Zeugnisse eines gezeichneten Arbeiters

Der hier veröffentlichte Comicstrip gibt zeichnerisch ein Interview mit Carlos Alberto Francisco, bekannt als Betinho, wieder. Betinho war als Arbeiter am Bau des höchsten Gebäudes der brasilianischen Stadt Porto Alegre beteiligt und arbeitet dort noch heute als Portier. Der in einer zweimonatigen Arbeit entstandene Comic wurde mit weiteren Interviews im Buch Conversas em Porto Alegre („Gespräche in Porto Alegre“) vom Autor unabhängig veröffentlicht. Die Idee des Künstlers, ein Interview in einen Comic umzuwandeln, ist großartig detailliert umgesetzt. Alles hatte mit Aguiars Neugierde darüber begonnen, wie wohl der Blick von der Terrasse des 107 Meter hohen Santa-Cruz-Gebäudes sei. Die Aufzugführerin des Hauses stellte ihm schließlich Betinho vor: einen Menschen, der für seine Freundlichkeit und Kenntniss der Geschichte des Hochhauses bekannt ist.

Neben der Recherche von Fachvokabular aus dem Bauwesen setzten Anna-Lena Goetze und ich uns als Übersetzerinnen sprachlich mit den Widersprüchen zwischen liebevollen persönlichen Anreden und höflichem Professionalismus auseinander, aber auch mit rassistischen Machtstrukturen in der Lebensgeschichte derer, die in Südbrasilien arbeiten, kämpfen und es aufbauen.

Einfacher Zugang zu schwerem Stoff

Lobby für Geschichtsrelativierung Dank dieser Herren erwarten Diktaturverbrecher in Chile oft nur milde Strafen (Bild aus Anticristo)

Bis heute ist die Vergangenheit der Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre in Südamerika keinesfalls passé. So auch die zivil-militärische Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1990: Viele Verbrechen, die in dieser Zeit begangen wurden, bleiben bis heute straflos. Der chilenische Zeichner Javier Rodríguez stellt in seinem Werk Anticristo heraus, wie unfassbar und verstörend es ist, dass viele Täter bis heute unbehelligt bleiben oder mit milden Strafen davonkommen. „Mit einem verzerrten und relativierenden Menschenrechts- und Geschichtsverständnis sowie unablässiger Lobbyarbeit im Kongress haben militärnahe Interessensgruppen versucht, es vielen der für Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftierten Terroristen zu ermöglichen, ihre Strafe im Pflegeheim, im Krankenhaus und sogar bei sich zuhause zu verbüßen“, berichtet Rodríguez.

Die Aufarbeitung bleibt schwierig, denn die heutigen Gesellschaften sind nach wie vor gespalten. Filme und literarische Werke haben sich den schmerzlichen Geschichtskapiteln angenommen, manche fiktional, andere dokumentarisch. Auch in Comics machen sich Autor*innen und Zeichner*innen seit einigen Jahren erfolgreich daran, die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktaturen aufrecht zu erhalten.

Von Menschen, die sich damals nicht den Zuständen beugten, handelt die chilenische Graphic Novel Historias clandestinas. Was bedeutete es vor und nach dem Putsch 1973 gegen Allende, das eigene Leben für das Projekt eines anderen, gerechteren Chile zu riskieren? Um diese Frage dreht sich der Comic, der von den Geschwistern Sol und Ariel Rojas geschrieben und gezeichnet wurde. Sie schildern eindrucksvoll, wie sie als Schulkinder nach außen hin einer ganz normalen Familie anzugehören schienen – während ihre Eltern unter dem Schuppen im Garten verfolgte Mitstreiter*innen versteckten und Flugblätter und linke Schriften herstellten. Auf der Comicmesse 2023 in San Diego erzählt Ariel Rojas: „In dieser Graphic Novel sind wir beides: Autor*innen und Protagonist*innen unserer eigenen Geschichte. Und darum hat diese nichts von Fantasy, von Hollywood. Nichts von einer kühlen akademischen Intellektualisierung. Es ist die wahre Geschichte einer Familie, die während Pinochets Diktatur im Untergrund lebte, in einem sogenannten sicheren Haus, zehn Jahre lang.“ Das Haus habe Normalität vorgetäuscht. Für die Familienmitglieder habe das bedeutet, von vielen Dingen nichts mitzubekommen – aus Sicherheitsgründen. „Unsere individuellen oder persönlichen Erfahrungen sind wie eine Blaupause für die politischen und historischen Ereignisse in Chile und Lateinamerika in der Zeit der Militärdiktaturen. Unsere Erlebnisse und Stimmen stehen für tausende von Chilen*innen und Lateinamerikaner*innen.“

