestalten. Die Mühe, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Ungläubigkeit über die Ausmaße der Proteste. Die riesige Hoffnung, wirklich etwas ändern zu können. Aber auch die Wut und der Schrecken angesichts der Toten, der Verschwundenen, der Gefolterten, der sexualisierten Gewalt… es wiederholt sich. Viele Bewohner*innen von Valparaíso sehen Parallelen zu den siebziger Jahren. Auch jetzt singt die Bevölkerung wieder El pueblo, unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“) , die Polizei und das Militär reagieren mit Gewalt und agieren, als gäbe es keine Menschenrechte zu wahren, als ob es 30 Jahre Demokratie nie gegeben hätte.

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern. Valparaíso hat dabei wie immer zwei Gesichter: Hektik in der Ebene, Ruhe in den Hügeln. In der Ebene, dem Stadtzentrum, gehen tagsüber die Demonstrationen weiter. „Das Volk, das Volk, das Volk, wo ist es? Es ist auf den Straßen und fordert Würde!“, rufen die Protestierenden seit drei Wochen. Genau darum geht es seit Beginn der Proteste: die Würde zurück zu erlangen, die Bedingungen für ein Leben in Würde zu erkämpfen. Vor der Regionalverwaltung und auf den zentralen Plätzen sammeln sich Menschen, halten dort die Stellung oder versuchen, bis zum Kongress zu marschieren. Dabei sind vor allem Studierende und Aktivist*innen sozialer Bewegungen, zunehmend auch Gewerkschafter*innen und Familien. Die Demonstrant*innen schlagen auf ihre Kochtöpfe, die mit anderen Instrumenten zusammen spontane Protestorchester entstehen lassen.
Viele sind demonstrationserprobt, stellen sich Wasserwerfern und Tränengas fröhlich und ohne Angst entgegen. Solidarisch wird allen, die etwas abbekommen haben, eine Lösung aus Wasser und Backpulver ins Gesicht gespritzt. Tanzende Comparsas (Karnevalsgruppen) und Clowns lockern die Stimmung auf. Die Momente, in denen die Polizei mit Gummigeschossen ausrückt, sind gefürchtet, aber die Demonstrierenden lassen nicht locker. Am Rande wird Demozubehör angeboten: Mundschutz für 100 Pesos (umgerechnet 12 Cent) und Zitronen, um den Effekt des Tränengases abzumildern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie die Chilenen es selbst unter den widrigsten Bedingungen schaffen, Kleinstunternehmen zu errichten“, bemerkt eine Demonstrantin. Auf dem Weg nach Hause geht sie noch einen Kaffee trinken, auch wenn es schwierig ist, ein offenes Café zu finden.
Denn ein Großteil der Geschäfte ist geschlossen, viele wurden geplündert und in Brand gesteckt. In den ersten drei Tagen herrschte ein reger Verkehr zwischen Stadtzentrum und Hügeln. Menschen schleppten Taschen voller Lebensmittel und Kleidung hoch, Großbildfernseher, später Fahrräder, Zelte und ganze Vitrinen voller Brillen. Autos aller Art, von Klapperkiste bis SUV, fuhren vollgepackt bis ans Dach nach oben. Im Laufe der Protesttage tauchen immer mehr Videos in den sozialen Netzwerken auf, die zeigen, wie den Demonstrant*innen mit erheblicher Gewalt begegnet wird. Bei Plünderungen zeigten sich Polizei und Militär jedoch anfangs völlig überfordert – oder, wie sich in den folgenden Tagen herausstellt, nicht immer willig, diese überhaupt zu stoppen.
So konnte ich beobachten, wie sich die Carabineros von der Plünderung einer Apotheke zurückzogen. Erst als die Apotheke ausgeraubt und in Brand gesteckt worden war, waren sie wieder vor Ort. Videos zeigen außerdem Situationen, in denen Plündernde mit Polizei und Militär verhandeln, um Zugang zu einem Supermarkt zu bekommen. Erfolgreich, denn letztlich dürfen sie den Laden aufbrechen, die Polizei zieht sich zurück und rückt kurz darauf wieder an, um einige Leute festzunehmen.

Ist die Zerstörung der Stadt politisch gewollt?

