Comic | Nummer 560 - Februar 2021

DIALOG IN SCHWARZER TINTE

Interview mit der argentinischen Comiczeichnerin Nacha Vollenweider

Das Comiczeichnen hat in Argentinien eine lange Tradition. Anlässlich der virtuell stattfindenden 8. Edition des Berliner Comicfestivals Comic Invasion sprachen die LN mit der Künstlerin Nacha Vollenweider über ihren Werdegang, die Möglichkeiten und Herausforderungen ihres Berufs sowie über die Comicszenen in Argentinien und Deutschland.

Von Interview & Übersetzung: Lyudmila Vaseva

Eine Glaubensfrage Impfgegner*innen // Germanische Neue Medizin // Kreationismus // Q-Anon // Geld (Illustration: Nacha Vollenweider)

Wie kamen Sie dazu, Comics zu zeichnen?
Was ich an Comics interessant finde, ist, dass sie ein Hybrid zwischen Bildender Kunst und Literatur sind. Somit kann ich zwei Welten vereinen, die mein Leben sehr geprägt haben. Um als Künstlerin all meine Fragen darzustellen, reicht es mir nicht aus, nur zu malen. Comiczeichnen hingegen erlaubt mir, als Künstlerin eine Position zu beziehen, Fragen zu stellen und dies direkt mit den Leuten zu teilen. Im Gegensatz zu anderen Kunstformen, bei denen man fast nie Zugang zu den Künstlern hat und viel erahnen und interpretieren muss, ist der Comic ein viel demokratischeres Medium.

Wann haben Sie mit dem Comiczeichen angefangen?
Meine Mutter ist Künstlerin, schon mit sechs Jahren habe ich begonnen, mich für das Zeichen zu interessieren und viele Comics gelesen. Besonders fasziniert war ich von Mafalda (vom 2020 verstorbenen Zeichner Quino, siehe LN 557), sie war für mich wie ein Vorbild. Danach, mit zwölf Jahren, habe ich in Río Cuarto einen Kurs bei dem Comiczeichner Gabriel „Yabar“ Cafa gemacht. Er ist nur wenig bekannt, hat aber in den 50er und 60er Jahren für wichtige Comiczeitschiften wie Hora Cero gearbeitet und auch einen Comic für den bekannten Comicautor Héctor G. Oesterheld gezeichnet.

Auch andere argentinische Künstler der Neofiguration mit Comicstil, zum Beispiel Carlos Alonso, Luis Felipe Noé und Alberto Deira, haben mich geprägt. Am Ende meines Kunststudiums an der Universität Córdoba konnte ich als Abschlussarbeit zwar einen Comic machen, habe aber nur wenig über Illustration, Comic und Zeichnen gelernt.

Durch einen Workshop des Goethe-Instituts Córdoba bin ich dann auf deutsche Comics aufmerksam geworden. Ich fand sie toll, weil sie genau das kombinieren, was ich immer gemacht habe: Kunst und Comics. Ein Beispiel dafür ist Anke Feuchtenberger, bei der ich später in Hamburg studiert habe. Dorthin bin ich 2013 über ein Künstlerstipendium des DAAD gekommen. Es gefiel mir sehr gut, aber ich hatte auch wegen meiner geringen Einkünfte als Künstlerin Schwierigkeiten, meinen Aufenthaltstitel zu verlängern und bin 2018 nach Argentinien zurückgekehrt.

Mit welchen Thematiken beschäftigen Sie sich in Ihren Werken?
Das kommt sehr auf den Moment an. Generell interessiere ich mich sehr für Geschichte, Philosophie und Politik. Ich stelle mir Fragen und versuche den Alltag zu zeigen und zu verstehen.

Auch Migration ist ein wichtiges Thema für mich. In der Graphic Novel Fußnoten erzähle ich, wie mein Familienname Vollenweider in Argentinien aufgetaucht ist. Dabei spielt zwangsläufig der Kolonialismus eine Rolle, denn man kann die Geschichte Argentiniens nicht ohne die Kolonialgeschichte verstehen. Überraschenderweise haben viele Schulen hier Fußnoten bestellt, um mit den Kindern die Kolonialgeschichte Argentiniens und die Militärdiktatur aufzuarbeiten, auch in Deutschland.