Die Perspektive von Kindern, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien Opfer der Militärdiktatur wurden, vermittelt der dokumentarische Comicband La niña comunista, el niño guerrillero von María Giuffra. Damit keine Zweifel aufkommen, steht „100 % Testimonial“ („100 Prozent Zeugenaussage“) im Untertitel des Bandes. Er versammelt erschütternde Berichte von zehn Interviewpartner*innen, die noch Kinder waren, als die Militärs Gräueltaten an ihren Familien verübten. „Ich erinnere mich, dass mir eine Flüssigkeit ins Gesicht spritzte, aber ich erinnere mich nicht, ob der Schuss ins Bein mir wehtat. Mein Gesicht blieb auf das Kinderbett vor mir gerichtet, ich sah Marcela und Adolfo schreien und heulen. Dann: ein Poltern gegen die Tür und hineinstürmten … ‚Soldaten‘, so dachte ich“, erzählt eine Zeitzeugin darin, sie war die Älteste von mehreren Geschwistern.

Unkommentiert dokumentiert Giuffra das Erlebte und findet in einer freien, drastischen wie poetischen Bildsprache in schwarz-weiß eine Form der Darstellung des Grauens. Doch auch letzte schöne Erinnerungen an die früh verlorenen Eltern hält der Comicband fest, denn sie sind essenziell für die Identität der Betroffenen. Viele Kinder von Desaparecidos – den gewaltsam Verschwundengelassenen – wurden zur Erziehung in Familien von Militärs gegeben.

Viele Oppositionelle wurden im Geheimgefängnis in der Marineschule ESMA in Buenos Aires gefoltert und ermordet. Juan Carrá und Iñaki Echeverría versuchen mit ihrer gleichnamigen Graphic Novel ESMA der jüngeren Generation die Geschehnisse der argentinischen Diktatur zu vermitteln. Dieser Comic wird in argentinischen Schulen im Unterricht verwendet.
Was Comics für die Vermittlung komplexer historischer Ereignisse so stark macht, liegt im Vorführen von dokumentarischem Material, persönlichen Erfahrungen und Alltagsgeschichten, die durch die visuelle Komponente anschaulich werden. Die realitätsnahen Figuren oder historischen Persönlichkeiten, die in den Zeichnungen lebendig werden, ermöglichen den Lesenden einen leichten Zugang zu den meist schweren Stoffen. So auch bei dem Comic ¡Ese maldito Allende! von Olivier Bras und Jorge González, das sich mit der chilenischen Militärdiktatur befasst und im Original auf Französisch erschien. Ein Einblick, Santiago de Chile im Jahr 2000: Victoria, französische Journalistin und Olivier, Exilchilene der zweiten Generation sowie Ich-Erzähler, nehmen ein Taxi. Beim Small Talk mit dem Fahrer Eduardo stellt sich heraus, dass seine Passagiere nicht als gewöhnliche Urlauber*innen im Land sind, sondern aus Interesse an Geschichtsaufarbeitung. Ihr Fazit: „Wir konnten spüren, dass das Thema noch immer das Land spaltet. Bei den Opfern des Putsches bleiben offene Wunden.“ Der Fahrer zögert, bevor er erwidert: „Nicht nur bei den Opfern.“ Er vertraut ihnen an, dass er 1973 gerade seinen Wehrdienst machte, als es zum Putsch kam. Er war Krankenwagenfahrer und musste Leichen zum Mapocho-Fluss bringen. „Es waren Männer, Frauen, Kinder. Viele Leichen wurden nie gefunden. Die Angehörigen haben nie erfahren, was mit ihnen passiert ist“. Die Ampel ist rot. Ein Bild bleibt weiß. Es wird grün, doch das Auto fährt nicht. Eduardo weint am Steuer. „Die Toten verfolgen mich. Ich lebe mit der Angst, irgendwann für das alles belangt zu werden. Aber ich musste es unbedingt einmal jemandem sagen.“

Die Szene geht unter die Haut. Sie zeigt auch, dass das Erinnern kollektiver Traumata wie den Militärdiktaturen Südamerikas ein heikles Thema ist. Gerade daher gehört die Beschäftigung mit memoria histórica – dem historischen Gedächtnis – und Menschenrechten in Chile inzwischen landesweit zum Schullehrplan.

