Die Lungen von Buenos Aires

Tickende Zeitbombe Beschäftigte der U-Bahn von Buenos Aires sind Asbest ausgesetzt (Foto: Hernán Piñera via Flickr (CC BY-SA 2.0 DEED)

Dieses Jahr haben die Arbeiter*innen der SUBTE, eines der ältesten U-Bahn-Netze der Welt, schon 22 Mal die Arbeit niedergelegt. Seit Jahren sind sie an asbestkontaminierten Arbeitsplätzen tätig. Infolgedessen sind beinahe neunzig SUBTE-Angestellte erkrankt und bisher drei verstorben. Die Gewerkschaft der U-Bahner*innen, die Asociación Gremial de Trabajadores del Metro y el Premetro (AGTSyP), hat eine Dekontaminierungsarbeit angestoßen, die noch 15 Jahre in Anspruch nehmen wird.

In den Jahren 2011 und 2012 gelangten, während der Amtszeit von Mauricio Macri als Bürgermeister von Buenos Aires, mit Asbest belastete, ausgemusterte U-Bahn-Waggons der Metro Madrid aus Spanien in die argentinische Hauptstadt. In Spanien ist Asbest zwar seit 2001 verboten, doch unter dem Namen Uralita noch allgegenwärtig. Dass die nach Südamerika exportierten U-Bahn-Waggons asbestverseucht waren, wundert also nicht. Angestellte des Unternehmens Metro hatten seit den 1990ern mit dem Material hantiert, ohne es zu wissen. Erste Funde des Materials in alten Flottenbeständen wurden geheim gehalten, bis im Jahr 2015 die ersten Arbeiter erkrankten. Manche verstarben und die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln. Als 2021 ein spanischer Metro-Arbeiter wegen seiner asbestbelasteten Lunge an Covid-19 starb, hatte man in Buenos Aires schon länger begriffen, was dies für die dortigen U-Bahn-Mechaniker*innen, -Fahrer*innen, Putzkräfte und Fahrkartenverkäufer*innen bedeutet. Ein subtiler Fall von Umweltkolonialismus. Nicht nur wegen des Madrider Exports wurde in kontaminierten Werkstätten − zum Beispiel im Taller Medalla Milagrosa (dt. Werkstatt der wunderbaren Medaille) der Linie E − und Tunneln gearbeitet. Manche Kolleg*innen waren darüber hinaus bereits an belasteten Waggons aus Japan tätig gewesen. Zudem haben Fahrer*innen in ihren Kabinen direkt über Asbestelementen gesessen.

Asbest ist ein Bau- und Dämmstoff, der seit Ende des 19. Jahrhunderts weltweit Verwendung fand, bevor er in Europa in den 1990er Jahren in Verruf geriet. Denn Asbest ist feuersicher, leicht, und wenn auch nicht „ewig haltbar“, so doch relativ langlebig. Asbestfasern aber sind in jeder Form extrem krebserregend. Es gibt keine Expositionsmenge, die nicht kritisch wäre; die Fasern sind lungengängig, was bedeutet, dass sie bis in die Lungenbläschen eindringen und vom Körper nicht ausgeschieden werden können. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass sie im Körper migrieren und außer Lungenkrebs und dem unheilbaren, hoch aggressiven Mesotheliom des Rippenfells sowie weiteren schweren Lungenkrankheiten auch andere Formen von Krebs auslösen können, etwa an den Eierstöcken. All diese Krankheiten können erst Jahrzehnte, ja bis zu sechzig Jahre nach der Kontamination auftreten. Damit ist die Beweislage, wenn es um die Anerkennung von Opfern und um Entschädigungen wegen Berufskrankheit geht, sehr schwierig.

