Stimmen zum 50. Jahrestag des Putsches

Compañero presidente Das Bild Salvador Allendes ist auf den Gedenkdemos stets präsent (alle Fotos: Diego Reyes Vielma)

Die Regierung der Unidad Popular strebte in Chile 1970 bis 1973 einen demokratischen Sozialismus an. Das war ein Projekt, das weltweit viele ersehnten, schon weil mit dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 ähnliche Versuche gescheitert waren.
Am 11. September 1973 putschte das Militär, massiv unterstützt von der CIA, eine Junta aus den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Polizei übernahm die Macht. Tausende Gegner des Militärs wurden verhaftet, gefoltert, ermordet oder verschwanden einfach. Sehr viele flohen ins Ausland. In Berlin entfaltete sich unmittelbar nach dem Putsch eine vielfältige Solidaritätsarbeit. Es gab eine spontane Demonstration am Olivaer Platz. Man traf sich am Sonntag in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde der Technischen Universität zur Gründung des Berliner Chile-Komitees. Die Auflage der schon vor dem Putsch gegründeten Solidaritätszeitschrift Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000 Exemplare. Bei einer Versammlung im Haus der Kirche nannte Helmut Gollwitzer den Putsch „Klassenkampf von oben“ und fragte nach dem Konto für den Widerstand in Chile. Die unvergessliche Elfriede Irral richtete es sofort ein. In den nächsten Jahren floss eine Million Mark nach Chile.
Fragt man sich heute, was aus all dem geworden ist, so ist hervorzuheben, dass die Solidarität nicht nachgelassen hat. Die Chile-Nachrichten existieren immer noch, wenn auch unter dem Namen Lateinamerika Nachrichten. Und die Redaktion ist jung geblieben.
Leider hat der politische Prozess in Chile nicht zu einer gründlichen Veränderung geführt. Die Verfassung der Militärs ist immer noch in Kraft. Es gibt also noch viel zu tun.

// Urs Müller-Plantenberg // Soziologe, Professor für Lateinamerikanistik, LN-Mitgründer // Berlin

Die Erinnerung am Leben halten Fotos von Verschwundenen auf einer Gedenkdemo

Seit meiner Kindheit habe ich in den Nachrichten immer wieder Frauen mit den Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen gesehen. Jahr für Jahr habe ich von den Gräueltaten der Pinochet-Diktatur erfahren. Und so hoffte ich Jahr für Jahr auch, dass wir es irgendwann herausfinden würden: „Wo sind sie?“ Heute, 50 Jahre nach dem Putsch, leben immer weniger Beteiligte und es wird immer schwieriger, den Verbleib der Verschwundenen zu erfahren. Nach 50 Jahren leugnen Teile der chilenischen Gesellschaft immer mehr die Geschichte, indem sie Menschenrechtsverletzer zu Opfern erklären und die Figur Pinochets verherrlichen. Es macht mir Sorgen, dass es 50 Jahre nach dem Putsch an Erinnerung und Gerechtigkeit fehlt – in einem Land, in dem die Versöhnung mit jedem Tag weiter entfernt scheint. Ich hoffe, dass der Pakt des Schweigens zwischen den Militärs und ihren zivilen Handlangern eines Tages beendet wird, um eine echte Versöhnung zu erreichen.

// Diego Reyes Vielma // Fotograf // Santiago de Chile

Diktator Pinochet in Flammen Seine neoliberalen, autoritären Ideen leben weiter

Ich bin erst 32 Jahre alt, der Putsch war vor 50 Jahren. Ich habe ihn nicht erlebt, aber er hat sich in meine Erinnerung und in die kollektive Erinnerung meines Landes eingebrannt. Dass es bis heute keine Gerechtigkeit gibt, kommt uns teuer zu stehen: Es wird immer normaler, die Taten der Junta von Pinochet und der Diktaturverbrecher im Gefängnis von Punta Peuco zu rechtfertigen. Und die Ultrarechte, von der diese Rechtfertigungen kommen, könnte es bald ins Präsidentenamt schaffen.
Dass es in den 1990er und 2000er Jahren keine politischen und rechtlichen Konsequenzen gab, hat für das ganze Land schlimme Folgen. Das Weiterleben des von der Junta entworfenen autoritären Konzeptes der „geschützten Demokratie“, die fortgesetzte Machtposition des Militärs, die Selbstgefälligkeit der Mitte-Links-Regierungen der Postdiktaturzeit und die intensive Rebranding-Arbeit der Rechten haben uns in eine lächerliche Situation manövriert: Narrative aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie der sehr lebendige Antikommunismus hindern uns daran, uns gesellschaftliche Rechte zu erkämpfen.
Dieser 11. September war für mich ein düsteres Datum. Ich habe das Gefühl, wir haben lange von der Hoffnung, von Idealen und dem Kampf gelebt. Aber die ganze Zeit – ich meine dabei nicht nur 2019, sondern auch die sogenannte Revolution der Pinguine von 2006, die Bewegung der Studierenden von 2011 – wussten wir, dass die politische Gleichgültigkeit uns im Nacken sitzt. Die Rechte schaffte es stets, die Situation zu drehen und eine Bevölkerung, die ihren Alltag durch radikale Veränderungen bedroht sah, zu überzeugen.
Ich verliere also Stück für Stück die Hoffnung – aber nicht den Wunsch, dass die Dinge sich ändern. So dass wir alle zusammen sagen können: Nie wieder! NUNCA MÁS!

