DAS MENSCHENRECHT AUF DIE EIGENE IDENTITÄT

Feiert 10-jähriges Das Gesetz Ley de Identidad de Género garantiert trans Personen seit 2012 das Rech auf die eigene Geschlechtsidentität (Foto: Valeria Tonero/Wikimedia Argentina, CC BY-SA 4.0)

In den 2010er Jahren wurde in Argentinien eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die natürlichen Rechte von Personen anerkennen und gewährleisten sollen. Dazu gehört das Recht auf Ehe für alle, auf künstliche Befruchtung und eben das Recht über die Anerkennung der Geschlechtsidentität als Menschenrecht im Jahr 2012. Argentinien wurde damit zum Pionierland für die Rechte von trans Personen und Travesti (Der Eigenbegriff Travesti beschreibt eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

Das Ley de Identidad de Género beinhaltet die Abschaffung pathologisierender Verfahren zur Feststellung der Geschlechtsidentität. Nicht mehr die Anerkennung psychischer Störungen, Hormonbehandlungen oder Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung bestimmten das Recht darauf, den eigenen Namen und den Eintrag zur Geschlechtsidentität zu verändern: Von nun an wurde der Schwerpunkt auf die eigene Wahrnehmung und individuellen Erfahrungen über das eigene Geschlecht gelegt. Allein auf dieser Grundlage hat jeder Erwachsene das Recht, Vornamen, Geschlechtseintrag sowie das Erscheinungsbild an die empfundene Geschlechtsidentität anzupassen. Trans Personen müssen seitdem keine langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren mehr auf sich nehmen, um ihre Geschlechtsidentität anerkennen zu lassen. Stattdessen wurde auf ein einfaches und kostenloses Verwaltungsverfahren umgestellt, welches sich ohne juristischen Beistand durchlaufen lässt. Die Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung einer Namensänderung wurde abgeschafft und diese als vertrauliche Information eingestuft. Dabei darf, im Gegensatz zu anderen Ländern, auch kein Randvermerk auf der Geburtsurkunde gemacht werden, wenn es zu einer Namensänderung kommt – stattdessen muss eine neue Urkunde ausgestellt werden. Um das Menschenrecht auf Geschlechtsidentität auch für Kinder und Jugendliche zu garantieren, ist ein besonderes Verfahren vorgesehen. So ist die Anpassung des Vornamens, der Angabe zum Geschlecht sowie des Passbildes nicht verpflichtend. Auch Namen, die nicht im Ausweisdokument vermerkt sind, müssen dabei respektiert werden – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Auf den Antrag der Betroffenen soll nur noch der selbst gewählte Vorname für Vorladungen, Akten und alle anderen Verfahren oder Zustellungen verwendet werden.

Das Gesetz garantiert die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“

Unter der Überschrift „Freie Entfaltung der Persönlichkeit” wurde zudem festgelegt, dass keine gerichtliche oder behördliche Genehmigung für chirurgische Eingriffe und/oder umfassende Hormonbehandlungen zur Anpassung des Körpers an die selbst empfundene Geschlechtsidentität erforderlich ist.

Schließlich legt das Ley de Identidad de Género fest, dass keine Regel, Verordnung oder Verfahren die Ausübung und Inanspruchnahme des Rechts auf Geschlechtsidentität einschränken, ausschließen oder unterdrücken darf. Die Vorschriften müssen stets zugunsten der Zugänglichkeit zu diesem Recht ausgelegt und angewandt werden. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie der Ausschuss für Kinderrechte und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte haben in den Folgejahren bestätigt, was in dem bahnbrechenden argentinischen Gesetz festgehalten worden ist: das Recht auf Geschlechtsidentität ist ein Menschenrecht. Es steht jedem Menschen altersunabhängig zu und weist alle Merkmale der Menschenrechte auf: Es ist universell, unverzichtbar, dauerhaft, voneinander abhängig, progressiv und nicht widerrufbar, es schützt die conditio humana, die schwächsten Bevölkerungsgruppen, sorgt für Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit. Aus diesen Merkmalen ergibt sich, dass jeder Versuch, das Recht außer Kraft zu setzen, mit dessen Verfassungsrang kollidieren würde. So haben rechtsfeindliche Äußerungen wie der Vorschlag des Abgeordneten aus Salta, Andrés Suriani, „die Gender-Ideologie abzuschaffen”, in unserem Rechtssystem keinen Platz.

Heute, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes hat sich also das heteronorme System, in dem andere über die Geschlechtsidentität von Menschen urteilen, gewandelt. Stattdessen gilt nun ein autonomes System: Für die Anerkennung durch den Staat ist nunmehr der Ausdruck der eigenen Erfahrung ausschlaggebend. Das garantiert trans Personen Zugang zu einer rechtlichen Anerkennung ihrer Identität. Und auch bei der gesellschaftlichen Anerkennung tut sich immer mehr. Zudem können trans Personen eine Behandlung zur Anpassung an die sekundären Geschlechtsmerkmale ihres selbst empfundenen Geschlechts in Anspruch nehmen – ohne umständliche Verfahren und gerichtliche Genehmigungen. Bei der Beantragung dieser Behandlungen kommt es jedoch in vielen Fällen zu Verzögerungen, Ablehnungen, und Missachtungen von Seiten der Sozial- und Krankenversicherungen, die die Betroffenen dazu zwingen, ihre Ansprüche vor Gericht geltend zu machen oder aufzugeben. Das gestaltet sich jedoch für viele trans Personen schwierig: Laut den 2018 aktualisierten sogenannten Brasilia-Regeln sind sie eine schutzbedürftige Gruppe, die Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz hat. Dennoch haben Gerichtsurteile das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung für trans Personen gestärkt. Auch wenn es für die Gesundheitsdienstleister teurer sei, müsse der Zugang gewährleistet werden und dürfe weder verweigert noch verschleppt werden. Gleichzeitig steht eine multidisziplinäre Spezialisierung auf die Gesundheit von Travesti und trans Personen noch aus.

