DAS MENSCHENRECHT AUF DIE EIGENE IDENTITÄT

Feiert 10-jähriges Das Gesetz Ley de Identidad de Género garantiert trans Personen seit 2012 das Rech auf die eigene Geschlechtsidentität (Foto: Valeria Tonero/Wikimedia Argentina, CC BY-SA 4.0)

In den 2010er Jahren wurde in Argentinien eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die natürlichen Rechte von Personen anerkennen und gewährleisten sollen. Dazu gehört das Recht auf Ehe für alle, auf künstliche Befruchtung und eben das Recht über die Anerkennung der Geschlechtsidentität als Menschenrecht im Jahr 2012. Argentinien wurde damit zum Pionierland für die Rechte von trans Personen und Travesti (Der Eigenbegriff Travesti beschreibt eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

Das Ley de Identidad de Género beinhaltet die Abschaffung pathologisierender Verfahren zur Feststellung der Geschlechtsidentität. Nicht mehr die Anerkennung psychischer Störungen, Hormonbehandlungen oder Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung bestimmten das Recht darauf, den eigenen Namen und den Eintrag zur Geschlechtsidentität zu verändern: Von nun an wurde der Schwerpunkt auf die eigene Wahrnehmung und individuellen Erfahrungen über das eigene Geschlecht gelegt. Allein auf dieser Grundlage hat jeder Erwachsene das Recht, Vornamen, Geschlechtseintrag sowie das Erscheinungsbild an die empfundene Geschlechtsidentität anzupassen. Trans Personen müssen seitdem keine langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren mehr auf sich nehmen, um ihre Geschlechtsidentität anerkennen zu lassen. Stattdessen wurde auf ein einfaches und kostenloses Verwaltungsverfahren umgestellt, welches sich ohne juristischen Beistand durchlaufen lässt. Die Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung einer Namensänderung wurde abgeschafft und diese als vertrauliche Information eingestuft. Dabei darf, im Gegensatz zu anderen Ländern, auch kein Randvermerk auf der Geburtsurkunde gemacht werden, wenn es zu einer Namensänderung kommt – stattdessen muss eine neue Urkunde ausgestellt werden. Um das Menschenrecht auf Geschlechtsidentität auch für Kinder und Jugendliche zu garantieren, ist ein besonderes Verfahren vorgesehen. So ist die Anpassung des Vornamens, der Angabe zum Geschlecht sowie des Passbildes nicht verpflichtend. Auch Namen, die nicht im Ausweisdokument vermerkt sind, müssen dabei respektiert werden – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Auf den Antrag der Betroffenen soll nur noch der selbst gewählte Vorname für Vorladungen, Akten und alle anderen Verfahren oder Zustellungen verwendet werden.

Das Gesetz garantiert die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“

Unter der Überschrift „Freie Entfaltung der Persönlichkeit” wurde zudem festgelegt, dass keine gerichtliche oder behördliche Genehmigung für chirurgische Eingriffe und/oder umfassende Hormonbehandlungen zur Anpassung des Körpers an die selbst empfundene Geschlechtsidentität erforderlich ist.

Schließlich legt das Ley de Identidad de Género fest, dass keine Regel, Verordnung oder Verfahren die Ausübung und Inanspruchnahme des Rechts auf Geschlechtsidentität einschränken, ausschließen oder unterdrücken darf. Die Vorschriften müssen stets zugunsten der Zugänglichkeit zu diesem Recht ausgelegt und angewandt werden. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie der Ausschuss für Kinderrechte und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte haben in den Folgejahren bestätigt, was in dem bahnbrechenden argentinischen Gesetz festgehalten worden ist: das Recht auf Geschlechtsidentität ist ein Menschenrecht. Es steht jedem Menschen altersunabhängig zu und weist alle Merkmale der Menschenrechte auf: Es ist universell, unverzichtbar, dauerhaft, voneinander abhängig, progressiv und nicht widerrufbar, es schützt die conditio humana, die schwächsten Bevölkerungsgruppen, sorgt für Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit. Aus diesen Merkmalen ergibt sich, dass jeder Versuch, das Recht außer Kraft zu setzen, mit dessen Verfassungsrang kollidieren würde. So haben rechtsfeindliche Äußerungen wie der Vorschlag des Abgeordneten aus Salta, Andrés Suriani, „die Gender-Ideologie abzuschaffen”, in unserem Rechtssystem keinen Platz.

Heute, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes hat sich also das heteronorme System, in dem andere über die Geschlechtsidentität von Menschen urteilen, gewandelt. Stattdessen gilt nun ein autonomes System: Für die Anerkennung durch den Staat ist nunmehr der Ausdruck der eigenen Erfahrung ausschlaggebend. Das garantiert trans Personen Zugang zu einer rechtlichen Anerkennung ihrer Identität. Und auch bei der gesellschaftlichen Anerkennung tut sich immer mehr. Zudem können trans Personen eine Behandlung zur Anpassung an die sekundären Geschlechtsmerkmale ihres selbst empfundenen Geschlechts in Anspruch nehmen – ohne umständliche Verfahren und gerichtliche Genehmigungen. Bei der Beantragung dieser Behandlungen kommt es jedoch in vielen Fällen zu Verzögerungen, Ablehnungen, und Missachtungen von Seiten der Sozial- und Krankenversicherungen, die die Betroffenen dazu zwingen, ihre Ansprüche vor Gericht geltend zu machen oder aufzugeben. Das gestaltet sich jedoch für viele trans Personen schwierig: Laut den 2018 aktualisierten sogenannten Brasilia-Regeln sind sie eine schutzbedürftige Gruppe, die Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz hat. Dennoch haben Gerichtsurteile das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung für trans Personen gestärkt. Auch wenn es für die Gesundheitsdienstleister teurer sei, müsse der Zugang gewährleistet werden und dürfe weder verweigert noch verschleppt werden. Gleichzeitig steht eine multidisziplinäre Spezialisierung auf die Gesundheit von Travesti und trans Personen noch aus.