// Nicolás Palacios // Geograf // Zürich

An diesem 11. September habe ich gesehen, wie die Leugnung der Diktaturverbrechen durch die Rechte voranschreitet. Die Regierung konterte mit einem geschönten Bild von Allende als „Demokrat“, ohne das Programm der Unidad Popular zu erwähnen. Beim diesjährigen Gedenkmarsch zum Hauptfriedhof mussten sich teilnehmende Organisationen akkreditieren, damit der Präsident teilhaben konnte. Aber es kam wie üblich zu Repression. In Berlin stellte die chilenische Botschaft Fotos von Landbesetzungen während der Allendezeit aus. Gleichzeitig plant die Regierung ein Gesetz, das Räumungen erleichtert und Grundbesitzer*innen schützt, die ihren Besitz mit Kugeln verteidigen wollen.Während der sozialen Revolte von 2019 haben wir gesagt, dass die Übergriffe der Carabineros auf die Zivilbevölkerung Menschenrechtsverletzungen waren. Das bedeutete, dass man im September, wenn man auf die Verbrechen der Diktatur hinwies, indirekt auch von den sozialen Protesten sprach. Als die jetzige Regierung sich der Wiederherstellung des Images der Carabineros widmete und Gesetze durchsetzte, die ihnen Straffreiheit garantierten, untergrub sie damit nicht nur die Revolte, sondern auch die Kämpfe gegen die Diktatur: Wenn die Carabineros eine so ernstzunehmende Institution sind, haben sie dann wirklich Menschenrechtsverletzungen zu verantworten? Sind die Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur dann nicht auch Übertreibungen? Ich frage mich: Kann der Gedenktag vor den Bürokrat*innen, die ihn heute verwalten, gerettet werden?

// Luis Cortés Vergara // Student // Berlin

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Berlin sein würde. Noch weniger, dass ich den 50. Jahrestag des faschistischen Militärputsches dort erleben würde, der das Leben von Präsident Salvador Allende beendete und den Tod und das Verschwindenlassen Tausender zur Folge hatte.
Während ich auf der Demo in Berlin darauf wartete, meinen Redebeitrag zu halten, habe ich mich mit Chilenen unterhalten, die schon seit mehr als 48 Jahren in Deutschland leben. Sie haben mir erzählt, wie sie auf einmal aus Chile fliehen mussten. Unter dieser Barbarei litt ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem die, die sich politisch oder sozial engagiert hatten. In meinem Redebeitrag habe ich von den neuen Herausforderungen unseres Landes berichtet und einen Bogen geschlagen: von unseren Problemen in den 1980er Jahren bis zu den riesigen Problemen, die die Diktatur hinterlassen hat. Ihre Gesetze haben die Ausplünderung und fehlende Wertschätzung reicher Ökosysteme bewirkt, die dem freien Markt überlassen wurden – bis hin zum Wasser, das bis heute in privatisiert ist.
Um es einfach auszudrücken: Ich habe den Gedenktag mit Heimweh und Freude erlebt. Heimweh, weil ich nicht zu Hause war. Freude, weil ich eine flüchtige Nähe mit meinen chilenischen Brüdern erlebt habe, die so weit weg von unserem Land leben.

// Jorge Díaz Marchant // Aktivist der Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA // Puente Alto

„Heute fädeln wir den roten Faden unseres Gedenkens auf: In seinem Zentrum stehen die Kämpfe und Widerstände der Menschen, der Frauen und Queers während der tausend Tage der Regierung Allende und der zivil-militärischen Diktatur. Unsere Erinnerung ist der Motor und das Licht, um die Gegenwart infrage zu stellen und unsere Strategien und Kämpfe der Zukunft zu entwerfen. (…) Sie können uns weder unsere Erinnerung noch unsere Zukunft nehmen. Wie eine Beschwörung, die aus unserem Land und unserem Innersten kommt, erinnern wir heute daran: Als Feministinnen vergessen und verzeihen wir keinen Putsch und keinen Schlag.
Nicht weiter, nie wieder! Es leben die, die kämpften, kämpfen und kämpfen werden!”

// Die Coordinadora Feminista 8M in der chilenischen Le Monde Diplomatique

Wieder Tränengas auf den Straßen von Santiago Die Demo zum 50. Jahrestag des Putsches wurde von den Carabineros unterbrochen

50 Jahre sind vergangen seit dem Putsch in Chile. Vorbereitet wurde er auch in der Colonia Dignidad: In der deutschen Sektensiedlung, die stets gute Beziehungen zur deutschen Botschaft und zum Auswärtigen Amt unterhielt, fanden paramilitärische Übungen mit Rechtsextremen statt. Sie war ein Umschlagplatz für Waffen – mit Beteiligung oder zumindest mit Wissen des BND. Nach dem Putsch wurden politische Gefangene dort gefoltert und ermordet, ihr Schicksal wurde nie aufgeklärt, noch immer werden Leichen in Gräbern auf dem Gelände vermutet. Die chilenische Justiz ermittelt zwar noch, doch die Aussichten auf Aufklärung sind gering. Vor der deutschen Justiz sind alle Verbrechen der Colonia Dignidad straflos geblieben, Täter finden hierzulande einen sicheren Hafen. Zur Aufklärung der bundesdeutschen Verantwortung müssen auch die Akten des BND endlich freigegeben werden.Die aktuellen Mitte-Links-Regierungen in Chile und Deutschland könnten nun, 50 Jahre später, ihr kurzes Zeitfenster nutzen und gemeinsam zumindest eine Gedenkstätte auf den Weg bringen. Den Angehörigen der Verschwundenen, die einen Ort zum Trauern brauchen, sind sie es ohnehin schuldig. Es ist untragbar, dass die deutsche Siedlung heute ein Ausflugslokal mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil ist, in dem von der Geschichte kaum etwas zu sehen ist. Im Kontext des 50. Jahrestag des Putsches hatte die chilenische Regierung geplant, Gedenktafeln an historischen Orten der ehemaligen Colonia Dignidad anzubringen – doch daraus wurde nichts. Auch bei der Gründung einer Trägerorganisation für den Gedenkort stockt es. Die deutsche Regierung hält sich vornehm zurück und verweist darauf, der Ball liege in Chile. Doch beide Regierungen tragen eine große Verantwortung: Ein Dokumentations-, Gedenk- und Lernort wäre wenigstens ein Punktgewinn gegen das Erstarken der extremen Rechten, die auch in Chile versucht, die Geschichte von Putsch und Diktatur wieder auf ihre Art und Weise umzuschreiben.