Das extrem krebserregnde Asbest hat schon meherere U-Bahner getötet

Im Kampf für eine asbestfreie Arbeitsumgebung und für die Anerkennung der asbestbedingten Beschwerden als Berufskrankheit haben die Arbeiter*innen gemeinsam mit der Gewerkschaft der U-Bahner*innen AGTSyP mobil gemacht. Dabei haben sie sich nicht nur Kenntnisse in Toxikologie und Medizin angeeignet, sondern sind auch entschlossen an die Öffentlichkeit gegangen. Mittlerweile findet ihr Kampf breite Beachtung in den Medien, mehrere erkrankte Arbeiter sind immer wieder interviewt worden. Sie haben ihr halbes Leben lang für SUBTE gearbeitet. Der Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und Erkrankungen wird – wie so oft in vergleichbaren Fällen weltweit – von Vorgesetzten und in der Verwaltung abgestritten. So erzählt eine Sprecherin der AGTSyP von einem Kollegen, der nach Vorlage des Befundberichts beim Betriebsarzt von seinem direkten Vorgesetzten die Ansage bekam, seine Lungenärztin habe wohl nicht richtig studiert – im U-Bahn-Netz sei bessere Luft als im Park. Aus der Verkehrsbehörde Buenos Aires hieß es, die Anti-Asbest-Kampagne sei vorgeschoben, es werde eigentlich um Arbeitszeitverkürzungen gefeilscht. Genau diese aber legen Ärzt*innnen nahe, um die Asbest-Exposition zu reduzieren. Die Tatsache, dass viele Arbeiter*innen an einer Krankheit leiden, die betriebsverschuldet ist, macht darüber hinaus auch den Kampf um Frühverrentung nachvollziehbar. Schließlich ist die Belastung, nach einer tödlichen Diagnose weiter arbeiten zu müssen, physisch und psychisch kaum auszuhalten.

El Eternauta-Mural im U-Bahnhof Uruguay Toxische Flocken im Subte von Buenos Aires (Foto: Marcus Christoph)

Erste Untersuchungen von SUBTE-Arbeiter*innen führten dazu, dass manche als Risikogruppe aufgenommen und medizinisch weiter beobachtet wurden, andere aber nicht. Einer der ersten Arbeiter mit Krebsdiagnose machte bekannt, dass sämtliche U-Bahn-Linien von Buenos Aires asbestkontaminiert sind. Also die ganze „Lunge“ des Verkehrssystems der Stadt. Der Arbeiter hat mit einer halben Lunge überlebt, Kollegen aus seiner Werkstatt Rancagua hingegen sind an ihrer Erkrankung gestorben. Familienangehörige streiten darum, dass die sehr aufwendigen Unter-*suchungen verrenteter Erkrankter gewährleistet werden. Sie mussten oft sogar selbst nachforschen, woher die Erkrankungen stammten. Denn argentinische Arbeiter*innen sind weder aufgeklärt noch zu Schutzmaßnahmen aufgefordert worden. Die U-Bahn-Arbeiter*innen kämpfen nun um würdige Arbeitszeiten und -bedingungen, verlangen aber vor allem „asbesto cero“, das heißt, keine Grenzwert-Beteuerungen von Betrieb und Behörden, sondern „Null Asbest“. Es sind noch 200 Tonnen Material vorhanden, 90 Tonnen bislang entfernt worden.

Die Kontamination betrifft auch die Fahrgäste

Wie viele andere Betroffene auf der Welt sprechen die U-Bahn-Arbeiter*innen aus Buenos Aires von der tickenden Zeitbombe in ihrem Körper. Sie machen mit ihren Streiks und Demonstrationen aber auch auf die Gefährdung der Fahrgäste aufmerksam sowie darauf, dass die Asbestfasern aus dem U-Bahn-System in die Stadtluft treten. In dieser sind sie sowieso in gewisser Menge vorhanden, aber in den U-Bahn-Betrieben gibt es keinen Ort, der nicht belastet wäre: Sogar in den Rolltreppen steckt das Material. Nun wird in Argentinien, zwanzig Jahre nach dem Asbestverbot, auch noch nach oben, ins Tageslicht geschaut: Dächer, Wassertanks, viele emblematische Gebäude der architektonischen Moderne Lateinamerikas dürfen theoretisch, genauso wie betroffene Bauwerke in Europa, nicht angerührt werden, sondern gehören verkapselt. Und da fällt auf, dass in den Arbeitsräumen der AGTSyP ein Plakat mit der legendären Comicfigur El Eternauta hängt (1957-1959). Mit einem Schutzanzug bekleidet läuft dieser durch ein von Außerirdischen eingenommenes Buenos Aires; durch die Luft schwirren toxische Flocken. Damit wieder zurück in den Untergrund: Erstaunlicherweise zeigt die SUBTE-Station Uruguay der Linie B ein Wandkeramikgemälde mit einer Szene aus der späteren Eternauta-Version von Alberto Breccia, weswegen Acoplando, die Zeitschrift der U-Bahn-Arbeiter*innen, einen Beitrag unter dem Titel Subternauta postete, in dem es um einen unsichtbaren Gegner geht, der die Luft kolonisiert.


