Illustration: Pedro X. Molina
Sie sind ein international bekannter und mit vielen Preisen bedachter Karikaturist. In Berlin halten Sie sich derzeit auf Einladung des Lateinamerika Instituts auf. Wie wurde Ihr Interesse für diese Kunstrichtung angeregt? Und wohin hat sie Sie geführt?
Ich habe als Kind aus Spaß angefangen zu zeichnen. Ich wuchs während der Wirtschaftsblockade in den 1980er Jahren in Estelí im Norden von Nicaragua auf. Wegen der Blockade kamen viele Dinge nicht ins Land. Für ein Kind, das Superhelden-Comics lesen wollte, gab es keine Möglichkeit, sie zu bekommen. Es gab nur einen Fernsehkanal, der eineinviertel Stunden Kinderprogramm ausstrahlte, nicht viel, womit man sich unterhalten konnte.
Damals fuhr meine Mutter nach Managua, um dort Dinge einzukaufen, die sie in Estelí verkaufte. Am Busbahnhof in Managua wurden mexikanische, kubanische, argentinische und auch spanische humoristische Comics verkauft. Meine Mutter ließ mich die Comics kaufen oder kaufte mir selbst welche. Es gab auch die Semana Cómica, ein Comicheft des Cartoonisten Roger Sánchez. Ich las das ganze Material und versuchte, die Bilder und die Karikaturen aus dem Fernsehen zu kopieren. Semana Cómica war politisch und kritisch, so dass ich schon sehr früh eine Verbindung zwischen Zeichnen und Kritik herstellte, und wie man die Gesellschaft durch Humor hinterfragen kann. Bei der Berufswahl habe ich mich für Grafikdesign entschieden, doch schon bald habe ich gemerkt, dass das nichts mit dem zu tun hatte, was ich machen wollte. So begann ich, mich autodidaktisch weiterzubilden.
In der Bibliothek in Managua suchte ich die Karikaturen der Meinungsseiten nicaraguanischer und ausländischer Zeitungen und kopierte sie. So begann ich, Zeichnen zu lernen. Dann zeichnete ich meine erste Karikatur und brachte sie zu einer Zeitung, um zu sehen, ob man sie veröffentlichen würde. Ich wurde zwei-, dreimal abgelehnt, dann einmal veröffentlicht. Aber ich habe nicht aufgegeben, ich sagte mir, das ist das, was ich beruflich machen will: Meinungskarikatur.
Kulturschaffende und Journalist*innen sind derzeit in Nicaragua einer harten Repressionswelle ausgesetzt. Wann war für Sie der Zeitpunkt gekommen, Nicaragua endgültig zu verlassen?
Das war eine schwierige Entscheidung, denn es ist mein zweites Exil. In den achtziger Jahren musste meine Familie wegen des Krieges ins Exil gehen – später konnten wir zurückkehren. Daher wusste ich, wie schwierig das Exil ist, und ich wollte diese Entscheidung nur treffen, wenn es absolut notwendig würde. Künstler in Nicaragua haben schon vorher unter Repressionen gelitten, ebenso Journalisten. Ich habe journalistisch für Confidencial in Estelí gearbeitet und visuell über meine Stadt berichtet. Gleichzeitig habe ich meinen Job als Karikaturist gemacht und davon erzählt, was von April 2018 (Beginn der Proteste, Anm. d. Red.) bis Dezember 2018 passiert ist.
Bei dieser Arbeit ist man bis zu einem gewissen Grad daran gewöhnt, Hassmails zu erhalten: Unter den Leuten, die sich über deine Arbeit ärgern, gibt es immer jemanden, der den Ton verschärft, bis hin zu Drohungen. Vor allem seit Ortega 2007 wieder an die Macht kam, sind die Drohungen härter, gröber und vulgärer geworden. Nach dem April 2018 lief die Sache gezielter: Journalisten wurden ständig an ihrer Arbeit gehindert. Sie wurden auf der Straße ausgeraubt, verprügelt und verunglimpft. Angel Gahona (Journalist und Kameramann, der am 21.4.2018 erschossen wurde, während er live über die Proteste berichtete, Anm. d. Red.) war bereits getötet worden, und es herrschte große Anspannung.