Rodrigo Elgueta ist Kunstlehrer, Comiczeichner und jemand, der genau dafür in chilenische Schulen eingeladen wird. Im Interview mit npla erzählt er: „Die Lehrer*innen leisten wichtige Arbeit, was die Vermittlung unseres historischen Gedächtnisses angeht.“ Die Lehrkräfte brächten den Kindern bei, wie wichtig es ist, über die entscheidenden Momente der chilenischen Geschichte Bescheid zu wissen. Graphic Novels als zugängliche Lehrmittel spielten dabei eine wichtige Rolle, meint Elgueta, „denn den Lehrenden ist klar, dass es an ihnen hängt, eine Brücke von den Ereignissen von vor drei bis fünf Jahrzehnten für die heutige Generation zu schlagen, die von den eigenen Eltern oft nichts davon erfährt.“
Denn je mehr Zeit vergeht, desto weniger verankert ist das Wissen über die sozialistische Regierung Salvador Allendes und den Putsch 1973 in der Bevölkerung. Gemeinsam mit dem Comicautor Carlos Reyes schuf Rodrigo Elgueta die Graphic Novel Los años de Allende über die Ereignisse Anfang der 1970er Jahre in Chile (Die Jahre von Allende). Sie erzählen aus Sicht des US-amerikanischen Journalisten John und seiner chilenischen Freundin Claudia. Farblich ist der Comic in schwarz-weiß gehalten, mit Graustufen. Die Zeichnungen sind realistisch, sie greifen Pressefotos und Filmmaterial auf. Das Buch steht als einzige Graphic Novel auf der Liste der empfohlenen Schullektüren, freut sich Elgueta. Ob sie im Unterricht tatsächlich genutzt werde, sei jedoch sehr abhängig von der jeweiligen Lehrkraft.

Eine weitere Graphic Novel zum Putsch 1973 und den Folgen ist El Golpe von Nicolás Cruz und Quique Palomo. Sie beginnt mit Szenen der studentischen Proteste in Santiago 2011, auf die mit brutaler Polizeigewalt reagiert wurde. Über die Konfrontation der jungen Chilen*innen mit der Elterngeneration, die sie für die Misere verantwortlich machen und denen sie Konformismus vorwerfen, schlagen die Autoren eine Brücke zu den Erlebnissen der Eltern in den 1970er Jahren. Cruz und Palomo arbeiten ebenfalls mit Zeichnungen in Graustufen und bringen Originalzitate und historisches Material, wie collageartig in die Bilder eingearbeitete politische Plakate und Fotos. Allerdings: El Golpe hebt den Aktivismus hervor, den gesellschaftlicher Wandel braucht – damals wie heute. Dass solche Erfahrungen im Medium Comic Ausdruck finden und diese in der Bildungsarbeit aufgegriffen werden, ist eine positive Entwicklung. Denn nicht zuletzt ist Aufklärung extrem wichtig, um den aktuellen ultrarechten Tendenzen mit ihrer Geschichtsverzerrung entgegenwirken zu können.

Magischer Realismus in Graphic Novel Format

Mexiko-Stadt. Der Verkehr staut sich und Guadalupe steckt fest. Nicht so ihre Großmutter Elvira, die im Affentempo auf dem Motorrad an ihr vorbeisaust. Sie steckt voller Lebensenergie, so scheint es. Kein Wunder, dass Guadalupe genervt reagiert, als ihre Oma ihr später am Abend ihre Wünsche für ein Begräbnis in ihrer Heimat Oaxaca mitteilen möchte – das scheint noch in weiter Ferne. Doch Elviras Vorahnung täuscht sie nicht, wenige Tage später kommt sie bei einem Motorradunfall um und Guadalupe steht vor der Aufgabe, sie für ihr Wunschbegräbnis nach Oaxaca zu transportieren. Eine zunächst klassisch daherkommende Roadtrip-Story zusammen mit Minerva, Elviras Kind und Guadalupes Hauptbezugsperson, beginnt. Die Mission ist klar und Hürden, die überwunden werden müssen, fehlen nicht. Mystische Elemente beginnen ganz natürlich aufzutauchen, sobald Guadalupe und Minerva im, zum Leichenwagen umfunktionierten, Auto sitzen.

Ihr Widersacher auf dem Weg nach Oaxaca ist insbesondere ein Diener des frustrierten aztekischen Gottes Xyzótlan, der als Herrscher über die Seelen dringend menschlichen Nachschub braucht. Sein Diener soll daher schnellstens den Körper von Guadalupes Großmutter entwenden, wogegen die beiden sich mit Hilfe der Superkräfte, die ihnen ein paar magic mushrooms verleihen, wehren.