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Narrenfreiheit für Konzerne

Ausschnitt aus einem LN-Cover von 2001 Titelthema: Gewerkschaften in Lateinamerika

Auch wenn der US-amerikanische Traum, eine gesamtamerikanische Freihandelszone (FTTA) durchzusetzen, in dieser Form nicht wahr geworden ist: Der neoliberale Freihandel ist 22 Jahre nach dem Vorschlag des damaligen US-Präsidenten George W. Bush dominierender denn je. Mittlerweile wird eine US-Hegemonie im Freihandel mit lateinamerikanischen Staaten (wie im Editorial 323 befürchtet) durch die EU, die noch in diesem Jahr die Ratifizierung eines Abkommen mit den Mercosur-Staaten anstrebt, streitig gemacht. Was die Zementierung eines neokolonialen und neoliberalen Handelsmodells angeht, stehen sich die USA und die EU allerdings in nichts nach.

Die Befürchtungen, die im Mai 2001 geäußert wurden, haben sich also trotzdem bewahrheitet:
Freihandelsabkommen stärken die Macht der Konzerne auf Kosten von Umwelt und Menschenrechten. Auch bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen sind die entsprechenden Klauseln bereits abgeschlossener Abkommen der EU mit lateinamerikanischen Staaten bislang nicht aktiviert worden. Das ist derzeit im Fall von Peru zu beobachten, wo trotz tödlicher Repression von Protesten keinerlei Konsequenzen gezogen wurden.

Im Neoliberalismus genießen Konzerne Narrenfreiheit. Mehrere europäische Staaten haben bereits bilaterale Investitionsabkommen mit lateinamerikanischen Staaten wie Mexiko abgeschlossen, die Investoren ein Sonderklagerecht einräumen. So können diese den mexikanischen Staat vor internationalen Schiedsgerichten verklagen – beispielsweise für entgangene Gewinne infolge der Umsetzung von Umweltgesetzen. Opfer von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverbrechen haben indes keinen Zugang zu einem solchen Sonderklagerecht.

Heute lässt sich also festhalten, dass, entgegen der Bekräftigungen mehrerer lateinamerikanischer Staatschef*innen, Konzerne die alleinigen Gewinner dieser Form des Handels sind. Das zeigt sich besonders dramatisch in der Agrarindustrie: Agrobusiness und Chemiekonzerne machen horrende Profite, während die Existenzen von Kleinbäuer*innen und die Ernährungssouveränität lokaler Gemeinschaften massiv bedroht werden, Landkonflikte und -konzentration immer weiter zunehmen und sowohl die Biodiversitäts- als auch die Klimakrise angeheizt werden. Bereits im Zuge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA konnten derlei Folgen beobachtet werden. Aktuell gelten entsprechende Überlegungen als eine der primären Sorgen bezüglich des geplanten EU-Mercosur-Abkommens.

Trotzdem behaupten Staatschef*innen weiterhin, Freihandelsabkommen böten eine Gelegenheit zur Kooperation unter demokratischen Staaten und brächten mehr Wohlstand und Entwicklung für alle. Im Zeitalter des Greenwashings wird zudem beteuert, diese Abkommen respektierten die Nachhaltigkeitsziele und würden sogar aktiv zu deren Umsetzung beitragen. Angesichts der Realität, die vielerorts anders aussieht, lässt jedoch auch die Kritik aus der Zivilgesellschaft nicht nach.

Um mit der neokolonialen Ordnung, in der gerade ländliche, indigene und andere Gemeinschaften vor Ort keine Rechte haben, zu brechen, muss das internationale Handels- und Wirtschaftsmodell komplett umstrukturiert werden. Dafür müssen die vom Ausbeutungssystem im Rahmen des Freihandels direkt betroffenen Menschen in die Entscheidungen einbezogen werden.