Im Dezember 2018 beschlagnahmte die Diktatur die Redaktion von Confidencial, doch Journalisten waren keine mehr anwesend. Damit war der Punkt gekommen, an dem ich mir sagen musste, es reicht. Als sie in der darauf folgenden Woche dasselbe mit 100% Noticias machten, waren unglücklicherweise die Journalisten Miguel Mora und Lucía Pinera noch im Gebäude, die dann verhaftet wurden.
Künstler*innen werden fast immer gefragt, ob Kunst Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen kann. Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Ich denke, die Kunst ist ein Teil der sozialen Prozesse und Veränderungen werden nie durch einen einzigen Faktor hervorgerufen, der sie freisetzt oder zu ihrem Erfolg führt. Sie sind die Summe vieler Dinge. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch das, was einzelne tun, Teil dieses Wandels ist. Denn was man mit einer Karikatur − mit ihrer Kritik − anstrebt, ist soziales Bewusstsein: Zu hinterfragen, wie wir leben, ob es richtig oder falsch ist, was wir tun sollten oder zumindest − wenn wir die Antwort nicht geben können − uns zu unterstützen, uns gegenseitig zu fragen, was wir tun können, um aus der Situation, in der wir uns befinden, herauszukommen. All das lädt zu Veränderungen ein, es lädt zum Nachdenken über die Gesellschaft ein. Ich denke, dass Kunst − Kunst im Allgemeinen − sicherlich ein großer Motivator für sozialen Wandel ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Kontroverse zurückkommen, die sich 2016 abgespielt hat, also zwei Jahre vor Ausbruch der Jugendproteste: Einige von Ihnen in Confidencial verfasste Comics zur politischen Apathie der Jugend riefen wutentbrannte Kommentare zu Ihrer Person hervor. Wie haben Sie auf die Angriffe der jungen Leute reagiert? Und hat sich für Sie der Vorwurf des Eskapismus und Konformismus nach dem April 2018 relativiert?
Wir sprechen hier über eine soziale Gruppe, milenials genannt, auf die sich zu diesem Zeitpunkt die Kritik richtete: Erstens weil sie kritikwürdig ist und zweitens, weil sie glaubt, dass alle anderen Sektoren Kritik verdienen, nur die eigene Gruppe nicht. Als ich die Comics machte, war es das, was ich in diesem Moment bei den jungen Menschen beobachtete: Jugendliche, die nur daran interessiert waren, ihr Studium zu beenden, am Wochenende auszugehen und sich zu amüsieren, ein Guthaben auf dem Handy zu haben, sich für spanischen Fußball interessierten und für wenig mehr. Und die sich nicht im geringsten um die institutionelle Erosion und den Verfall kümmerten, der gerade in Nicaragua stattfand, die sich hinter der Ausrede versteckten, damit hätten sie nichts zu tun, es sei nicht ihre Schuld, das sei „unsere” Schuld.
Unabhängig davon, wessen Schuld es ist: Sie werden diese Suppe auslöffeln müssen, deshalb sollte es sie interessieren. Also habe ich diesen Cartoon gemacht, der heftigst kommentiert und kritisiert wurde. Einige Jugendliche, von denen manche sich als Sprecher ihrer Generation bezeichneten, begannen mit der Kritik. Dabei ging es nicht um inhaltliche Argumente, das Argument war, dass wir adulteros seien, „Alte“, die junge Leute nicht verstehen. Das andere war: „Ihr wart die Generation, die uns das angetan hat, warum wälzt ihr das Problem auf uns ab?” Mir schien, als würde man der Generation die Schuld geben wollen, die in den achtziger Jahren von der FSLN begeistert war, ohne zu wissen, was aus ihr einmal werden würde. Aber die Kritik war auch sehr nützlich, weil sie eine Diskussion eröffnete. Das Thema wurde debattiert, was ja die Aufgabe der Meinungskarikatur ist: eine Debatte anzustoßen, die damals hauptsächlich in den sozialen Netzwerken stattfand. Dann begann der Protest von 2018 und das veränderte alles. Die Studierenden waren eine sehr wichtige Stimme und übernahmen am Anfang die Führung. Für mich waren sie