// Ute Löhning // Freie Journalistin // Berlin

Angesichts des Schweigens (Ausschnitt)

Zuerst kamen die Spanier
sie haben es nicht geschafft, uns zu beherrschen
sie mussten uns anerkennen
als freies und souveränes Volk.

Danach kamen die Chilenen,
… aber ich bin nicht in Chile geboren
Chile wurde auf unserem Territorium geboren
und als es geboren wurde,
machte es Versprechungen, die es nicht hielt.
So wie der Vertrag von Tapihue von 1825,
als sie versprachen, unsere Territorien,
unsere Souveränitat und Lebensphilosophie zu respektieren

aber sie haben uns den Krieg erklärt
sie nannten ihn Befriedung der Araucanía.
Sie töteten, vergewaltigten,
raubten, verbrannten die Häuser der Mapuche.
Es war ein Genozid, aber sie nennen ihn nicht Genozid
weil sie es sind, die die Definitionsmacht haben
und weil wir nicht weiß waren
sondern “indios”.

Mein Vater hat mir erzählt,
dass seine Großmutter ihm erzählte,
dass der letzte organisierte Aufstand gegen die Kolonisatoren
im Jahr 1881 war.
Und es ist kein Zufall, dass sie 1883
in Paris, Berlin und Hamburg 14 Mapuche ausstellten
wie Tiere
in den sogenannten Menschenzoos.

Aus dieser Geschichte komme ich,
die, die weiter zurückgeht als ins Jahr 73
weiter zurückgeht als bis zu Pinochets Militärputsch

Eine Geschichte struktureller Gewalt
dem Aufzwingen einer Sprache,
der Ausplünderung,
der Unsichtbarmachung und Abwertung unserer Kultur
und unserer Art, zu leben.

Aus dieser Geschichte komme ich
und diese Geschichte ist noch nicht vorbei

// Llanquiray Painemal // als Mapuche in verschiedenen migrantischen Kollektiven aktiv // Berlin
Das Gedicht „Angesichts des Schweigens“ wurde anlässlich des 11. September 2023 geschrieben und während einer Gedenkveranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgetragen.

TATSÄCHLICH NEUE IMPULSE?

Gedenken an die Verbrechen der Colonia Dignidad Ramelow appelliert an deutsche Mitverantwortung (Foto: Jorge Soto)

Der Schwerpunkt von Ramelows Reise zwischen dem 10. und 15. Oktober lag auf möglichen zukünftigen Handelsbeziehungen im Zuge der ökologischen Transformation und der Energiewende, etwa dem Export von Lithium und Wasserstoff nach Deutschland. Dementsprechend wurde Ramelow von einer rund 30-köpfigen Wirtschaftsdelegation aus Thüringen begleitet. Das chile­­nische Unternehmen RJR und die deutsche LiVERDE AG unterzeichneten einen Kooperationsvertrag über „Grünes Lithium für Europa aus chilenischen Ressourcen“. Dabei geht es um die Förderung von Lithium aus dem Salzsee Salar de Maricunga in der Atacamawüste im Norden Chiles. Es findet später Verwendung in Energiespeichertechnologien für Elektrofahrzeuge.

Der Geologe Luciano Travella von der Umweltschutzinitiative CODEMAA befürchtet dadurch jedoch eine Schädigung des gesamten Ökosystems der Atacamaregion, die als die weltweit trockenste Wüste gilt. Grundwasser solle aus dem Boden in Becken gepumpt werden, in denen Lithium durch Verdunstung gewonnen werden soll. „Es wird wahrscheinlich keine zwei Jahrzehnte dauern, bis die Region des Salzsees zerstört ist. Die lokale Bevölkerung und die Biodiversität sind bedroht“, erklärte er in der Zeitschrift Resumen. Außerdem kritisierte er das extraktivistische Modell, nach dem Rohstoffe aus dem Globalen Süden in unbearbeiteter Form in den Globalen Norden exportiert und dort gewinnbringend weiterverarbeitet werden.

Noch während des Besuchs von Bodo Ramelow sprach sich nach dem chilenischen Abgeordnetenhaus auch der Senat für das Freihandelsabkommen TPP11 aus. Das Trans-Pazifik-Abkommen zwischen elf Pazifikanrainerstaaten steht bei sozialen Bewegungen wegen laxer Umwelt- und Menschenrechtsstandards in der Kritik. Dazu kommt, dass es Schiedsgerichte etabliert, vor denen Unternehmen gegen staatliche Regulierungen etwa bei Umwelt- oder Produktionsbedingungen klagen können.

Der zweite Aspekt von Ramelows Reise war sein Besuch in der 350 Kilometer südlich von Santiago gelegenen ehemaligen Colonia Dignidad. Dort sprach er mit Bewohner*innen der 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer und rund 300 Gefolgsleuten gegründeten sogenannten „Kolonie der Würde“ über Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt, der viele von ihnen jahrzehntelang unterworfen waren. In der Villa Baviera (zu Deutsch Bayerisches Dorf), denn so nennt sich die Siedlung seit 1988 offiziell, leben heute noch rund 100 Personen. Sie betreiben Immobilienunternehmen, Landwirtschaft und Tourismus sowie einen Hotel-Restaurant-Betrieb im bayerischen Stil.

Am sogenannten Kartoffelkeller legten Bodo Ramelow und seine Delegation zusammen mit Angehörigen von Verschwundenen Blumen nieder. In dem Gebäude wurden Oppositionelle gefoltert, denn der chilenische Geheimdienst DINA kooperierte eng mit der Sektenführung und richtete nach dem Putsch 1973 ein Gefangenenlager auf dem Gelände ein.