Johanna Saggau ist LN-Redaktionsmitglied
Antonella Navarro ist LN-Redaktionsmitglied


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GEGEN DEN KONSENS

Nicht genug Versammlungen finden noch am 22. Streiktag statt (Foto: DHSF Cusco)

Die Bevölkerung in Espinar, einer zum Department Cusco gehörenden Provinz in den südlichen Anden, war von den Regierungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie besonders betroffen. Die über 100 Tage andauernde strikte Ausgangssperre, die der konservative Präsident Martín Vizcarra am 16. März verhängt hatte, traf vor allem Viehzucht und Landwirtschaft. Sie machen in der Provinz etwa ein Drittel der Wirtschaftskraft aus. Dennoch waren sie im Gegensatz zum Bergbau nicht in dem im April veröffentlichten Regierungsplan zur Wiederbelebung der Wirtschaft enthalten.

Aufgrunddessen einigten sich die Vereinigung der Stadtviertel und städtischen Ansiedlungen Espinars, des Salado-Flussgebiets und die Einheitsfront der Verteidigung sowie Vertreter*innen der Distriktbürgermeister*innen am 14. Mai auf eine gemeinsame Forderung, um die prekäre Situation vieler Bewohner*innen abzumildern. Sie forderten die Einmalzahlung von 1000 peruanischen Soles (umgerechnet rund 240 Euro, Anm. d. Red.) für 44 000 Personen. Das Geld sollte aus dem Entwicklungsfonds entnommen werden, der zwischen der Minengesellschaft Antapaccay, die zum multinationalen Glencore-Konzern gehört, und der Provinz Espinar besteht.

Seit 2003 besteht ein Abkommen, das die ökonomische Entwicklung der Region zum Ziel hat. Der Entwicklungsfonds soll laut Abkommen von städtischer, bäuerlicher, staatlicher und unternehmerischer Seite konsensuell verwaltet werden. Der zu entnehmende Betrag gehöre also nicht der Minengesellschaft, so Rolando Condori, Präsident des regionalen Kampfkomitees von Espinar, gegenüber dem peruanischen Journalismusportal OjoPublico. „Es handelt sich um einen Fonds aus dem geschlossenen Rahmenabkommen”. Ähnlich äußerte sich der Vertreter des Netzwerks von Entwicklungsorganisationen Red Muqui, Jaime Borda: “Es ist ein einvernehmlich geschlossener Vertrag. Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft, sondern ein Transferabkommen für einen Anteil der Gewinne aus der Mine. Daher verlangt die Bevölkerung, dass der Vertrag eingehalten wird”.

„Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft“

In den nachfolgenden Verhandlungen weigerten sich die Vertreter*innen Antapaccays mehrfach, den Transferleistungen zuzustimmen. Nach Ansicht des Unternehmens käme eine solche Verwendung der Gelder dem Vertragsbruch gleich. Als Gegenvorschlag unterbreitete es ein Maßnahmenpaket, das aus der Verteilung von Medikamenten, Nahrungsmitteln, der Einrichtung von kostenlosem Internet und einem Kreditfonds für wirtschaftlich angeschlagene Bauern und Bäuerinnen sowie Geschäftsinhaber*innen bestehen sollte.

Dieser Gegenvorschlag war für weite Bevölkerungsteile inakzeptabel, da er an ihren konkreten Bedürfnissen vorbeiging. Insbesondere, weil nur wenige Menschen die Direktzuwendungen der peruanischen Zentralregierung, den sogenannten bono universal, erhalten hatten, drängte die Lokalverwaltung Espinars weiter auf eine monetäre Lösung. Am 14. Juli riefen die Mitglieder des provinziellen Kampfkomitees von Espinar und die Einheitsfront der provinziellen Interessensvertretung schließlich den unbefristeten Streik aus. Nachdem die Polizeipräsenz in der Provinz massiv erhöht wurde, ließen die Konflikte zwischen Sicherheitskräften und den Protestierenden nicht lange auf sich warten. “Die Bevölkerung hat sich friedlich versammelt. Sie [die Polizei, Anm. d. A.] haben auf alle eingeschlagen. Es waren viele Einsatzkräfte aus Lima vor Ort. Unsere sozialen Proteste sind friedlicher Natur”, verurteilte Rolando Condori das Vorgehen der Polizei.