Ausgehend von Geschehnissen wie diesen, die sich rasant über soziale Netzwerke verbreiten, besteht der Verdacht, die konservative und von der Nationalregierung ernannte Regionalverwaltung ziele darauf ab, die Wirtschaft der Stadt zu zerstören. Bislang wurden 90 Geschäfte geplündert und 15 Gebäude in Brand gesteckt – Grundlage für eine Wirtschaftskrise in der Hafenstadt. Die hiesige Polizei untersteht der Regionalverwaltung, die auf Befehl von Admiral Juan Andrés de la Maza handelt, während des Ausnahmezustands zuständiger Oberbefehlshaber der Region Valparaíso. Die Zerstörung der Stadt könnte politisch gewollt sein, denn nächstes Jahr stehen Kommunalwahlen an. Der bislang erfolgreiche und beliebte linke Bürgermeister Jorge Sharp ist dem konservativen Regionalchef Jorge Martínez schon lange ein Dorn im Auge. Der Verdacht erhärtet sich, als einige Tage später von dem rechten Politiker José Antonio Kast die Twitterkampagne #fuerasharp („Hau ab, Sharp“) angezettelt wird. Die politische Einmischung rechtskonservativer Politiker*innen, die nicht in Valparaíso leben und normalerweise wenig Interesse am lokalen Geschehen zeigen, ist auffällig.
Der Bürgermeister und die Gemeindeverwaltung halten dagegen. „Wir fordern die Bürger auf, sich nicht an den Plünderungen zu beteiligen. Die Zerstörung unserer Stadt ist kein Teil der legitimen sozialen Proteste. Ebenso appellieren wir an die Behörde, der die Sicherheitskräfte unterstehen, keine weiteren Plünderungen zuzulassen. Die Bürger dieser Stadt brauchen Sicherheit“, so das offizielle Statement. Gegen die Zerstörung der Stadt trommelt der Bürgermeister eine Allianz aus Besitzer*innen kleiner Geschäfte, Tourismusbetreibenden, Kleinfischer*innen und Vertreter*innen sozialer Organisationen zusammen. Es gibt öffentliche und live gestreamte Versammlungen, in dem kleinen Fischerhafen Caleta Membrillo und zuletzt im Gymnasium Matilde Brandau de Ross, wo alle zusammen Erfahrungen und Strategien besprechen.
Zunehmend und oft erfolgreich stellen Demonstrant*innen sich den Plünderungen von kleinen Läden entgegen. Selbst bislang unpolitische Leute halten etwa auf der zentralen Plaza Victoria eine Reihe Vermummter davon ab, Parkuhren zu zerstören. „Das zeigt, dass der gesunde Menschenverstand glücklicherweise weiterhin existiert, dass die Leute hier verstehen, worum es bei den Protesten geht“, so Alejandro, ein Demonstrant, der die Szene genau wie ich beobachtet.

Solidarität und Basisorganisation

Eine völlig andere Realität herrscht währenddessen in den Hügeln, wo die Menschen versuchen, ihr Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Die öffentlichen Plätze allerdings sehen anders aus als sonst, wenn nur zu bestimmten Zeiten Kinder und Hunde hier toben. Dieser Tage herrscht ein emsiges Treiben. Viele, die nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, treffen sich, analysieren das Geschehen, teilen ihre Anspannung, Ungewissheit, Schrecken und Freude. An einigen Tagen wird gemeinsam gekocht, Musik gemacht, abends werden alle Anwesenden zusammengerufen, um das Tagesgeschehen und weitere Aktivitäten zu besprechen. Pünktlich zum abendlichen Beginn der Ausgangsperre entsteht ein spontanes Konzert, auf Plätzen und aus den Fenstern erklingen Kochtöpfe, Instrumente und in voller Lautstärke El derecho de vivir en paz von Víctor Jara. Über vierzig Jahre neoliberaler Politik haben es nicht vollbracht, die Erinnerungen an Solidarität und Basisorganisation bei den Menschen auszulöschen.
Auf der Plaza Yungay nutzen die Nachbar*innen und Aktivist*innen des Gemeinschaftsgartens den Ansturm für Workshops über Selbstversorgung, städtische Landwirtschaft und Mülltrennung. Ein erstes Beet mit Salat wird angelegt. „Unser Ziel ist es, uns langfristig mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen“, so Paola, eine der Aktivist*innen. Die Absicht stößt auf mehr Interesse als sonst, erst einige Tage zuvor hielten die Plünderungen der Supermärkte und die mediale Panikkampagne über drohende Nahrungs­­­mittelengpässe die Bevölkerung in Atem. Dagegen standen die zuverlässigen Versorgungsstrukturen an der Basis, Selbstversorgerprojekte wie dieses, die kleinen Tante-Emma-Läden in den Stadtvierteln und natürlich die Märkte, die problemlos funktionierten. Im Gemeinschafts­garten Yungay ist auch Kompost willkommen, das freut viele, denn die Müllabfuhr kommt schon seit Anfang der Proteste nicht mehr. Die Gemeindeverwaltung schickt allerdings eigene kleine Lastwagen, um den Müllbergen in den Straßen entgegen zu treten und das Chaos ein bisschen zu ordnen. Die öffentlichen Gesundheitszentren und die von der Gemeindeverwaltung betriebenen Apotheken sind geöffnet, ebenso wie teilweise die Schulen, damit die Schüler*innen ihre Mahlzeit bekommen.
Präsident Piñera hat zwar oberflächliche Veränderungen angekündigt, die Protestierenden im ganzen Land wollen jedoch nicht ruhen, ehe er selbst zurücktritt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Darauf konzentriert sich jetzt auch die politische Basisarbeit in den Hügeln Valparaísos. Unterstützt durch den Aufruf der Gemeindeverwaltung, wird der Schwung der Proteste zur Stärkung der Stadtteilorganisation genutzt. Die Bevölkerung trifft sich in sogenannten cabildos (Bürger*innenversammlungen), diskutiert und erarbeitet Vorschläge für eine neue Verfassung. Denn alle wissen, dass jetzt der entscheidende Moment ist, um damit zu beginnen, diesem System der institutionellen Ungleichheit gemeinsam ein Ende zu setzen.
Einige Tage nach der Megademonstration beendet Präsident Piñera den Ausnahmezustand, Menschenrechtsbeobachter*innen von Amnesty International und den Vereinten Nationen treffen ein, die Regierung setzt auf Normalisierung.
„Aber ist es ‚normal‘, nach dem was geschehen ist und geschieht, zur Normalität zurückzukehren?“, fragt ein Plakat am streikenden Gymnasium Eduardo de la Barra – dort, wo einst Salvador Allende zur Schule ging, bevor er Arzt und später Präsident von Chile wurde. Wie damals gibt es auch heute wieder Hoffnung für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Damit dem Neoliberalismus Grenzen gesetzt werden und ein Leben in Würde wieder möglich wird.