„Seit über 40 Jahren kämpfen wir darum zu erfahren, was mit unseren Angehörigen geschehen ist“, berichtet Cristina Escanilla, deren Bruder Claudio im Oktober 1973 mutmaßlich in der Colonia Dignidad verschwunden ist. Im Kartoffelkeller erzählt sie der Delegation: „Mein Bruder war 16 Jahre alt, als er festgenommen wurde. Zwei Wochen später erfuhren wir, dass er mit anderen Gefangenen zusammen in die Colonia Dignidad gebracht wurde“. Obwohl der Keller unter Denkmalschutz steht, hätten die Bewohner*innen der Villa Baviera ihn in den letzten Jahren eigenmächtig verändert, kritisiert Escanilla: „Als wir diesen Raum zum ersten Mal betreten konnten, sah es hier anders aus. An der Decke waren Blut- und Kratzspuren und Striemen von Schlägen zu sehen.“ Nach der Besichtigung des Kartoffelkellers sagt Ramelow: „Man spürt die Gewalt, die dort angewendet worden ist“. Der Ort sei ein erschütternder Beleg für die Folterungen auf dem Gelände.

Hunderte Oppositionelle wurden in der Colonia Dignidad gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, später wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche in den Fluss Perquilauquén geworfen. Da ihre Leichen nie gefunden wurden, gelten sie bis heute als Verschwundene.

Begleitet wurde der Bundesratspräsident von Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Der Historiker gehört einem deutsch-chilenischen Team von Gedenkstättenexpert*innen an, die im Auftrag beider Regierungen ein Konzept für eine Gedenkstätte zur Colonia Dignidad entwickelt haben. Dazu gehören außer Wagner Prof. Elizabeth Lira, Dekanin der psychologischen Fakultät an der Universidad Alberto Hurtado; Diego Matte, Rechtsanwalt und Leiter der Kulturabteilung der Universidad de Chile, sowie die Leiter­in der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dr. Elke Gryglewski.

Mit einer Gedenk- und Bildungsstätte in der Ex Colonia Dignidad sollen die Verbrechen dokumentiert und eine Bildungsfunktion ausgefüllt werden, so Wagner. „Wir sehen ein Konzept von dezentralen Ausstellungen vor, in denen an die unterschiedlichen Opfergruppen an jeweils relevanten historischen Orten erinnert wird“. Gemeint sind damit die Gruppe der Siedlungs­bewohner*innen; dann die Chilen*innen aus der Umgebung, die sexualisierter Gewalt, Zwangsadoptionen oder Vertreibung ausgesetzt waren, sowie die Opfer der Diktatur, also Folterüberlebende oder Angehörige von Verschwundenen.

„Unser Konzept sieht vor, dass der Kern der historischen Colonia Dignidad freigeräumt wird, um ihn als Bildungs- und Gedenkstätte zu nutzen und, dass im Umfeld ein neues Dorf entsteht“, erklärt Wagner. Es solle ermöglicht werden, dass Chilen*innen aus der Umgebung sich dort ebenfalls ansiedeln. „So soll die Villa Baviera aus der abgeschlossenen Enklave, die sie zurzeit leider immer noch ist, im Laufe der Zeit ein mehr oder weniger normales chilenisches Dorf werden“.

„Es ist wichtig, dass wir diesen Ort gemeinsam wandeln zu einem Gedenkort und zu einem Lebensort“, erklärt auch Ramelow nach dem Besuch in der Villa Baviera. Er appelliert an die deutsche Mitverantwortung.

Ramelow und Expert*innen wollen Schwung in die Debatte um eine Gedenkstätte bringen

Denn der deutschen Botschaft und mehreren bundesdeutschen Regierungen waren die Verhältnisse in der Colonia Dignidad bekannt. Doch sie verhinderten die Taten nicht, gaben Bewohner*innen, denen es gelang, aus der streng abgeriegelten Siedlung zu fliehen, teils keinen Schutz. Erst nach Anzeigen chilenischer Familien, deren Kinder in den 1990er Jahren in der Siedlung festgehalten und vergewaltigt wurden, floh Paul Schäfer 1997 nach Argentinien. Er wurde 2005 verhaftet und starb 2010 im Gefängnis. 2016 schließlich räumte Frank-Walter Steinmeier, damals als Außenminister, in einer selbstkritischen Rede eine moralische Mitverantwortung der deutschen Re­gier­ung ein. 2017 beschloss der Deutsche Bundes­­tag einstimmig, die Bundesregierung solle die Verbrechen der Colonia Dignidad aufklären – und die gemeinsame Errichtung einer nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Begegnungs- und Gedenkstätte voranbringen (siehe LN 519/520).

Wagner und Ramelow wollen nun neuen „Schwung“ in die Debatte um eine Gedenkstätte bringen und hoffen auf einen symbolischen Spatenstich vor dem 50. Jahrestag des Putsches am 11. September 2023. Zuerst müsse aber eine Trägerin für eine gemeinsame deutsch-chilenische Gedenk- und Bildungsstätte gefunden und aus Regierungsgeldern finanziert werden, so Wagner. Zwar seien die politischen Voraussetzungen momentan gut, die chilenische Regierung fordere die Auseinandersetzung mit den während der Pinochet-Diktatur begangenen Verbrechen explizit ein. „Allerdings sind die Signale sowohl aus der deutschen als auch aus der chilenischen Regierung im Augenblick eher schwach ausgeprägt“, erklärt der Historiker.

Medienberichten zufolge war das von der Grünen Partei geführte Auswärtige Amt gegen den Besuch des Bundesratspräsidenten in der ehemaligen Colonia Dignidad. Ramelow wollte trotzdem in die deutsche Siedlung reisen und tat es. Schon 2016 besuchten Bundestagsabgeordnete im Rahmen einer Chilereise die Villa Baviera, auch damals riet die deutsche Botschaft von der Reise ab. Heute dürften Annalena Baerbock und die Grünen in der Leitung des Auswärtigen Amtes keine geschichtlich vorbelasteten Beziehungen zur Siedlung haben.

Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu, die chilenische Regierung habe sich gegen einen Besuch von Bundesratspräsident Ramelow in der ehemaligen Colonia Dignidad ausgesprochen. Das chilenische Außenministerium bezieht dazu keine Stellung. Die Staatssekretärin für Menschenrechte im Justizministerium, Haydee Oberreuter hofft jedoch auf Fortschritte in der Zusammenarbeit zwischen der „chilenischen Regierung, für die das Thema der Menschenrechte zentrale Bedeutung hat, und der fortschrittlichen deutschen Regierung“. Chile werde die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad im Rahmen des Nationalen Plans zur Suche nach Verschwundenen vorantreiben und dazu verschiedene Opferverbände einbeziehen, so Oberreuter.

Eine von beiden Regierungen 2017 eingerichtete „Gemischte Kommission“, die unter anderem die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes in der Colonia Dignidad umsetzen soll, tagte zuletzt im Februar 2022. Die Verhandlungen verlaufen schleppend, kaum etwas dringt an die Öffentlichkeit. Das nächste Treffen soll Mitte November in Chile stattfinden. Dann wird sich zeigen, ob die Regierungen Deutschlands und Chiles tatsächlich positive Impulse der Kooperation bei der Aufarbeitung setzen werden.

DIE ZERSTÖRUNG EINES POLTISCHEN PROJEKTS

Politische Veteran*innen der Allende-Zeit Die Lebensgeschichten von Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda (von oben nach unten) bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngeren chilenischen Geschichte (Fotos: Daniel Stahl)

Als im November 2019 die Proteste in Chile ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, waren es in Valdivia in der südchilenischen Región de Los Ríos wie überall im Land die jungen Menschen, die das Geschehen dominierten. Das Stadtzentrum war voller Schüler*innen und Student*innen, die ihre Forderungen nach politischem Wandel mit Straßenblockaden bekräftigten.

Doch jeden Freitag um Punkt zwölf Uhr, kaum zu bemerken im Tosen des jugendlichen Protests, fand sich am Rande der zentralen Plaza in solidarischer Absicht ein Grüppchen in die Jahre gekommener Demonstrant*innen ein. Sie alle hatten jener heterogenen Bewegung angehört, die Allende vor 50 Jahren an die Macht gebracht hatte. Dass die Themen, mit denen ihre Laufbahn als politische Aktivist*innen begonnen hatte – die Forderung nach Verstaatlichung und die Kritik an Großkonzernen – irgendwann noch einmal einen signifikanten Teil der Gesellschaft mobilisieren würden, hatten sie kaum noch zu hoffen gewagt. Die Lebensgeschichten dieser politischen Veteran*innen der Allende-Zeit bieten einen Schlüssel zum Verständnis der jüngsten chilenischen Geschichte.

Annie Leal war schon früh dabei. Sie wurde 1935 in eine politisch aktive Familie hineingeboren. Die Eltern waren Mitglieder der verbotenen kommunistischen Partei und gehörten wie so viele Kommunist*innen und Sozialist*innen der evangelischen Minderheit an. Im alltäglichen Leben verschränkten sich politisches Engagement, patriarchalische Rollenbilder und protestantische Askese: „Der Vater musste als Sozialist ein guter Versorger und Hausherr sein. Deshalb rauchte und trank er nicht“, erzählt Leal.

Diese Haltung übernahm auch die Tochter. Mit 15 Jahren trat sie der ebenfalls verbotenen kommunistischen Jugendorganisation bei. Fortan wurde von ihr erwartet, ein unbescholtenes Leben zu führen und selbst in Partnerschaftsfragen die Partei zu konsultieren. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung, politisch aktiv zu werden, war die Armut, die sie um sich herum beobachtete.

Zu den wichtigsten Aktivitäten der Jugendorganisation gehörte es während der 50er und 60er Jahre, in den umliegenden Ortschaften mit der Landbevölkerung über gesellschaftspolitische Themen zu sprechen, Alphabetisierungskurse anzubieten und sie mit den kommunistischen Ideen vertraut zu machen. Annie Leal verstand ihr Engagement immer als verbindlich, als Anfang der 60er Jahre ihre Tochter geboren wurde, bat sie die Partei förmlich um Beurlaubung.

Ida Sepúlveda gründete als 15-Jährige eine eigene Schule

Auch Joel Asenjo begann seine politische Arbeit schon als 15-Jähriger. Ende der 60er Jahre trat er wie sein Vater der sozialistischen Partei bei. Asenjos Familie lebte in bescheidenen, aber keineswegs prekären Verhältnissen. Mittags pflegte er seinem Vater, der als Schreiner arbeitete, das Essen auf die Arbeit zu bringen. „Einmal fragte ich ihn: ‚Wann kommt der Tag, an dem du zu Hause zu Mittag essen wirst?‘ Und er antwortete: ‚Wenn Allende Präsident ist‘“, erinnert sich Asenjo.

Asenjo hatte große Freude an der theoretischen Auseinandersetzung mit den großen sozialen Fragen. Die Schriften Che Guevaras, Pamphlete über die Verstaatlichung des Bergbaus und die Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung – das war die Literatur, die ihn begeisterte. Schnell stieg er in Führungspositionen auf. Anfang der 70er Jahre wurde er Studierendenführer und Vorsitzender der sozialistischen Jugend.

Das universitäre Umfeld, in dem Asenjo aktiv war, hatte kaum etwas mit der Lebenswelt Ida Sepúlvedas gemeinsam. Ihr Vater und Großvater arbeiteten im Osten von Valdivia für Großgrundbesitzer, die in den Anden Forstunternehmen betrieben. Beide waren in der Gewerkschaft. Sepúlveda war schon als Kind davon beeindruckt, wie die Landarbeiter*innen trotz fehlender Bildung ihre soziale Lage reflektierten und Forderungen artikulierten. Ende der 60er Jahre entschied sie sich, eine Schule in ihrem Ort aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade einmal 15 Jahre alt.