Durch eingewobene Rückschauen erfahren die Leserinnen das ein oder andere über Elviras rebellisches Leben in Oaxaca, Minervas persönliche Geschichte als Ikone eines Schwulenclubs in Mexiko-Stadt und Guadalupes Kindheit an ihrer Seite. Fantastische Elemente und zapotekische Legenden sind mit den Lebensgeschichten der Figuren verwoben, was beim Lesen immer wieder für Überraschungen sorgt und zuweilen auch stutzig macht, denn an der ein oder anderen Stelle muss man zweimal lesen, um der Geschichte zwischen Zeitsprüngen und Stilwechseln folgen zu können. Der Ursprung des besonderen Stils des Texts, der die Leserinnen oft selbst assoziieren lässt und nicht jeden Erzählstrang komplett ausformuliert, mag darin liegen, dass die Autorin Angélica Freitas normalerweise eher Gedichte schreibt. Zusammen mit dem ebenfalls brasilianischen Zeichner Odyr hat sie es gekonnt geschafft, Figuren mit viel Identifikationspotenzial zu kreieren und sonst oft schwere Themen wie patriarchale Gewalt, Queerness in einer queerfeindlichen Welt, die nie ausbleibenden Sinnkrisen des Erwachsenwerdens und die Suche nach einem besseren Leben mit Leichtigkeit und Humor aufs Papier zu bringen. Im Stil des Roadmovies, zu dem das Buch zuletzt wieder zurückkehrt, bleibt dann am Ende auch Guadalupes Erleuchtung nicht aus: Statt zu ihrem 30. Geburtstag Minervas Buchhandlung zu übernehmen, möchte sie zunächst weiterreisen und sich selbst finden. Es ist ein wenig klischeebehaftet, dieses Ausbruchsnarrativ, ansonsten kann Guadalupe & Minerva jedoch große Originalität aufweisen und bringt mit vielen absurden Wendepunkten sicherlich jeden Leserin zum Lachen.

UND DU, WORAUF HAST DU LUST?

Füchsin liebt Schweiß und Kröte die Wärme des Tümpels. In Füchsin und Kröte erzählt die chilenische Autorin, Illustratorin und Comiczeichnerin Sol Díaz mittels ihrer tierischen Protagonist*innen frei, spielerisch und ungestüm von Sexualität. Neben der Veröffentlichung mehrerer Comicbände und Kinderbücher gibt sie gemeinsam mit drei weiteren Künstlerinnen die feministische Comiczeitschrift Brígida heraus. Mit Füchsin und Kröte liegt nun zum ersten Mal eines ihrer Werke auf Deutsch vor. Der bereits 2014 in Chile veröffentlichte Comic erzählt keine zusammenhängende Geschichte, sondern zeigt in einzelnen, meist auf einer Seite gefassten Szenen, Augenblicke aus dem Leben von Füchsin und Kröte. Partys und anstrengende Tage im Bett, Feuchtigkeit und Hitze aber auch die großen und kleinen Probleme des Alltags. Kröte hat eine lange geschickte Zunge, Füchsin trägt Reißzähne und oft verlangt es ihr nach mehr als vegetarischem Sex. Mit poetischen, großen Bildern und feinem Blick für Details zeichnet Díaz ohne Umschweife eine rohe, manchmal fast bestialische, doch immer auch rücksichtsvolle Darstellung selbstbestimmter, berechtigter Lust. Zorra, Füchsin, und Sapo, Kröte, sind in chilenischem Spanisch umgangssprachlich Bezeichnungen für Vulva.

Die von spielerischem, schwarzem Strich umfasste Welt der beiden zeichnet sie in den Farben der jeweiligen Protagonist*in: Das helle Fell der Füchsin, das Grün der Kröte, die roten bauchfreien T-Shirts, die die beiden gerne tragen, bis es einen guten Grund gibt, sie wieder auszuziehen. In fantasievollen Zeichnungen wird die Magie der Momente des Genießens eingefangen. Dazu wird manchen Körperteilen sogar eine eigene Stimme verliehen, oder sie bilden ganze Landschaften, durch die Füchsin und Kröte auf der Suche nach Rast und Lust streifen. Die Freund*innen tauschen sich ausgiebig über ihre Erlebnisse aus, geben einander Ratschläge und unterstützen sich gegenseitig, wenn es der einen mal nicht so gut geht. Denn auch schwierige Themen werden nicht ausgespart. Geister der Vergangenheit etwa, von denen wohlweislich geschwiegen wird. Oder übergriffige Sprüche einiger an einer Bushaltestelle wartender Schweine, gegen die sich entschlossen zur Wehr gesetzt wird. Denn weder Füchsin noch Kröte haben es sich ausgesucht, Opfer zu sein.

Und so frei und selbstbestimmt die beiden leben und lieben, so nehmen sie sich die Zeit, die sie brauchen, bis sie wieder, allein oder gemeinsam, den Fallschirmsprung ins Ungewisse wagen, Brust raus! „Und du? Worauf hast du Lust?“ schließt der Comic mit einer Frage an seine Leser*innen.
Der poetischen Übersetzung von Lea Hübner gelingt es gut, Bilder und Anspielungen zu übertragen. Mit einem schwarz-weißen Prolog von Aisha Franz ergänzt, erscheint Füchsin und Kröte in schönem handlichem Format im Independent-Verlag Parallelallee.