nicht nur die wichtigste Stimme, sondern die Stimme überhaupt. Also begann ich, dies in meinen Karikaturen und Comics darzustellen und die Position der Studenten zu verteidigen und zu bestätigen, dass ihre selbstorganisierte Bewegung eine Bürgerbewegung war, auch wenn die Regierung etwas anderes behauptete. Viele von ihnen begannen, eine starke Sensibilität zu entwickeln, womit sie die gesamte Bevölkerung ansteckten, was schließlich zu einem mehrheitlich geteilten Empfinden wurde. Nachdem das passiert war, haben mir einige die gleiche Frage gestellt, die Sie mir gestellt haben. Über die sozialen Netzwerke fragten sie: „Nun, da Sie gesehen haben, wie die Dinge liegen, müssen Sie sich für das entschuldigen, was Sie 2016 über uns gesagt haben.” Meine Antwort war deutlich: Nein! Warum? Ich arbeite kontextbezogen, ich schaue mir an, was Tag für Tag passiert. In dem Moment, als ich es kritisierte, war es wahr. Sollten sie in Zukunft zu derselben Situation zurückkehren, werde ich sie wieder kritisieren, denn das ist meine Aufgabe. Die meisten Menschen beider Generationen erkennen an, dass es 2018 einen grundlegenden Wandel gab. Bedeutet das, dass es in Nicaragua keine apathischen jungen Leute mehr gibt? Nein. Denn es gibt immer noch viele. Aber auch viele engagierte junge Menschen und viele, die gezwungen waren, Nicaragua zu verlassen, weil sie verstanden haben, dass dieses System, für das sie bis 2018 blind waren, als Lebensprojekt nicht tragfähig ist.
Die Somoza-Diktatur wurde erst nach jahrzehntelangem bewaffneten Kampf beendet. Gibt es unter den Exilant*innen noch Zuversicht oder Ideen, wie sich in Nicaragua ein Systemwechsel erreichen ließe?
Ich denke, so schwierig es auch ist, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, gibt es Gründe, sie zu haben. Nicaraguas Geschichte zeigt uns, dass Diktaturen unter Umständen fallen und das Volk für Überraschungen sorgen kann. Den April 2018 hat niemand vorhergesagt − niemand! Nicht einmal die seriösesten Analysten sagten für 2018 so etwas voraus. Damit will ich sagen, dass in einem bestimmten Moment die geringfügigste Sache der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich bin besorgt, weil sich 2018 wiederholen wird und vielleicht wird es mit noch größerer Gewalt und zu einem noch höheren Preis für die nicaraguanische Gesellschaft passieren – genau das hätten wir verhindern sollen, die Welt hätte es verhindern müssen, aber es ist leider bisher nicht gelungen.
Ich möchte zurück, aber ich will nicht zurück in ein Nicaragua, das kapituliert hat, das versklavt, unterworfen, resigniert ist. Ich will ein freies Nicaragua, in dem man jedes Thema diskutieren kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man für einen Tweet 15 Jahre ins Gefängnis kommt. Das ist mein Kampf und der Kampf so vieler Menschen, um Veränderungen herbeizuführen. Wie erreichen wir diese Veränderungen? Das ist eine wichtige Debatte und ich verstehe all die Leute, die frustriert sind und sagen: „Wenn Somoza mit Waffengewalt gestürzt wurde, und wenn diese Diktatur mehr und mehr identisch ist mit der Diktatur von Somoza, dann muss das ebenso die Antwort sein.” Ich glaube nicht, dass dies der richtige Weg ist, es muss einen anderen Weg geben als eine bewaffnete Revolution. Eine Reihe von Dingen muss geschehen, um eine Gesellschaft zu verändern. Natürlich liegt die Verantwortung dafür zuerst bei den Nicaraguanern selbst und unter ihnen bei denjenigen, die über mehr Energie und Möglichkeiten verfügen, um zu handeln; ihre größte Verantwortung besteht darin, einen Konsens über ein Mindestprogramm herzustellen, das eine Lösung der Probleme ermöglicht. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft hier ebenfalls eine Rolle zu spielen hat, denn was in Nicaragua geschieht, hat Auswirkungen auf die gesamte Region.