Zwei Jahre später heiratete sie den sieben Jahre älteren Forstarbeiter Rudemir Saavedra. „Für mich war er der Genosse Saavedra. Er nannte mich nicht seine Frau, sondern Genossin Ida.“ Das klingt aus Sepúlvedas Mund zwar zärtlich, war aber vor allem Ausdruck dessen, dass beide ihre Ehe als ein Bündnis im Kampf für soziale Gerechtigkeit verstanden: „Ich glaube, das war uns wichtiger als unsere Beziehung und gemeinsame Kinder.“ Saavedra trat bald darauf der MIR, Bewegung der Revolutionären Linken, bei.

Ermutigt durch den Wahlsieg Allendes im Oktober 1970 begann das Ehepaar zusammen mit anderen Forstarbeiter*innen die von der Regierung angekündigte Verstaatlichung der in Großgrundbesitz befindlichen Ländereien selbst in die Hand zu nehmen: Sie besetzten die Zentralen privater Forstunternehmen und hissten dort unter dem Absingen der National-Hymne die chilenische Fahne. „Dabei stießen wir auf gar keinen Widerstand“, wundert sich Sepúlveda noch heute. „Darauf wären wir kaum vorbereitet gewesen.“

Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen

Die wahr gewordene Utopie einer sich selbst ermächtigenden Landbevölkerung währte jedoch nur kurz. Am 11. September 1973 putschte das Militär gegen Allende. Drei Tage später wurde „Genosse Saavedra“ verhaftet, drei Wochen später war er tot. Soldaten durchsuchten die Hütte der jungen Familie. Einer von ihnen flüsterte der schwangeren Mutter zweier Kleinkinder zu, dass er an ihrer Stelle verschwinden würde – und das tat sie. In Valdivia lebte sie mehrere Jahre im Untergrund und hielt ihre kleine, schwer mitgenommene Familie mit Putzarbeiten über Wasser.

Auch für Annie Leal und Joel Asenjo beendete der Putsch eine Entwicklung, die sie für unumkehrbar gehalten hatten. Asenjo wurde noch im selben Jahr verhaftet, gefoltert und als zerschlagenes Bündel vor der Haustür seiner Eltern liegen gelassen, nur um bald darauf erneut verhaftet und gefoltert zu werden.

Dennoch nahm er nach der endgültigen Freilassung 1975 seine politische Arbeit wieder auf und ging in den Untergrund. Anders als vor dem Putsch, als eine gerechtere Gesellschaft in unmittelbarer Reichweite schien, waren die Ziele jedoch bescheiden: „Wir mussten überhaupt erst wieder eine Organisationsstruktur schaffen. Und wir sammelten Informationen über Menschenrechtsverletzungen.“

Ähnliches versuchten die Kommunist*innen. Annie Leal setzte ihr Engagement nach dem Putsch im Untergrund fort. Versammlungen und Alphabetisierungskurse kamen nicht mehr infrage. Man traf sich in kleinen Gruppen von maximal fünf Personen. Im Wesentlichen ging es dabei um Informationsaustausch. Wer lebte noch, wer war verhaftet worden, welche Verbrechen beging das Regime? Einige Mitglieder des Untergrunds kamen durch ihre Kontakte zu Soldaten an wertvolle Informationen über bevorstehende Militäraktionen und Repressionsmaßnahmen und konnten Mitstreiter*innen warnen. Nicht so im Fall von Leal. Ihre Widerstandszelle wurde 1986 verraten. Weil sich unter den zwölf Verhafteten mit Beatriz Brinkmann auch eine deutsche Staatsbürgerin befand, entging die Gruppe dank Aktionen der europäischen Chile-Solidarität dem sicheren Tod. Die Militärs hatten bereits die Ermordung in Form einer inszenierten Schießerei geplant.
Während Annie Leal noch im Gefängnis saß, rang eine erstarkende Opposition Pinochet 1988 ein Referendum über die Frage ab, ob dieser weiter regieren solle. Eine Mehrheit stimmte dagegen, es fanden freie Wahlen statt, die der oppositionelle Christdemokrat Patricio Aylwin gewann. Von Beginn an Gegner des sozialistischen Projekts Allendes, hielt Aylwin nach der Rückkehr zur Demokratie am neoliberalen Wirtschaftsmodell aus Diktaturzeiten fest.

Annie Leal, Joel Asenjo und Ida Sepúlveda – sie alle setzten ihr politisches Engagement auch nach der Diktatur fort. Um jedoch den Kampf für soziale Reformen oder eine Revolution wiederaufzunehmen und für eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell zu streiten, fehlten ihnen die Netzwerke und die Kraft. Asenjo versuchte zwar, in der Partei wieder Fuß zu fassen. Doch dort hatten aus Europa zurückgekehrte „sozialdemokratisierte“ Exilierte das Sagen. Sie wollten nicht mehr an die Politik der 70er Jahre anknüpfen.

Typischer für die Überlebenden des Staatsterrors war der Weg, den Leal und Sepúlveda nach 1990 einschlugen. Sie konzentrierten sich darauf, den entstandenen Schaden zu begrenzen, indem sie für die strafrechtliche Verfolgung der Militärs, für Wiedergutmachungszahlungen und die kostenlose psychische und medizinische Betreuung von Folteropfern kämpften.

Dass ein Anknüpfen an das Projekt der Ära Allende in den Jahrzehnten nach 1990 so verhalten blieb, hatte viel damit zu tun, dass nach dem Kalten Krieg der Sozialismus als Gesellschaftsmodell aus der Sicht vieler diskreditiert war. Doch ein entscheidender Grund lag auch in der Repression des untergegangenen Regimes. Die drei Lebensläufe zeigen beispielhaft, wie gründlich das Pinochet-Regime jene Bewegung zerstört hatte. Nach 1990 waren nicht nur Tausende Regimegegner*innen tot – offizielle Schätzungen gehen von mehr als 3.000 Ermordeten aus. Die Militärs hatten eine ganze Generation politischer Aktivist*innen gebrochen und psychisch und physisch so stark versehrt, dass nur wenigen die Kraft für Utopien blieb. Die Wunden zu versorgen, war das einzige, wozu sie noch in der Lage waren. Die so entstandene Lücke macht sich bis in die Gegenwart hinein bemerkbar.