COMING OF AGE IN QUITO UND CALI

Als 2018 die Verfilmung von Virus Tropical auf der Berlinale gezeigt wurde, haben LN diese unter dem Titel „Persepolis a la Latina“ (siehe LN 524) rezensiert. Denn wie bei Persepolis handelt es sich bei Virus Tropical um eine autobiografische Bildungsgeschichte, die in schwarz-weißen Zeichnungen erzählt wird.

Viele Geschichten sind in dem Sinne Persepolis: Universelle Themen wie Aufwachsen in einer geschichtlich prägnanten Zeit – und welche Zeit hat schon nicht ihre eigenen Turbulenzen – die Konflikte, die Personen in einer migrantischen Realität erleben, die Suche der eigenen Identität und Berufung werden immer wieder aufgegriffen und re-interpretiert. So auch in Virus Tropical: Die Protagonistin Paola wächst in Quito und Cali der 90er Jahre auf, mitten im kolumbianischen Drogenkrieg. Als sie als jüngere Teenagerin in Cali ankommt, muss sie sich anstrengen, um dazu zu gehören. Ihre Röcke sind zu lang und ihre Sprache zu komisch. Mit Hilfe ihrer älteren Schwester Patty lernt sie, das soziale Gefüge zu navigieren und allmählich stellt sich heraus, dass sie Zeichnerin werden möchte.

Viele von Paolas Erfahrungen sind jedoch charakteristisch für den lateinamerikanischen Kontext. Die Rolle von Religion und Mystik im Alltagsleben etwa, die durch die katholische Grundschule, den Priesterberuf des Vaters und das Wahrsagen mithilfe von Dominosteinen, das die Mutter für ihre Freundinnen betreibt, erfahrbar gemacht wird. Dass die Hausangestellte Chavella Geld stiehlt, um sich einer Schönheits-OP zu unterziehen, konfrontiert die Leser*innen sowohl mit eng gefassten weißen Schönheitsnormen als auch mit der Klassenfrage. Und als der Vater die ganzen Ersparnisse der Familie bei „einer Familie“ anlegt und verliert, wird das populäre Schneeballsystem für Geldbetrug erkennbar. Besonders gelungen ist der Zeichenstil. Hat er auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeit mit kindlichem Gekritzel, wird bei genauerer Betrachtung deutlich, wie elaboriert mit den Schraffuren umgegangen wird, die sehr kunstvoll Schatten und Licht sowie verschiedene Texturen darstellen. Die Haare von Patty, Parkett und Teppich, das Gardinenmuster, die Kopfsteinpflaster der Straße, die Backsteinmauer, die Gebüsche, die an Mikroskop-Zeichnungen erinnern, gar psychedelisch wirken. Leider ist dabei stellenweise schwer nachzuvollziehen, zu welchem Bild ein Text gehört.

Der Comic liest sich schnell runter und verleitet die Leser*innen dazu, durch den Text zu flitzen, ohne die Bilder groß zu beachten. Beim genaueren Hingucken lassen sich jedoch immer wieder neue Details entdecken. Eine wohnungslose Person etwa, die mit einer Zeitung zugedeckt in der Ecke schläft, oder die im Hintergrund auf dem Dach hängende Wäsche.

Wer Comics mag, wird von der Geschichte und den Zeichnungen begeistert sein. Und andere werden mit Virus Tropical ihre Comic-Begeisterung finden.

WELTEN VERKNÜPFEN


Córdoba 2019. Plötzlich ist Nacha Vollenweider zurück in der Heimat. Hinter ihr liegen sechs Jahre in Hamburg und eine gescheiterte Ehe. In Córdoba ist der Himmel — anders als in Hamburg — zwar immer blau, doch fällt ihr die Rückkehr schwer. Denn die Gründe für diese sind traurig: 2016 ging Vollenweiders Frau Chini in das brasilianische Bélem do Pára, um Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Dort nahm das Ende ihrer Beziehung seinen Anfang — und an dieser Ehe hing Vollenweiders Aufenthaltstitel in Deutschland. Als sie auf der Straße ein Vogelhaus findet, aus dem ein riesiger schwarzer Vogel erscheint, kriegt Nacha zunächst panische Angst. Nach der Scheidung wird dieser aber zugleich ein Symbol für den Aufbruch, zurück nach Rio Cuarto in der Provinz Córdoba.

