Argentinien steckt in der Krise. Ein jüngst erschienener Bericht der argentinischen Vereinigung von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) verdeutlicht, was der abstrakte Begriff Krise in der Realität bedeutet. Seit Beginn der Amtszeit von Mauricio Macri, also in den vergangenen 16 Monaten, haben mehr als 8.000 der etwa 500.000 KMU schließen müssen, was den Verlust von über 80.000 Arbeitsplätzen verursachte. Als Gründe werden die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen, beziehungsweise deren Folgen angegeben. Darunter sind die massiven Preisanstiege bei Strom, Gas und Wasser (im Durchschnitt über 400 Prozent), die Abwertung des Peso im Vergleich zum Dollar, die fast schrankenlose Öffnung des argentinischen Marktes für Importe, die im letzten Jahr bei über 40 Prozent liegende Inflation bei nicht ausreichendem Lohnausgleich und der damit verbundene Einbruch der Binnennachfrage.
Die empresas recuperadas, ebenfalls kleine und mittelständische Unternehmen, die sich jedoch in Arbeiter*innenhand befinden, haben sich als wesentlich krisenfester bewiesen, auch wenn sie den negativen Faktoren gleichermaßen ausgesetzt sind. Das liegt vor allem daran, dass sie nicht das Gewinnstreben über alles setzen, sondern einen sozialen Zweck erfüllen und ihre Hauptaufgabe in der Schaffung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen sehen.
Von 410 Übernahmeversuchen seit 2002 haben sich 370 empresas recuperadas etablieren können.
Von 410 Übernahmeversuchen seit 2002 haben sich 370 empresas recuperadas etablieren können, die heute gut 16.000 Menschen eine Arbeit sichern. Die meisten von ihnen befinden sich im Großraum Buenos Aires und umfassen so unterschiedliche Bereiche wie Metallverarbeitung, Nahrungsmittel- und Bekleidungsindustrie, Fleischereiwesen, Grafikdesign sowie Baugewerbe und Gastronomie.
Es ist nicht nur das neoliberale Wirtschaftsprogramm, das den empresas recuperadas aktuell zu schaffen macht, sondern auch die negative Einstellung der Regierenden gegenüber der Arbeiter*innenselbstverwaltung. Diese lässt sich besonders auf zwei Gründe zurückführen. Zum einen steht für Macri und Co. das Recht auf den Schutz des Privateigentums über jenem auf Arbeit. Diese Position fasste erst kürzlich ein Artikel in der konservativen und regierungsnahen Tageszeitung La Nación auf sehr eindrückliche Weise in Worte. Dort heißt es: „Jeder Verlust von Arbeitsplätzen ist zu bedauern. Aber dies rechtfertigt noch lange nicht die Missachtung des privaten Eigentumsrechtes, vor allem dann, wenn ein öffentlicher Nutzen nicht klar erkennbar ist und weder Gesundheit noch Sicherheit auf dem Spiel stehen. (…) Wenn die Mängel auf der Unfähigkeit oder korrigierbaren Faktoren des vormaligen Eigentümers beruhen, so erlaubt das Insolvenzrecht, dass ein neuer Besitzer die Vermögensgüter zum Wohle aller verwaltet.“
Anderseits gehört es zum Plan der Regierung Macri, die Produktionskosten im Land so weit wie möglich zu senken, um Auslandsinvestitionen anzulocken, die bisher allen seinen Versprechungen und Liberalisierungen zum Trotz noch ausgeblieben sind. Dazu müssen jedoch die Löhne massiv herabgesetzt und diese Maßnahme von den Arbeit*innen als einzige Chance zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze akzeptiert werden. Wenn jedoch Arbeit*innen erfolgreich Unternehmen übernehmen und verwalten, statuiert dies aus Sicht der Regierung Macri ein negatives Exempel, denn das allgegenwärtige Dogma „Es gibt keine Alternative“, kann so nicht mehr glaubhaft vermittelt werden.
Präsident Macri wird in seinen Anliegen sekundiert von Maria Eugenia Vidal. Die wie Macri seit 16 Monaten regierende Provinzgouverneurin von Buenos Aires ist eine eiserne Verfechterin des Privateigentums. Sie hat bereits bei fünf Unternehmensenteignungen zugunsten der Arbeiter*innen, ihr Veto dagegen eingelegt, nachdem diese bereits durch Parlament und Senat abgesegnet waren. Dies führte wiederum zu gewaltsamen Räumungsmaßnahmen durch die Polizei. So geschehen im Fall von Acoplados del Oeste (ADO), einer bereits seit zwei Jahren als Genossenschaft arbeitenden Fabrik zur Herstellung von LKW-Karosserien, deren 120 Arbeiter*innen von einem mehr als 600 Mann starken Polizeitrupp Anfang März aus der Fabrik getrieben wurde. Sie campieren seitdem davor. „All unsere Hoffnungen konzentrieren sich auf den 12. Mai. An diesem Tag entscheidet der zuständige Richter, ob er das private Unternehmen offiziell für insolvent erklärt und damit erneut den Weg für die Übernahme durch uns Arbeiter*innen frei gibt. Aber egal, was an diesem Tag geschieht, wir werden um unsere Lebensgrundlage kämpfen, wenn nötig auch mit härteren Bandagen. Denn in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage finden wir doch ansonsten keine Arbeit mehr“, so Jorge Gutiérrez, Präsident von ADO.
Auch Mauricio Macri lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn das Recht auf den Schutz des Privateigentums weit mehr wiegt, als die Sicherung von Arbeitsplätzen. Gegen die erst Ende 2015 vom nationalen Kongress beschlossene Enteignung des Hotels Bauen in Buenos Aires, für die dessen 130 Arbeiter*innen seit über 13 Jahren kämpften, wurde vom argentinischen Präsidenten am 26. Dezember 2016 ebenfalls ein Veto eingelegt. Die Erklärung, ein öffentlicher Nutzen sei nicht klar erkennbar und außerdem könne der Staat keine 30 Millionen Dollar aufbringen, um die Eigentümer*innen auszuzahlen. Dass die Familie Iurcovich, die das Hotel mit Krediten der Militärdiktatur errichtete und sie nie zurückzahlte, dem argentinischen Staat noch gut 85 Millionen Dollar schuldet, scheint er dabei zu vergessen. Die für den 19. April dieses Jahres angeordnete Zwangsräumung des Hotels konnte im letzten Moment durch eine Verfassungsbeschwerde und massive soziale Proteste aufgehalten werden. Doch erst, wenn sowohl im Kongress als auch im Senat zwei Drittel der Abgeordneten erneut für die Enteignung und Übertragung des Hotelgebäudes auf die Arbeiter*innen stimmen, müssen sich die kampferprobten Genoss*innen keine Sorgen mehr um ihre Arbeitsplätze machen. Wann genau diese Abstimmung erfolgen wird, ist unklar, jedoch sicher vor den Ende Oktober stattfindenden Parlamentswahlen.
Die zahlreichen positiven Beispiele und die Angst vor dem Fall in die Arbeitslosigkeit lassen immer mehr empresas recuperadas entstehen – trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage, der ablehnenden Regierungshaltung, der Entbehrungen, Unsicherheiten und Opfer, die der Kampf um die Unternehmensübernahme und Arbeiter*innenselbstverwaltung kostet. Nicht ohne Grund verkündeten die zwei Mitte-links stehenden Gewerkschaftsdachverbände CTA erst kürzlich kämpferisch in einer gemeinsamen Stellungnahme: „Ein Unternehmen, das schließt, ist ein Unternehmen, das von seinen Arbeiter*innen übernommen wird.“