In Hinblick auf die Beschäftigungssituation von trans Personen wurden auf kommunaler, Provinz- und nationaler Ebene Verordnungen und Gesetze über Quotenregelungen geschaffen. Diese wurden jeweils schrittweise umgesetzt, da darin nicht die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern die Besetzung bestehender Stellen vorgesehen war.

Leider hat keine der Regierungen der Stadt Buenos Aires, die seit 2012 bis heute im Amt waren, die gesetzlich festgelegte Beschäftigungsquote für trans Personen umgesetzt. In ihren Erklärungen hieß es immer, „einige” trans Personen hätten Arbeitsplätze erhalten. Es gab jedoch keine transparente Regelung, um sicherzustellen, dass es sich nicht um politische Klientelarbeit handelt oder dass die gesetzliche Quote erfüllt wurde. (Mit dem Cupo Laboral Travesti Trans wurde 2020 zusätzlich festgelegt, dass ein Prozent der Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung mit trans Personen und Travesti besetzt wird. Anm. d. Red.)

Im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt wurden verschiedene Hilfsprogramme für trans Personen eingerichtet. Doch ebenso wenig wie Feminiziden in Argentinien ein Ende bereitet wurde, ist der Kampf gegen Transfemizide abgeschlossen. Das Frauenbüro des Obersten Gerichtshofs hat die Kategorie Transfeminizid zwar in die Statistik über geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen. Doch immer wieder bleiben Fälle unaufgeklärt oder trans Personen verschwunden. So wie der trans Jugendliche Tehuel, der seit März 2021 vermisst wird. Obwohl der Staat Anklage erhoben und die Angeklagten vor Gericht gestellt hat, fragen Angehörige und soziale Bewegungen immer noch: „Wo ist Tehuel?”

Außerdem stehen weiterhin Entschädigungen für trans Personen aus, die Verfolgung, Diskriminierung und Schikane durch staatliche Behörden erlitten haben. In vielen Fällen wurden Menschen für die eigene Geschlechtsidentität kriminalisiert. So sahen Polizeiverordnungen Sanktionen für das „Tragen von Kleidung eines anderen Geschlechts“ vor. Polizeibeamte nutzten diese, um trans Personen zu erpressen, auszubeuten oder zu missbrauchen.

Auch im Bereich der politischen Partizipation bleibt viel zu tun. Nur eine trans Frau sitzt bisher in einem offiziell gewählten Amt: Tía Gaucha wurde im Jahr 2022 für die Partei Frente de Todos zur Stadträtin in Escobar in der Provinz Buenos Aires gewählt. Damit wir für uns selbst sprechen können, steht bei allen politischen Kräften also eine stärkere Beteiligung von trans Personen, in Form von Kandidaturen mit realen Wahlchancen aus.

Für das nächste Jahrzehnt bleibt viel zu tun. Seit 2012 wurden für trans Personen zwar bedeutende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte errungen, anerkannt und wirksam. Die größte Herausforderung scheint jedoch im Bereich der alten und neuen gesellschaftlichen Stereotype zu liegen. Der Vormarsch der extremen Rechten in der Welt, in der Region und im Land, der sich in Rassismus und Transfeindlichkeit ausdrückt, erfordert eine klare, präzise, wirksame und energische Kommunikationspolitik – sowohl seitens des Staates als auch von sozialen Bewegungen und Organisationen. Nur so können wir hasserfüllte Slogans wie „Sie wechseln doch nur das Geschlecht, um früher in Rente zu gehen” oder „Solange ein Kind nicht isst, können wir der Hormonbehandlung von trans Personen keine Priorität einräumen” entkräften. Denn diese kursieren neben zahlreichen anderen beleidigenden Ausdrücken in den Medien und Netzwerken.

Wie gefährlich es ist, wenn sich ausgrenzende und ausschließende Kategorien und Schlagworte über Jahrzehnte gesellschaftlich verbreiten, auch in bestimmten konfessionellen und pseudointellektuellen Kreisen, erkennen wir in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Herausforderung für heute und für das kommende Jahrzehnt besteht darin, die zerbrechlichen, aber effekthaschenden Theorien der „Gender-Ideologie” und die Förderung ihrer rechtsfeindlichen Ziele zu stören. Sie sind Element einer ausschließenden Politik. Nur so können die menschliche Dimension und das Wesen der Geschlechtsidentität als Menschenrecht gesellschaftlich verstanden werden. Und nur so kann verstanden werden, dass dies nicht nur einer Gruppe, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommt.

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