Die Regierung ist vor dem größten Arbeitgeberverband eingeknickt

Dem Bericht der Nationalen Menschenrechtskoordination (CNDDHH) und Human Rights without Frontiers zufolge wurden drei Personen durch scharfe Munition und acht weitere durch Schrotkugeln und Tränengas verletzt. Zeug*innen berichteten über die Anwendung von Folter bei 20 Festgenommenen. Außerdem veröffentlichte der nationale Journalistenverband ANP ein Statement, in dem berichtet wird, dass der Reporter Vidal Merma im Zuge der Proteste von der Polizei bedroht wurde. Neben bewährten Protestformen wie Straßenblockaden und Protestmärschen setzten sich die Demonstrierenden am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, demonstrativ über das geltende Versammlungsverbot hinweg und zogen durch die Provinzhauptstadt. Während Präsident Vizcarra in Lima die Ausweitung von Bergbauprojekten – unter anderem auch solche von Glencore – als Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung anpries, gab man sich in Espinar kämpferisch. Sofern der Präsident nicht auf die Forderungen der Demonstrant*innen eingehen werde, würde „die Bevölkerung Maßnahmen ergreifen, um die Mine zu schließen“, sobald die Bevölkerung dies fordere, so Rolando Condori. Der Streik endete nach 24 Tagen, am 7. August, unter der Schlichtung des vorübergehenden Ministerratsvorsitzenden Pedro Cateriano. Jener war nur 20 Tage im Amt und wurde am 6. August durch den Ex-Militär Walter Martos abgelöst.

Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Bergbaugesellschaften sind in Espinar keine Neuheit. Auch vor dem Rahmenabkommen 2003 hatte es Proteste gegen den Bergbau in der Region gegeben. 2012 wurde der Konflikt blutig, nachdem Bäuerinnen und Bauern über mit Schwermetallen verunreinigtes Land klagten: vier Personen kamen bei Protesten ums Leben. Trotz der Bergbauindustrie leben in der Region Espinar offiziellen Angaben zufolge 38 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 40 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Zentralregierung Limas hat bisher meist die Interessen der Industrie vertreten, ohne auf die Bedürfnisse der andinen Bevölkerung einzugehen.

Der schwelende Konflikt wurde durch das Reaktivierungsprogramm der Regierung verschärft. Mittlerweile ist die Regierung Vizcarras vor dem größten Arbeitgeberverband, der Confiep, eingeknickt. In den ersten Monaten dieses Jahrs schien es zunächst so, als könne Vizcarra die Distanz zur Großindustrie wahren. Doch ab Ende Mai folgte die Regierung beinahe jedem Vorschlag der Confiep, wobei sich insbesondere die Wirtschaftsministerin María Alva exponierte. Seither liegt das Hauptaugenmerk der Regierung darauf, den Wiederaufschwung der Wirtschaft offensiv zu forcieren. So wurden nach und nach Geschäfte, Industrie und Einkaufszentren geöffnet, während Krankenhäuser unter der Last der vielen Covidpatient*innen kollabierten. Bisher sind nach offiziellen Zahlen der Regierung zufolge über 29 400 Menschen an oder mit einer Sars-Cov-2-Infektion gestorben, damit hat Peru die höchste Sterberate in Lateinamerika.

Konflikte um extraktive Projekte kommen nicht zur Ruhe

Als eine der ersten Wirtschaftsmaßnahmen wurden die extraktiven Industrien wieder auf volle Auslastung gebracht. Eindrücklich brachte Pedro Cateriano, der kurzzeitige Premier, den neuen Regierungsfokus auf den Punkt. In seiner Antrittsrede vor dem Kongress belebte er einen der kolonialen Leitsprüche der neoliberalen peruanischen Rechten („Peru, Land des Bergbaus“) wieder. Dies war einer der Gründe, warum ihm verschiedene Fraktionen im Parlament die Vertrauensfrage negativ beschieden: die populistischen Parteien „Wir können“ (Podemos) und Union für Peru (UPP), die Bauernpartei FREPAP sowie der Linksblock Breite Front (Frente Amplio) stimmten gegen ihn. Vizcarra musste daraufhin ein neues Kabinett ernennen.