Ida Sepúlveda gibt die Hoffnung nicht auf, dass die kommende Generation den heruntergefallenen Staffelstab wieder aufheben wird. Die Proteste, die seit Oktober 2019 anhalten, sieht sie als positives Signal. Bereitwillig stellt sie Schüler*innengruppen die Räumlichkeiten des jetzt zum Gedenkort umfunktionierten ehemaligen Folterzentrums zur Verfügung, damit diese ihre Demonstrationen organisieren können.

„Diese junge Generation weiß nicht mehr, was es heißt, Angst vor den Carabineros zu haben“, bemerkt Sepúlveda. Denn obwohl die Polizei Carabineros stark militarisiert und mit äußerster Brutalität gegen die Demonstrierenden vorgeht (siehe LN 547) – die massenhafte Folter und das Verschwindenlassen der Diktatur kennen sie nur aus Erzählungen. Doch möglicherweise sind es gerade diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen, die das Potenzial haben, die gegenwärtigen Proteste zu einer Zeitenwende in Chile werden zu lassen.

DAS BESSERE GESCHICHTSBUCH

Wer an Salvador Allende denkt, kommt wahrscheinlich bald bei dessen Sturz am 11. September 1973 an. Seine letzte Rede, im Angesicht des Putsches und des Beginns einer Militärdiktatur, machte Allende zur Ikone: „Ich werde nicht zurücktreten! In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit dem Leben bezahlen.“

Diese Sätze stehen in Die Jahre von Allende erst auf den letzten Seiten. Die Graphic Novel rollt die komplexen Ereignisse der 1.000 Tage andauernden Allende-Regierung ab seiner Wahl im September 1970 auf. Die drei Kalenderjahre bilden Kapitel und strukturieren die sich überschlagenden Entwicklungen: vom Amtsantritt und der Regierungsbildung unter Allendes Unidad Popular über die Rolle der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, den Einfluss der USA und extrem rechter Organisationen bis hin zu politischen Attentaten und den bis heute umstrittenen Todesumständen Allendes.

Zwischen den Geschehnissen auf der Straße und im Parlament – etwa Allendes Erfolge, wie die Verstaatlichung der Kupfervorkommen – fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Hierfür haben die Autoren eine Rahmenhandlung um den US-amerikanischen Journalisten John Nitsch entworfen. Dieser Schachzug mag zunächst verwundern, beim Lesen leuchtet er ein: Nitschs Außenperspektive macht das komplexe Geschehen auch für nicht-chilenische Leser*innen verständlich und verdeutlicht die Rolle der USA an den Ereignissen.

Die Zeichnungen von Rodrigo Elgueta lockern die manchmal überfordernd detaillierte Chronik in Die Jahre von Allende auf. Trotz der schlichten Gestaltung lassen die Bilder bei längerer Betrachtung interessante Details zum Vorschein kommen. Hierfür lohnt es sich sehr, auch den ausführlichen Anhang zu lesen: Die Autoren erläutern dort die popkulturellen Anspielungen, die sie überall auf den Seiten versteckt haben, zum Beispiel Plakate und Comics der frühen 70er Jahre.

Es ist eine Bereicherung, dass die Graphic Novel nach fünf Jahren nun für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich ist. Die Übersetzung von Lea Hübner überzeugt auch bei der Vermittlung des besonderen Pathos, das bei Salvador Allendes Reden stets mitschwang. Einige Fußnoten helfen bei der Einordnung politischer Organisationen oder Personen.

Der Szenerist Carlos Reyes und der Zeichner Rodrigo Elgueta, beide in den Jahren Allendes noch Kleinkinder, haben somit eine Graphic Novel für ein breites Publikum geschaffen. Diese zeigt, beinahe wie ein spannendes Geschichtsbuch, auch pädagogisches Potenzial. Beide Autoren sind übrigens Lehrer. Die kritische und detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte wird sowohl jüngeren Leser*innen als auch Kenner*innen neue Erkenntnisse über Salvador Allende bringen. Dessen letzte Worte behalten angesichts der Massenproteste für eine neue Verfassung seit Oktober 2019 wohl bis heute Gültigkeit: „Ich glaube an Chile und sein Schicksal. Es werden andere Chilenen kommen. In diesen düsteren und bitteren Augenblicken […] sollt ihr wissen, dass ihr früher oder später, sehr bald, erneut die großen Alleen aufstoßen werdet, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.“

FEST AN DER SEITE DER BEVÖLKERUNG

Misstrauen gegenüber Parteien Das Lebensmotto von Victor Pey (Foto: Nils Brock)

Victor Pey wurde im August 1915 in Madrid geboren. Er wuchs in einem anti-autoritären Ambiente und einem Elternhaus voller kritischer Ideen auf. Sein Vater Segismundo war Schriftsteller und antiklerikaler Priester, der zivilen Ungehorsam predigte und die Soutane irgendwann ganz an den Nagel hing. Von seinem Sohn Víctor wissen wir, dass er sich während des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) den Anarchosyndikalist*innen anschließt und am 24. Juli 1936 mit der “Kolonne Durruti” von Barcelona los zieht, um die Stadt Zaragoza aus den Händen der frankistischen Truppen zu befreien. Später ist er für die republikanische Regierung in Barcelona aktiv, um die zivile Industrie Kataloniens auf die Kriegsproduktion umzustellen. Als Barcelona fällt, flüchtet er mit seinem Bruder Raúl zu Fuß über die Pyrenäen. „Zum Glück hatten wir einen Kompass mit“, erinnert sich Pey in einem Interview mit dem Rechercheprojekt Allendes Internationale. „Aus Angst vor Bombenangriffen war auf spanischer Seite nachts alles abgedunkelt. Als wir eines Tages Lichter sahen, war uns klar, dass wir französischen Boden erreicht hatten.“
Die Familie Pey wird eine Zeit lang im Konzentrationslager Rivesaltes, in der Nähe von Perpiñán interniert. Französische Freimaurer erreichen ihre Freilassung und bringen sie nach Lyon, von wo aus Víctor heimlich nach Paris weiterreist. Abends arbeitet er für die Exilregierung der spanischen Republik in der Rue Salazar, tagsüber sucht er fieberhaft nach einem persönlichen Ausweg.