In meiner neuen Graphic Novel Zurück in die Heimat erzähle ich davon, wie es für mich war, nach Argentinien zurückzukehren. Viele Künstler erzählen von der Bewegung von Süden nach Norden, von einem armen in ein reiches Land. Ich hingegen berichte von der Rückkehr, von dem Prozess, sich in der Heimat wieder wohl zu fühlen, bei all den Problemen, die es in Lateinamerika immer gibt, und davon, sich eine neue Identität aufzubauen. All das nach den fünf Jahren, die ich in Deutschland verbracht habe.

Zeichnen Sie ihre Projekte immer in Schwarz-Weiß?
Ja. Ich habe zuerst mit verschiedenen Techniken experimentiert, aber als ich in Deutschland war, bin ich zu diesem alten Comicstil zurückgekehrt. Ich arbeite gerne mit Tusche, denn diese Technik erlaubt es mir, ebenso gut zu schreiben wie zu zeichnen. Das hat eine lange Tradition in Argentinien, Autoren wie Hugo Pratt, Milton Caniff, Alberto Breccia, Solano López und José Muñoz haben auch so gearbeitet. Dabei spielen auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle: Da alle Druckmaterialien importiert werden müssen, ist es sehr teuer, farbig zu drucken.

Auf welchen Wegen machen Sie Ihre Arbeit zugänglich?
Nach meiner Rückkehr habe ich einen eigenen Verlag gegründet. Dort veröffentliche ich kleine Auflagen schöner, handgemachter Bücher. Wegen der Corona-Pandemie und dem neunmonatigen Lockdown pausiert das Projekt fürs Erste. Dieses Jahr werde ich aber weitermachen. In der Zukunft würde ich gerne auch andere Künstler einladen. Die meisten Comickünstler hier machen Fanzines und ähnliche kleine Sachen, um ihre Kunst zu zeigen. Möglichkeiten wie in Europa gibt es hier leider nicht, und wir Illustratoren und Zeichner können nur selten von unserer künstlerischen Tätigkeit leben. Zudem müssen wir ständig um Anerkennung kämpfen.

Wie bestreiten Sie denn als Künstlerin Ihren Lebensunterhalt?
Ich bin immer noch in engem Kontakt mit Deutschland, das hilft mir sehr, weiter an meiner Kunst zu arbeiten. Ich habe letztes Jahr einige Comic-Workshops angeboten — eine andere Möglichkeit, die Kunst und die Comics unter die Menschen zu bringen. Neben einer Veranstaltung für internationale Studierende an der Uni Hamburg bot ich am Museum für Völkerkunde Hamburg, das mittlerweile MARKK heißt (Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt, Anm. d. Red.), einen Workshop zum Thema Kolonialgeschichte an. Alle meine Termine in Europa wurden abgesagt, aber wir konnten die Veranstaltungen zum Glück virtuell nachholen.

Sie sind auch Teil des Straßenkunstkollektivs Carbonillas Projekt. Was genau machen Sie da?
Es gibt hier in Córdoba viele nicht verkaufte Werbeflächen, die mit weißem Papier beklebt sind, darauf malen wir. Das hat mich dieses Jahr wirklich viel beschäftigt. Es ist Kunst um der Kunst willen, es geht darum, die Kunst für alle zugänglich zu machen. Die Themen, die wir bearbeiten, sind ganz unterschiedlich, wir überlegen uns das erst vor Ort. Es sind vor allem philosophische Zeichnungen, es geht um Umwelt und Ungerechtigkeit. Manchmal malen wir auch etwas Abstraktes, jetzt in der Krise zum Beispiel haben wir viele Monster gezeichnet. Ich glaube, es geht dabei auch um den Zeitgeist, was die Menschen früher bewegt hat und was sie heute bewegt.