Das Reaktivierungsprogramm ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass Konflikte um extraktive Projekte nicht einmal während einer globalen Pandemie zur Ruhe kommen. Noch immer stehen Beschwerdeverfahren über Bergbauvorhaben aus, etwa gegen die Kupferbergwerke Tía Maria und Las Bambas in den südperuanischen Andendepartments Arequipa und Apurímac. Bei Protesten gegen die von vielen empfundene staatliche Vernachlässigung in der Krise sowie gegen die Ölförderung durch das kanadische Unternehmen Petrotal im Amazonasdepartment Loreto wurden in der Nacht zum 9. August drei Kukama von der Polizei erschossen. Die Kukama hatten unter anderem eine bessere Gesundheitsversorgung gefordert.

In Espinar ist seit der Schlichtung mittlerweile ein Monat vergangen und die sozialen Konflikte in der Region schwelen weiterhin. Währenddessen breitet sich das Virus weiter aus: In der Region gibt es über 1500 Infizierte und bereits 10 Tote. Viele Bäuerinnen und Bauern fordern Gerechtigkeit für die Opfer der Polizeigewalt. Das Gelände der Mine befindet sich derweil unter Polizeischutz.


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ARGENTINIEN IN AUFRUHR

„¡Basta!“ – Schluss! „¡Macri renunciá!“ – Macri tritt zurück! Das fordern inzwischen immer mehr Argentinier*innen, denn das erste Jahr der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri hat in großen Teilen der Bevölkerung vor allem eines hervorgerufen: Enttäuschung und Wut über die leeren Versprechungen vom Kampf gegen die Armut und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Massenentlassungen im privaten und öffentlichen Sektor, fast tägliche Nachrichten über die Schließung kleiner und mittelständischer Unternehmen, wirtschaftliche Rezession, massive Preisanstiege, immer mehr Menschen rutschen in Armut und keine Aussicht auf Besserung. Das ist die sozio-ökonomische Bilanz der Allianz Cambiemos unter Führung des Präsidenten Macri nach 15 Monaten Regierung.

Die Lehrkräfte stehen mit ihrem Unmut beileibe nicht allein.

Ungeachtet des eklatanten Verfehlens aller Wahlversprechungen bittet der Präsident die Mitbürger*innen weiterhin um eine positive Einstellung und Geduld, denn er gibt sich überzeugt, der Aufschwung stehe kurz bevor. Allerdings sind es nicht nur die negativen Wirtschafts- und Sozialdaten, sondern auch die ständig neuen Skandale um Korruption und Vetternwirtschaft, die die Glaubwürdigkeit der Regierung stark beeinträchtigen. Dabei wird es immer grotesker. Erst im Februar versuchte Macri sich anlässlich seines Geburtstages am 8. Februar selbst zu beschenken: 70 Milliarden argentinische Pesos (umgerechnet etwa vier Milliarden Euro) Schulden sollten erlassen werden, Schulden, die die Unternehmerfamilie Macri in ihrer Zeit als Eigentümer der argentinischen Post (seit 2003 wieder in staatlicher Hand) angehäuft hatte. Dieser Vorstoß ist nur einer von fünf Fällen mutmaßlicher Korruption Macris, wegen derer inzwischen auf nationaler Ebene Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet wurden.

Seit Macri am 1. März die politische Sommerpause offiziell für beendet erklärt hatte, strömen die Argentinier*innen in Scharen auf die Straßen, um ihren Unmut kundzutun. Doch obwohl die Regierung mit Protesten gerechnet hatte, stand sie ungläubig vor der Vielzahl der Märsche und Menschen und bezichtigte jene, die zu den Demonstrationen aufgerufen hatten, der gezielten Destabilisierung.