Während sie auf ihrem alten Fahrrad durch die bekannten Straßen streift, wird sie unweigerlich von ihrer Familiengeschichte in den Bann gezogen. Die Getreidemühle, die ihr deutschstämmiger Urgroßvater übernahm, liegt längst in Ruinen. Sie stöbert in seinen Büchern aus der Zeit des ersten Weltkrieges, eine von Rassismus und Antisemitismus strotzende Kolonialliteratur, in der sie Parallelen zu den erstarkenden rechtsextremen Bewegungen des Deutschlands der Gegenwart erkennt. Ihre 97-jährige Großmutter erzählt bei einigen Mate vom Peronismus, der wiederum deren eigene Ehe scheitern ließ. „Peronismus versteht kein Mensch. So wie die Liebe“, denkt sich die Autorin.

Der in schlichtem, aber eindringlichem Schwarz-Weiß gezeichnete Comic Zurück in die Heimat springt mühelos zwischen den Zeitebenen und Welten hin und her. Dabei ist er viel mehr als nur autobiographisch: Immer wieder werden wie zufällig über Personen und Orte Verbindungen hergestellt, seien es die Überlebenskünstler*innen, die in Argentinien dem ständigen Kreislauf der Wirtschaftskrisen trotzen, oder Heiligenfiguren der brasilianischen Religion Umbanda. Die Schlangen vor den Lebensmittelläden in Córdoba erinnern Vollenweider nicht nur an die Hyperinflation 1989 und die Krise 2001 in Argentinien, sondern auch an das Deutschland der Zwischenkriegszeit. Zurück in die Heimat endet mit einer Reise durch Argentinien. Erneut hängt alles zusammen: Wie eine riesige Wunde klafft eine Lithiummine in einem Tal auf. Was in Europa für vermeintlich saubere Antriebe sorgen soll, zerstört im Globalen Süden die Natur.

Zurück in die Heimat erzählt, trotz des traurigen Anlasses der Rückkehr und einer stets mitschwingenden Nostalgie, auf eine schöne und gut verständliche Weise von Einwanderung, Entwurzelung und wirtschaftlicher Unsicherheit, die die argentinische Gesellschaft prägen, aber auch von Familie, Liebe und Freundschaft. Dabei gelingt der Zeichnerin mit beeindruckender Leichtigkeit die Verknüpfung der „privaten“ mit politischen Themen, zwischen Hoffnungen, Erwartungen und Machtverhältnissen im Globalen Norden und Süden, der Transfer zwischen den verschiedenen Welten, von denen ihr keine mehr eine Heimat bieten kann.

WACH UND VOLLER HOFFNUNG

Evadir, no pagar, otra forma de luchar („Bahnfahren ohne zu zahlen, eine andere Art zu kämpfen!“), schallte es Anfang Oktober 2019 durch die Metrostationen von Santiago de Chile. Mutige Schüler*innen hatten damit gegen steigende Kosten für Bus und Bahn protestiert und eine Revolte ausgelöst, die ihre Spuren bis heute zieht: Im September stimmen die Chilen*innen über eine neue Verfassung ab (siehe Artikel auf S. 38). Die in Hamburg lebende chilenische Illustratorin Su Rivas hat diese historischen zweieinhalb Jahre in einem farbenfrohen Comic nachgezeichnet, das nun auf Deutsch im Unrast Verlag erschienen ist: Chile ist aufgewacht! Das Ende einer neoliberalen Ära.

Zwei neugierige Protagonist*innen begleiten durch die drei Kapitel des Comics, das zunächst die verschiedenen Bewegungen und Themen der von den Schüler*innen entfachten Revolte vorstellt. Da sind zum Beispiel die feministischen Bewegungen, die spätestens seit dem feministischen Frühling im Jahr 2018 aus der chilenischen Politik nicht mehr wegzudenken sind. Und auch überall im Comic ist ihr Erkennungszeichen, das grüne Tuch der Verfechter*innen eines Rechts auf legale Schwangerschaftsabbrüche, zu entdecken. Doch die Themen der feministischen Bewegungen sind vielseitig: Es geht ihnen auch um das Ende sexualisierter Gewalt und patriarchaler Machtstrukturen, die Anerkennung von Sorgearbeit und mehr politische Mitbestimmung (siehe Bild unten).

Die Themen sind vielseitig Eine Seite zu den feministischen Bewegungen und ihren Forderungen

Schnell wird klar, was die Protestierenden unterschiedlicher Bewegungen vereint: der Wunsch nach einem Ende des Neoliberalismus. Und der ist in Chile in der Verfassung von 1980, die mitten in der Diktatur unter Augusto Pinochet entstand, festgeschrieben. Gut verständlich erklärt das Comic die Kritik an der Verfassung und warum bisherige Versuche sie zu ändern oder grundlegend zu reformieren, scheiterten.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte und ordnet sie für ein deutschsprachiges Publikum historisch ein. So entsteht eindrucksvoll das Bild der Revolte, die häufig als „gesellschaftlicher Knall“ bezeichnet wird, als Wendepunkt in der chilenischen Geschichte.