Sind deutsche Comics in Argentinien bekannt? Und wie sieht es mit argentinischen Comics in Deutschland aus?
Bekannt sind hier vor allem Comics aus den USA, aus Frankreich und Italien, deutsche Comics hingegen gibt es kaum. Ich arbeite daran, sie hier bekannt zu machen. In Deutschland publiziert der Avant-Verlag seit einigen Jahren argentinische Comics. Es gab in den 50er und 60er Jahren in Argentinien eine goldene Zeit des Comics, dafür sind wir bekannt. Es gibt hier sehr gute Zeichner, aber die, die davon leben können, arbeiten oft für die nordamerikanische Industrie und zeichnen Superheldencomics. Ansonsten spielt sich fast das ganze kulturelle und politische Leben in Buenos Aires ab. Das ist auch ein Grund, warum ich in Córdoba bleibe — ich möchte den Leuten auch außerhalb der Hauptstadt etwas anbieten. Letztes Jahr habe ich in La Rioja einen Workshop gegeben. Da gibt es viele interessierte Leute mit viel Talent, aber so gut wie keine Angebote. Ich arbeite viel mit autobiografischen Comics: Die Leute erzählen von ihren eigenen Erfahrungen und Gedanken zu einem vorgegebenen Thema. Im Gegensatz zu Superheldencomics stellen autobiografische Comics menschliche Aspekte dar; nicht nur Erfolge, sondern auch Leid oder andere Gefühle. Und alle diese Lebenserfahrungen haben immer etwas mit irgendeinem politischen Thema zu tun. Je nachdem, wie man das sehen und analysieren möchte. Daraus entstehen die wirklich interessanten Comicgeschichten.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Comicszenen in Deutschland und Argentinien?
In den letzten 10 Jahren haben die autobiografischen Comics in Argentinien einen Boom erlebt, das kann als eine Ähnlichkeit betrachtet werden. Genres wie Science-Fiction, Krimis oder Comics über einzelne Kapitel argentinischer Geschichte sind auch sehr beliebt. Auch Künstlerinnen innerhalb der Frauenbewegung zeichnen Comics, um deren Ideen und Forderungen zu verbreiten. In Deutschland ist mir aufgefallen, dass dokumentarische Comics, wie ich sie mache, eher selten sind. Dabei wird die eigene Erfahrung als ein Mittel benutzt, um über andere Themen zu sprechen. Die populären autobiographischen Comics hingegen sind nicht so politisch engagiert, sie handeln eher von der eigenen Identität oder Beziehungen. Ein großer Unterschied ist auch, dass die Comicszene in Argentinien immer noch sehr traditionell und männlich geprägt ist. Mittlerweile gibt es mehr Comickünstlerinnen, aber im Vergleich zu Deutschland sind es immer noch sehr wenige. In Deutschland gibt es viele Comickünstlerinnen, die sehr erfolgreich sind und eine wichtige Rolle in dieser Szene spielen. Dafür brechen die Frauen hier mit den starren Vorstellungen davon, was Comics sind und was nicht. Was mir in Deutschland sehr gefällt, ist die Offenheit für verschiedene Zeichenstile, die Ungebundenheit an die Tradition. Und man findet trotzdem einen Verlag. Das gibt wirklich eine große Freiheit.

NACHA VOLLENWEIDER geboren 1983 in Río Cuarto, Argentinien, hat einen Abschluss in Malerei von der Nationalen Universität von Córdoba und einen Master in Kunst mit Schwerpunkt auf Illustration und Design von der HAW Hamburg. 2017 veröffentlichte sie ihre Graphic Novel Fußnoten im deutschen Avant-Verlag, die auch in Argentinien als Notas al pie (Maten al Mensajero, 2018) und in Frankreich (Editions Ilatina, 2019) erschien. Mit ihren Projekten Fußnoten und Zurück in die Heimat (noch nicht erschienen) wurde sie im Deutschen Graphic Novel Wettbewerb der Berthold Leibinger Stiftung zweimal als Finalistin ausgewählt (2016 und 2020). Derzeit lebt und arbeitet sie in Córdoba, wo sie am Straßenkunstkollektiv Carbonillas Projekt beteiligt ist und mehrere Online-Kurse über „gezeichnete Literatur“ anbietet.
(Foto: Philipp Meuser)

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