Den Protestreigen eröffneten die Lehrer*innen, Erzieher*innen und Dozent*innen am 6. März mit landesweiten Demonstrationen und Streiks. Eigentlich sollte an diesem Tag die Schule nach den Sommerferien wieder losgehen, aber da die Provinzregierung in Buenos Aires, und ihr folgend die Mehrzahl der anderen Provinzen, maximal 18 Prozent Gehaltserhöhung über das Jahr verteilt geben wollten, beschlossen die Lehrkräfte in den Arbeitskampf zu treten. Die Gewerkschaften der Lehrer*innen fordern 35 Prozent Gehaltsanstieg: zehn Prozent um den Verlust an Kaufkraft des Vorjahres wettzumachen, da die Inflation 2016 mit über 40 Prozent klar über dem Gehaltsanstieg von im Durchschnitt etwa 30 Prozent lag, und 25 Prozent, um die prognostizierte Inflation in diesem Jahr auszugleichen. Sowohl die nationale als auch die Regierung der Provinz Buenos Aires rechnen aber mit nicht mehr als 18 Prozent Preisanstieg und liegen damit unter einer Vielzahl von Schätzungen. Außerdem wird aus Regierungssicht ein nachträglicher Inflations-ausgleich nicht für notwendig gehalten.

Die ohnehin angespannte Situation spitzte sich noch zu, als Macri, feuriger Befürworter der Privatisierung des Bildungssektors, in einer öffentlichen Stellungnahme zu den Ergebnissen eines PISA-ähnlichen Test verkündete, dass es ihm für all jene Kinder leid täte, die „in die öffentlichen Schulen abgerutscht seien“. Die Welle der Entrüstung, die daraufhin das Land erschütterte, spiegelte sich auch im 400.000 Menschen starken „Föderalen Marsch der Lehrer*innen“ wider, der am 21. März in allen Landesteilen begann und am 22. März auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, der Casa Rosada, kulminierte. Fazit des Konfliktes bislang: elf Streiktage, drei große Demonstrationen allein in Buenos Aires und La Plata (Hauptstadt der Provinz Buenos Aires), eine noch verschärfte Konfliktlage in einigen Provinzen.

Maria Eugenia Vidal, Provinzgouverneurin von Buenos Aires, die ihr Angebot inzwischen von 18 auf 19 Prozent „verbesserte“, versucht streikbrechende Maßnahmen durchzusetzen, die dann vor Gericht gestoppt werden. Vidal treibt unterdessen auch die Dämonisierung der Proteste und von Gewerkschaftsführer*innen voran. Sie hofft zudem darauf, dass die mobilisierten Lehrer*innen des Kampfes irgendwann müde werden. Bisher trügt diese Hoffnung.

Die Lehrkräfte stehen mit ihrem Unmut beileibe nicht allein. Am 7. März riefen die Gewerkschaften zum Protest, was im gesamten Land etwa eine Million Arbeiter*innen auf die Straße trieb. Hintergrund dieser massiven Mobilisierung sind die sehr unpopulären Anpassungsmaßnahmen, Subventionskürzungen, die zu drastischen Anstiegen der Gas-, Wasser- und Stromkosten und beim öffentlichem Transport führten und von denen weitere in den kommenden Monaten angekündigt sind. Hinzu kommen die anhaltenden Entlassungen und viel zu niedrige Gehälter. Die Gemengelage ist explosiv. Neben Plakaten, die sich eben über all jenes beschwerten, war der am meisten gehörte Slogan an diesem sonnigen Protesttag die Forderung nach einem Generalstreik, der auf Grund der Verhandlungen zwischen dem größten Gewerkschaftsverband CGT (seit vergangenem Jahr unter einem Triumvirat wieder vereint) und der Regierung hinausgezögert wurde. Auch an diesem 7. März wollte sich die Führungstroika der CGT auf kein Datum festlegen, doch die aufgeheizte Menge wollte dies nicht mehr durchgehen lassen. Bevor sie die Bühne stürmen konnte, hatten die Gewerkschaftsführer bereits panisch die Flucht ergriffen. Die CGT konnte dem Druck der Basis nicht standhalten. Mehr als eine Woche später – und nachdem die zwei kleineren, Mitte-links-Verbände Gewerkschaftsverbund Argentiniens (CTA) und autonomer Gewerkschaftsbund (CTA) auf einem gemeinsamen Plenum mit 1700 Teilnehmer*innen, einen Generalstreik und eine weitere Demonstration für den 30. März ausgerufen hatten – gab die Führung der CGT klein bei und beschloss einen Generalstreik für den 6. April. Daraufhin änderten die beiden CTAs ihren Plan und schlossen sich dem Streik am 6. April an, der allerdings ohne Demonstration stattfinden soll. Weil dies auch als „Sonntagsstreik“ verhöhnt wird, behielten die CTAs den Aufruf zu den Protesten am 30. März bei.