Dass das folgende zweite Kapitel sehr ausführlich zeigt, wie die rechtskonservative Regierung unter Präsident Sebastián Piñera mit der Coronapandemie umging, mag zunächst verwundern. Doch schließlich ist der weitere Verlauf der Revolte eng mit der Pandemie verwoben, legte letztere doch die großen Mobilisierungen lahm und zwang die Protestierenden, ihre Stimmen auf andere Weise zu erheben. Gleichzeitig zeigt das Pandemiemanagement der Regierung auf, wie tief neoliberale Grundsätze in der Politik verankert sind und jegliche Bereiche des Lebens durchdringen. So wurden als Reaktion auf den in der Pandemie verbreiteten Hunger in ärmeren Bevölkerungsteilen Lebensmittelpakete verteilt – rein zufällig mit Produkten von Unternehmen, mit denen Regierungspolitiker*innen in Verbindung standen. Und falls die nicht reichten, sollten die Chilen*innen doch einfach 3 Liter Wasser am Tag trinken – das stille das Hungergefühl, so die Fernsehköchin Paula Arenas. Eine hämische Bemerkung, wo doch das Wasser in Chile privatisiert ist und viele Familien wöchentlich nicht genug Trink- und Nutzwasser zur Verfügung haben.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte“

So bleiben im Comic auch kleine Aussagen und Ereignisse, die sonst vielleicht nicht jede*m in Erinnerung geblieben wären, für die Zukunft anschaulich festgehalten. Die beiden Protagonist*innen stellen dabei stets die richtigen Fragen und decken die rhetorischen Schachzüge und Strategien rechter Politiker*innen schamlos und unterhaltsam auf. Dabei trifft Rivas mit ihren detailgetreuen Porträts einzelner Personen zweifellos einen Nerv: Vertreter*innen der neoliberalen Politik werden als düster, mies gelaunt und böse stilisiert, wohingegen die Protestierenden mit all ihren Transparenten, Parolen und Symbolen bunt aufleuchten.

Ebenso vielseitig werden im dritten Kapitel die Menschen vorgestellt, die die Chilen*innen im Mai 2021 gewählt haben, um eine neue Verfassung für das Land auszuarbeiten. Zahlreiche Vertreter*innen im Verfassungskonvent, viele davon Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen, kommen auf den letzten Seiten des Comics zu Wort und erklären, welche Themen ihnen in der neuen Verfassung wichtig sind.

Mit Chile ist aufgewacht! ist eine anschauliche Chronik der Revolte und ihrer Folgen in einem besonderen Format gelungen. Auch wenn die Übersetzung an kleinen Stellen ruckelt, liest sich das Comic wie im Fluge. Während der Lektüre wird glasklar, warum eine neue Verfassung für Chile so wichtig wäre und warum so viele trotz großer Hürden ihre Hoffnungen in das aktuelle Verfassungsprojekt setzen. Auf die Frage nach den Chancen im Plebiszit antwortet eine der Protagonist*innen: „Darauf setze ich meine ganze Hoffnung.“

KUNSTSCHAFFENDE ALS ERKLÄRTE FEINDE

Nicht mehr für den Unterricht Bücher über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit (Foto: Bahoe Books)

Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira. Diese zeigte Bolsonaro mit Farbtopf und Pinsel in der Hand, mit denen er das Rote Kreuz – als Symbol für medizinische Hilfe – zum Hakenkreuz verändert hatte. Nach der Veröffentlichung leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen Zeichner und Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Medienschaffende und Intellektuelle reagierten empört: Unter dem Hashtag #somostodosaroeira (#wirsindallearoeira) wurden Hunderte von Zeichner*innen aktiv.

Unter ihnen war auch Carol Ito, die in ihrem Beitrag den Hashtag-Slogan um die weibliche Endung von „alle“ ergänzte: „Somos todos – e todas! – Aroeira“. Ito ist Journalistin und Cartoonistin, Autorin des Comicstrips Quarentiras und betreibt den Cartoon-Blog Salsicha em Conserva, dabei engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen und trans Personen. Ihre Kritik geht daher über die Kampagne hinaus. Im Gespräch mit LN sagte sie dazu: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“ Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um dies aufzubrechen, gründete Carol Ito 2017 mit einigen Mitstreiter*innen im Web Políticas, eine Plattform für politische Karikaturen aus der Feder von Frauen. Das Echo war jedoch bescheidener als erwartet.