Pablo Neruda als Fluchthelfer

Beim Spazierengehen liest er eines Nachmittags an einem Zeitungskiosk die Nachricht, der Dichter Pablo Neruda halte sich als Sonderbeauftragter Chiles in Paris auf, um spanische Flüchtlinge auszuwählen, die in seinem Land politisches Asyl erhalten würden. Unverzüglich sucht Pey das Gespräch mit ihm. Neruda notiert seinen Namen, verspricht aber nichts. Monate später, am 4. August 1939, legen Pey und seine Familie an Bord des Ozeandampfers Winnipeg in Bordeaux ab. “Ich erinnere mich an diesen Moment, als die Winnipeg den Anker lichtete und sich in Bewegung setzte”, erzählt Pey. “Auf dem Achterdeck hatte sich ein Chor aus Katalonen gebildet und intonierte das Lied „L’Emigrant“. Mich hat das tief beeindruckt, das ist unvergesslich.“ Einige Tage später trifft das Schiff in Valparaiso ein und noch während der Begrüßung der spanischen Flüchtlinge lernt Pey den damaligen Gesundheitsminister Salvador Allende kennen – der Beginn einer großen Freundschaft, die erst mit dem gewaltsamen Tod Allendes am 11. September 1973 endet. Pey findet eine Beschäftigung als Landvermesser und ermöglicht so seiner Familie eine gesicherte Existenz. Noch in den 1940er Jahren beginnt er Artikel für die Zeitschrift La Hora zu schreiben. Während dieser Zeit freundet er sich mit dem Journalisten Darío Sainte-Marie an, der in den 1950er Jahren die Tageszeitung Clarín gründen wird. Dieses Blatt erlangt sehr bald große Beliebtheit. Nicht nur aufgrund seiner gewagten Sprache, sondern auch wegen seiner teils reißerischen Schlagzeilen und Aktfotos (mitunter begleitet von machistischen und homophoben Kommentaren). In den 1960er Jahren hatte die Auflage bereits 150.000 Exemplare erreicht. Das Motto des Clarín lautete: “firme junto al Pueblo”, was soviel heißt wie “fest an der Seite der Bevölkerung”.Dem Clarín gelingt es, die Hegemonie der rechten Unternehmer-Blätter zu brechen. Die Zeitung repräsentierte die Aufstiegsambitionen der breiten Masse und unterstützte ab 1969 die Präsidentschaftskandidatur von Allende. Pey war es dann, der den Clarín 1972 kaufte und damit fortan “beständig und schlagkräftig” die Politik der Regierung bis zum letzten Tag verteidigte. “Jeden Tag, wenn ich gegen halb acht abends aus der Druckerei kam, brachte ich dem Präsidenten das neueste Exemplar”, erzählt Pey. So auch am 10. September 1973. Am nächsten Morgen jedoch, um 4 Uhr verhindern Armeeeinheiten die Auslieferung der aktuellen Ausgabe. Wenige Tage später konfisziert die Militärjunta den Sitz des Clarín. Nach Herausgeber Pey wird gefahndet und einmal mehr ist er gezwungen, um Asyl zu bitten, diesmal in der Botschaft Venezuelas, von wo aus er zuerst nach Caracas und später nach Paris reiste.

In den 1990er Jahren gründet Pey gemeinsam mit seinem Freund, dem spanischen Anwalt Joan Garcés, der in Chile als Berater der Regierung der Unidad Popular gewirkt hatte, die Stiftung “Fundación española Salvador Allende”. Die Institution hat 1998 entscheidenden Anteil an der Verhaftung von Augusto Pinochet in London und dem darauf folgenden Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits einige Jahre vorher, nach Ende der Diktatur, war Pey nach Chile zurückgekehrt und beteiligte sich aktiv am Kampf für die Menschenrechte sowie an der Erinnerungsarbeit für die Unidad Popular. 2015 ehrte ihn die Universität von Chile zu seinem 100. Geburtstag mit der “Medaille des Rektorats”. Bei der Verleihung sagte Pey: “Für uns bedeutet Chile Freiheit, wir fanden eine Beschäftigung, hier arbeitete ich, hier verliebte ich mich […], hier unterstütze ich die Regierung von Salvador Allende, den Anführer eines Sozialismus ohne Blutvergießen, den chilenischen Weg zum Sozialismus, mit Empanadas und Rotwein [und] hier stehe ich jetzt vor euch, bei dieser Hommenage die mir so viel bedeutet.”

Eine Entschädigung für die Enteignung der Zeitung Clarín erreicht Pey bis zuletzt nicht

Bis zu seinem Tod am 5. Oktober 2018 versuchte Pey das Grundstück vom Clarín zurückzubekommen und von Chile eine Entschädigung für die Enteigung zu erwirken – ohne Erfolg. Dabei hatte eine internationales Schiedsgericht der Weltbank (Ciadi) die Rückgabe angeordnet und den chilenischen Staat zur Zahlung von 10 Millionen Dollar verurteilt. Doch der Fall konnte nie abgeschlossen werden, da sich ausnahmslos alle Regierungen nach Ende der Diktatur weigerten, dem Schiedspruch nachzukommen.
Im Alter von 103 Jahren erinnert sich Pey besonders gern an seine Zeit als Professor für Industrieingenieurwesen an der Staatlichen Technischen Universtität (UTE) und die langen, schlaflosen Nächte, in denen er Allende beriet. Über die revolutionären Zeiten die Pey mitgestaltete, sagte er: “Meine Position allem gegenüber war stets eine misstrauische Haltung gegenüber politischen Parteien. Das ist meine libertäre Essenz, die ich mir immer bewahrt habe.”

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