Auch Argentiniens Frauenbewegung war im März alles andere als untätig. Der Marsch und Streik der Frauen am 8. März, der im ganzen Land mehrere Hunderttausend, vor allem Frauen, auf die Straße trieb, war eindrucksvoll. Traurigen Anlass gibt es genug: Laut Statistik wird in Argentinien alle 18 Stunden eine Frau ermordet, hinzu kommen jene aus dem Kreis der LGBTIQ. Auch schwule, lesbische, trans*, inter-, bisexuelle und queere Communities schlossen sich den Protesten am 8. März an. Doch es ist nicht nur diese erschreckende Zahl, die die Frauen auf die Barrikaden gehen lässt und Argentinien zu einem der Länder macht, das weltweit die größte Frauenbewegung hat. In Argentinien verdienen Frauen im Schnitt 27 Prozent weniger als Männer, sind in hohen und sogar mittleren Positionen stark unterrepräsentiert und leisten den Großteil an Haushalts- und Caretätigkeiten. Abtreibung ist verboten. Hinzu kommt die nach wie vor sehr starke machistische Tendenz, die täglich auf offener Straße erlebbar ist, wenn mal wieder ein sich für unwiderstehlich haltender Mann einen unflätigen Spruch in Richtung einer Frau ablässt.

Neben dem Marsch der Frauen war der Marsch zur Erinnerung und Wahrheit am 24. März einer der vielfältigsten und buntesten. In Gedenken an den 41. Jahrestag des Beginns der Militärdiktatur 1976 wurde viel geboten. Theatralische Interventionen, musikalische Darbietungen und Gesänge, Tausende selbst geschriebener Schilder, vor allem gegen die aktuelle Regierung. Mit gutem Grund: Die Regierung Macri zog es vor, an diesem Tag keinen offiziellen Akt durchzuführen, und zeigt sich auch ansonsten eher verständnisvoll hinsichtlich der Verbrecher und Verbrechen der Diktatur. Abwechselnd stellen sogar Regierungsmitglieder die im kollektiven Gedächtnis tief verankerte Zahl von 30.000 festgenommenen Verhaftet-Verschwundenen in Frage. Dementsprechend war es nur eine logische Konsequenz, dass das Motto des diesjährigen Marsches lautete: „Es waren 30.000 und es war Völkermord“.

Der„heiße März“ liefert einen potenziellen Vorgeschmack auf den kommenden April. Bereits jetzt geht die Angst vor einem erneuten 2001 um, als am 19. und 20. Dezember bei Massenprotesten über 30 Menschen durch Polizist*innen erschossen und mehr als 200 verletzt wurden und sich der Präsident Fernando de la Rúa im Helikopter aus der Casa Rosada absetzte. Die Regierung von Präsident Macri lässt sich jedenfalls bislang kaum von ihrem neoliberalen Anpassungs- und Sparkurs abbringen, kriminalisiert die Proteste und verschärft Konflikte sogar noch. So erst kürzlich im Fall des international bekannten Hotel Bauen, das vor 13 Jahren von seinen Arbeiter*innen übernommen und in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Gegen die Ende 2015 beschlossene endgültige Enteignung des vorherigen Eigentümers und die Übertragung des Hotels auf die Arbeiter*innen, legte Macri zu Beginn dieses Jahres ein Veto ein. Sollten die Arbeiter*innen das Bauen nicht bis zum 19. April geräumt haben, so die Anordnung des Präsidenten, werde es zwangsgeräumt. Massive Proteste sind programmiert.

Allein auf internationaler Ebene findet die Regierung bei Gleichgesinnten noch breite Unterstützung, was das rapide Voranschreiten der Verhandlungen zum lange geplanten Freihandelsabkommen zwischen dem Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) und der EU unterstreicht. Auch das vom 5. bis 7. April in Buenos Aires stattfindende Wirtschaftsforum für Lateinamerika (das regionale Davos) sowie die 11. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation Mitte Dezember in Buenos Aires zeigen: Argentinien ist mit Macri in den Schoß des Neoliberalismus zurückgekehrt. Ob sich Macri bis Dezember an der Regierung hält, wird von einer wachsenden Zahl an Argentinier*innen beweifelt.

 


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