Die Hetze gegen Künstler*innen schätzt sie so ein: „Frauen werden weniger eine Zielscheibe von Repressionen oder Zensur, sie werden gar nicht erst groß beachtet.“ Sie selbst sei noch nicht öffentlich angegriffen worden, was aber wenig verwunderlich sei, denn wie so viele Frauen publiziere sie vorwiegend selbst „im Web, wo einen die Leserschaft aufsucht und meist derselben Meinung ist.“

Kritische Kunst erfährt Zensur

Dennoch sei heute die Angst der Kolleg*innen, einen Prozess angehängt zu bekommen, real, so Ito. Es gäbe Gewalt, doch nicht die Attacke auf konkrete Künstler*innen sei dabei das Hauptziel, sondern durch moralische Feldzüge gegen diese die eigene Anhängerschaft zu bedienen oder auszuweiten. Beispielsweise sei mit der Kampagne „Escola sem Partido“ (Schule ohne Partei) eine Linie vorgegeben worden, die es verbiete, im Unterricht Diversität zu thematisieren: „Wir erleben eine diskursive Verdrehung, wenn es heißt, die Schwulen respektieren die Familie nicht.“ Dass „Kunstschaffende zum erklärten Feind gemacht“ werden, ist ihrer Ansicht nach symptomatisch für die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag aus São Paulo, thematisiert eine andere ideologische Kampagne der Rechten: „Bolsonaro lässt aus den Lehrbüchern für Geschichte das Wort Diktatur streichen“. Als Verleger kritischer Werke kennt de Campos die Folgen. Kulturelle Angebote seien in Brasilien ohnehin Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark, doch „in Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“ Es sei großartig gewesen, dass die 2014 und 2017 erschienenen Bücher des Autors Marcelo D’Salete über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, Cumbe und Angola Janga, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien. Heute aber könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein hat, nicht mit der Linie Bolsonaros konform zu sein, und zwar lange, bevor diese gesetzlich vorgegeben oder institutionell durchgesetzt sei: „Die Drohgebärden, die aggressiven Ansagen reichen aus und die Menschen trauen sich nichts mehr“.

Zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln würden auch Einzelpersonen, berichtet der Verleger weiter. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekar*innen oder Buchhändler*innen, dass Bücher an ihr Ziel fänden, ebenso im Vertrieb arbeitende Anhänger*innen evangelikaler Kirchen. Im Fall von Veneta war es der beauftragte Logistiker, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“ – auf dem Cover war eine Frau abgebildet, die ihre Bluse öffnet, die Brustwarzen sichtbar.

Verbote steigern die Auflage

Jede solcher restriktiven Aktionen bringe jedoch auch medialen Wirbel und damit die Chance, sich in der Debatte zu positionieren, so de Campos. Sehr viel mediale Beachtung erhielt zum Beispiel der Marvel-Comic Avengers: Der Kreuzzug der Kinder. In einem Panel werden zwei sich küssende Männer gezeigt. 2019 ließ der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, während der Buchmesse Bienal do Livro do Rio eigenmächtig die Bände der Neuauflage von den Messetischen entfernen. Er begründete dies mit moralischen Bedenken, falls das unversiegelte Buch Minderjährigen in die Hände falle. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung, begleitet von einer hitzigen öffentlichen Diskussion, mit dem Ergebnis, dass ein Bürgermeister zu so etwas nicht befugt ist, selbst bei jugendgefährdendem Inhalt. Der positive Nebeneffekt: Die Auflage war im Nu vergriffen. Von etlichen Fällen, gerade von Selbstzensur aus Angst vor Rufmord und Repressalien, dringt jedoch gar nicht erst etwas nach außen.

Die Debatte lässt sich nutzen

Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt Aroreira Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte. Eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig ist, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo. Sie war verknüpft mit einem „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwält*innen bereit erklärt, sich kostenfrei für Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung einzusetzen.

Denn es mangelt nicht an Fällen von Zensur: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) stellte seit 2017 in Brasilien rund 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst fest. Dort werden jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit registriert. So fehlt zum Beispiel der Fall der in der Zeitung Folha de São Paulo erschienenen Cartoons, in denen ein von der Polizei verübtes Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela kritisiert wurde. Im September 2019 wurden vier der Cartoonist*innen, u.a. Alberto Benett, dafür abgemahnt.

Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging es am Ende gut aus – im März dieses Jahres wurde das Verfahren eingestellt. Auch dazu stellt Comicforscher Ramos fest: „Der Inhalt des Zensierten bekommt mit einem Mal eine viel größere Reichweite. Und es gibt inzwischen die kollektive Wahrnehmung, dass wir in Zeiten einer echten Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats leben. Seit Jahrzehnten habe ich in diesem Land nicht mehr so viele Autoren gesehen, die sich äußern wollen, sei es in Zeitungen oder in sozialen Netzwerken.“

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