 

WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 

MACRI BRINGT SELBSTVERWALTETE BETRIEBE IN DIE KLEMME

Argentinien steckt in der Krise. Ein jüngst erschienener Bericht der argentinischen Vereinigung von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) verdeutlicht, was der abstrakte Begriff Krise in der Realität bedeutet. Seit Beginn der Amtszeit von Mauricio Macri, also in den vergangenen 16 Monaten, haben mehr als 8.000 der etwa 500.000 KMU schließen müssen, was den Verlust von über 80.000 Arbeitsplätzen verursachte. Als Gründe werden die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen, beziehungsweise deren Folgen angegeben. Darunter sind die massiven Preisanstiege bei Strom, Gas und Wasser (im Durchschnitt über 400 Prozent), die Abwertung des Peso im Vergleich zum Dollar, die fast schrankenlose Öffnung des argentinischen Marktes für Importe, die im letzten Jahr bei über 40 Prozent liegende Inflation bei nicht ausreichendem Lohnausgleich und der damit verbundene Einbruch der Binnennachfrage.

Die empresas recuperadas, ebenfalls kleine und mittelständische Unternehmen, die sich jedoch in Arbeiter*innenhand befinden, haben sich als wesentlich krisenfester bewiesen, auch wenn sie den negativen Faktoren gleichermaßen ausgesetzt sind. Das liegt vor allem daran, dass sie nicht das Gewinnstreben über alles setzen, sondern einen sozialen Zweck erfüllen und ihre Hauptaufgabe in der Schaffung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen sehen.

Von 410 Übernahmeversuchen seit 2002 haben sich 370 empresas recuperadas etablieren können.

Von 410 Übernahmeversuchen seit 2002 haben sich 370 empresas recuperadas etablieren können, die heute gut 16.000 Menschen eine Arbeit sichern. Die meisten von ihnen befinden sich im Großraum Buenos Aires und umfassen so unterschiedliche Bereiche wie Metallverarbeitung, Nahrungsmittel- und Bekleidungsindustrie, Fleischereiwesen, Grafikdesign sowie Baugewerbe und Gastronomie.

Es ist nicht nur das neoliberale Wirtschaftsprogramm, das den empresas recuperadas aktuell zu schaffen macht, sondern auch die negative Einstellung der Regierenden gegenüber der Arbeiter*innenselbstverwaltung. Diese lässt sich besonders auf zwei Gründe zurückführen. Zum einen steht für Macri und Co. das Recht auf den Schutz des Privateigentums über jenem auf Arbeit. Diese Position fasste erst kürzlich ein Artikel in der konservativen und regierungsnahen Tageszeitung La Nación auf sehr eindrückliche Weise in Worte. Dort heißt es: „Jeder Verlust von Arbeitsplätzen ist zu bedauern. Aber dies rechtfertigt noch lange nicht die Missachtung des privaten Eigentumsrechtes, vor allem dann, wenn ein öffentlicher Nutzen nicht klar erkennbar ist und weder Gesundheit noch Sicherheit auf dem Spiel stehen. (…) Wenn die Mängel auf der Unfähigkeit oder korrigierbaren Faktoren des vormaligen Eigentümers beruhen, so erlaubt das Insolvenzrecht, dass ein neuer Besitzer die Vermögensgüter zum Wohle aller verwaltet.“