In Hinblick auf die Beschäftigungssituation von trans Personen wurden auf kommunaler, Provinz- und nationaler Ebene Verordnungen und Gesetze über Quotenregelungen geschaffen. Diese wurden jeweils schrittweise umgesetzt, da darin nicht die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern die Besetzung bestehender Stellen vorgesehen war.

Leider hat keine der Regierungen der Stadt Buenos Aires, die seit 2012 bis heute im Amt waren, die gesetzlich festgelegte Beschäftigungsquote für trans Personen umgesetzt. In ihren Erklärungen hieß es immer, „einige” trans Personen hätten Arbeitsplätze erhalten. Es gab jedoch keine transparente Regelung, um sicherzustellen, dass es sich nicht um politische Klientelarbeit handelt oder dass die gesetzliche Quote erfüllt wurde. (Mit dem Cupo Laboral Travesti Trans wurde 2020 zusätzlich festgelegt, dass ein Prozent der Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung mit trans Personen und Travesti besetzt wird. Anm. d. Red.)

Im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt wurden verschiedene Hilfsprogramme für trans Personen eingerichtet. Doch ebenso wenig wie Feminiziden in Argentinien ein Ende bereitet wurde, ist der Kampf gegen Transfemizide abgeschlossen. Das Frauenbüro des Obersten Gerichtshofs hat die Kategorie Transfeminizid zwar in die Statistik über geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen. Doch immer wieder bleiben Fälle unaufgeklärt oder trans Personen verschwunden. So wie der trans Jugendliche Tehuel, der seit März 2021 vermisst wird. Obwohl der Staat Anklage erhoben und die Angeklagten vor Gericht gestellt hat, fragen Angehörige und soziale Bewegungen immer noch: „Wo ist Tehuel?”

Außerdem stehen weiterhin Entschädigungen für trans Personen aus, die Verfolgung, Diskriminierung und Schikane durch staatliche Behörden erlitten haben. In vielen Fällen wurden Menschen für die eigene Geschlechtsidentität kriminalisiert. So sahen Polizeiverordnungen Sanktionen für das „Tragen von Kleidung eines anderen Geschlechts“ vor. Polizeibeamte nutzten diese, um trans Personen zu erpressen, auszubeuten oder zu missbrauchen.

Auch im Bereich der politischen Partizipation bleibt viel zu tun. Nur eine trans Frau sitzt bisher in einem offiziell gewählten Amt: Tía Gaucha wurde im Jahr 2022 für die Partei Frente de Todos zur Stadträtin in Escobar in der Provinz Buenos Aires gewählt. Damit wir für uns selbst sprechen können, steht bei allen politischen Kräften also eine stärkere Beteiligung von trans Personen, in Form von Kandidaturen mit realen Wahlchancen aus.

Für das nächste Jahrzehnt bleibt viel zu tun. Seit 2012 wurden für trans Personen zwar bedeutende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte errungen, anerkannt und wirksam. Die größte Herausforderung scheint jedoch im Bereich der alten und neuen gesellschaftlichen Stereotype zu liegen. Der Vormarsch der extremen Rechten in der Welt, in der Region und im Land, der sich in Rassismus und Transfeindlichkeit ausdrückt, erfordert eine klare, präzise, wirksame und energische Kommunikationspolitik – sowohl seitens des Staates als auch von sozialen Bewegungen und Organisationen. Nur so können wir hasserfüllte Slogans wie „Sie wechseln doch nur das Geschlecht, um früher in Rente zu gehen” oder „Solange ein Kind nicht isst, können wir der Hormonbehandlung von trans Personen keine Priorität einräumen” entkräften. Denn diese kursieren neben zahlreichen anderen beleidigenden Ausdrücken in den Medien und Netzwerken.

Wie gefährlich es ist, wenn sich ausgrenzende und ausschließende Kategorien und Schlagworte über Jahrzehnte gesellschaftlich verbreiten, auch in bestimmten konfessionellen und pseudointellektuellen Kreisen, erkennen wir in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Herausforderung für heute und für das kommende Jahrzehnt besteht darin, die zerbrechlichen, aber effekthaschenden Theorien der „Gender-Ideologie” und die Förderung ihrer rechtsfeindlichen Ziele zu stören. Sie sind Element einer ausschließenden Politik. Nur so können die menschliche Dimension und das Wesen der Geschlechtsidentität als Menschenrecht gesellschaftlich verstanden werden. Und nur so kann verstanden werden, dass dies nicht nur einer Gruppe, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommt.


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IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.


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