Anderseits gehört es zum Plan der Regierung Macri, die Produktionskosten im Land so weit wie möglich zu senken, um Auslandsinvestitionen anzulocken, die bisher allen seinen Versprechungen und Liberalisierungen zum Trotz noch ausgeblieben sind. Dazu müssen jedoch die Löhne massiv herabgesetzt und diese Maßnahme von den Arbeit*innen als einzige Chance zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze akzeptiert werden. Wenn jedoch Arbeit*innen erfolgreich Unternehmen übernehmen und verwalten, statuiert dies aus Sicht der Regierung Macri ein negatives Exempel, denn das allgegenwärtige Dogma „Es gibt keine Alternative“, kann so nicht mehr glaubhaft vermittelt werden.

Präsident Macri wird in seinen Anliegen sekundiert von Maria Eugenia Vidal. Die wie Macri seit 16 Monaten regierende Provinzgouverneurin von Buenos Aires ist eine eiserne Verfechterin des Privateigentums. Sie hat bereits bei fünf Unternehmensenteignungen zugunsten der Arbeiter*innen, ihr Veto dagegen eingelegt, nachdem diese bereits durch Parlament und Senat abgesegnet waren. Dies führte wiederum zu gewaltsamen Räumungsmaßnahmen durch die Polizei. So geschehen im Fall von Acoplados del Oeste (ADO), einer bereits seit zwei Jahren als Genossenschaft arbeitenden Fabrik zur Herstellung von LKW-Karosserien, deren 120 Arbeiter*innen von einem mehr als 600 Mann starken Polizeitrupp Anfang März aus der Fabrik getrieben wurde. Sie campieren seitdem davor. „All unsere Hoffnungen konzentrieren sich auf den 12. Mai. An diesem Tag entscheidet der zuständige Richter, ob er das private Unternehmen offiziell für insolvent erklärt und damit erneut den Weg für die Übernahme durch uns Arbeiter*innen frei gibt. Aber egal, was an diesem Tag geschieht, wir werden um unsere Lebensgrundlage kämpfen, wenn nötig auch mit härteren Bandagen. Denn in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage finden wir doch ansonsten keine Arbeit mehr“, so Jorge Gutiérrez, Präsident von ADO.

Auch Mauricio Macri lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn das Recht auf den Schutz des Privateigentums weit mehr wiegt, als die Sicherung von Arbeitsplätzen. Gegen die erst Ende 2015 vom nationalen Kongress beschlossene Enteignung des Hotels Bauen in Buenos Aires, für die dessen 130 Arbeiter*innen seit über 13 Jahren kämpften, wurde vom argentinischen Präsidenten am 26. Dezember 2016 ebenfalls ein Veto eingelegt. Die Erklärung, ein öffentlicher Nutzen sei nicht klar erkennbar und außerdem könne der Staat keine 30 Millionen Dollar aufbringen, um die Eigentümer*innen auszuzahlen. Dass die Familie Iurcovich, die das Hotel mit Krediten der Militärdiktatur errichtete und sie nie zurückzahlte, dem argentinischen Staat noch gut 85 Millionen Dollar schuldet, scheint er dabei zu vergessen. Die für den 19. April dieses Jahres angeordnete Zwangsräumung des Hotels konnte im letzten Moment durch eine Verfassungsbeschwerde und massive soziale Proteste aufgehalten werden. Doch erst, wenn sowohl im Kongress als auch im Senat zwei Drittel der Abgeordneten erneut für die Enteignung und Übertragung des Hotelgebäudes auf die Arbeiter*innen stimmen, müssen sich die kampferprobten Genoss*innen keine Sorgen mehr um ihre Arbeitsplätze machen. Wann genau diese Abstimmung erfolgen wird, ist unklar, jedoch sicher vor den Ende Oktober stattfindenden Parlamentswahlen.

Die zahlreichen positiven Beispiele und die Angst vor dem Fall in die Arbeitslosigkeit lassen immer mehr empresas recuperadas entstehen – trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage, der ablehnenden Regierungshaltung, der Entbehrungen, Unsicherheiten und Opfer, die der Kampf um die Unternehmensübernahme und Arbeiter*innenselbstverwaltung kostet. Nicht ohne Grund verkündeten die zwei Mitte-links stehenden Gewerkschaftsdachverbände CTA erst kürzlich kämpferisch in einer gemeinsamen Stellungnahme: „Ein Unternehmen, das schließt, ist ein Unternehmen, das von seinen Arbeiter*innen übernommen wird.“

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