Von Murales und Allende – Denkmälern

(Foto: Britta Ledebur via wikimedia commons, CC BY 4.0)

Das verblichene Rot, Weiß und Blau an der tristen Außenwand der Ruhr-Universität Bochum ist zu großen Teilen abgeblättert. Kaum noch etwas lässt erkennen, dass die chilenische Künstler*innenbrigade Luis Corvalán hier um 1976 ein Mural (dt. Wandbild) geschaffen hat.

Der Sozial- und Kulturwissenschaftler Carlos Gomes hat viele beinahe vergessene Orte wie diesen besucht. Die Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlichte er zunächst auf einer Webseite, nun sind sie zum 50. Jahrestags des Putsches gegen Salvador Allende als handlicher Bildband mit dem Titel CHILE 1973. Denkmäler und Wandbilder in DDR und BRD erschienen.

Dass die DDR im Untertitel zuerst genannt wird, ist kein Zufall. Der Großteil der hier dokumentierten Monumente befindet sich im Gebiet des ehemaligen sozialistischen Staates, in dem das Andenken an Allende und Co. in Ehren gehalten und staatlich gefördert wurde. In der BRD erschufen vor allem exilierte chilenische Künstler*innen sowie die Solidaritätsbewegung Kunstwerke.

Bevor Gomes auf einzelne Denkmäler eingeht, umreißt er den historischen Kontext, in dem die gezeigten Werke entstanden sind. So werden die Regierungszeit Allendes, der Putsch und die Militärdiktatur mit besonderem Fokus auf die Beziehungen Chiles zu beiden deutschen Staaten beschrieben. Dabei zeigt Gomes auch, wie vielfältig die Solidaritätsbewegungen mit Chile war – auch das Cover einer Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten (damals Chile-Nachrichten) hat es in den Bildband geschafft.

Die Fotos der Denkmäler offenbaren die Vielfältigkeit, mit denen der Held*innen der Allende-Zeit in DDR und BRD gedacht wurde, darunter bunte Murales, Bronzestatuen, Büsten und Reliefs. Gomes stellt auch heute verschollene Denkmäler vor sowie solche, die beschädigt oder immer wieder in Frage gestellt worden sind. Das oben abgebildete Wandbild vor dem Audimax der Universität Bielefeld etwa wurde einst in einer nächtlichen Aktion von chilenischen Künstler*innen gemalt und entging nur knapp der Übermalung.

Carlos Gomes ist mit dem Bildband ein zwar kleiner und schlichter, aber sehr schöner Überblick über die Chile-Denkmäler in Deutschland gelungen. Er schließt die Entdeckung weiterer Denkmäler nicht aus und ermuntert durch genaue Ortsangaben der Denkmäler gar zur Suche. Wer mit Kunst nicht so viel am Hut hat, kann in Berlin auch im Allende-Center shoppen gehen.

Die Frage, wem wir Denkmäler widmen, nach wem Straßen benannt werden, ist eine hochpolitische. Es wäre zu hoffen, dass der 50. Jahrestag des Putsches ein Anlass ist, die chilenische Geschichte durch die Restauration alter oder die Schaffung neuer Denkmäler wieder sichtbarer zu machen, damit Allendes Projekt und der Widerstand gegen die grausame Diktatur nicht vergessen werden.

Kein Vergeben, Kein Vergessen

Die Proteste in Chile im Jahr 2019 richteten sich gegen verschiedene Faktoren, die die Ungleichheit im Land bestimmen. Gleichzeitig ging es um die Konsequenzen der Kolonialisierung Amerikas, die den Kontinent prägen seit Amerigo Vespucci und Christoph Kolumbus ihn im 15. Jahrhundert betraten und die Ausbeutung zugunsten Europas begann. Vor allem indigene Bewegungen wandelten daher den Slogan „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, der sich auf die Folgen der Diktatur bezog, in „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 500 Jahre!“ um. 30 Pesos spielen auf die Fahrpreiserhöhung an, die Initialfunke der Proteste war.

Seit dem Ende der Kolonialherrschaft hat sich in Chile zwar politisch, sozial, wirtschaftlich und ökologisch viel verändert. Dennoch sind die zum Teil jahrzehntelangen Kämpfe gegen die verschiedenen Machtstrukturen miteinander verbunden. Der 50. Jahrestag des Putsches vom 11. September 1973 in Chile verdeutlicht diese Zusammenhänge.

So ist in den Arbeiten von Paula Carmona Araya, Mercvria (Antonia Taulis), Milena Moena Moreno, Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) und Mariana Soledad ein gewisses Misstrauen gegenüber der Erzählung, dass sich mit dem Ende der Diktatur die Verhältnisse grundlegend geändert haben, spürbar. Die ausgestellten Werke der fünf Künstlerinnen aus Chile sind ein Versuch, sich nicht mit den Symbolen einer Nation zu versöhnen, die auf einem brutalen Erbe aufbaut. Ihr Misstrauen offenbart die Krise eines politischen Projekts, das auf der patriotischen Idee einer monokulturellen Nation beruht. Die Arbeiten setzen sich daher mit Relikten der Diktatur wie auch der Kolonialisierung auseinander.

Einerseits wird hier die Kontinuität der Auseinandersetzungen deutlich, sei es in Form des Umsturzes des Denkmals des spanischen Kolonisators Pedro de Valdivia in Concepción oder der unkenntlich gemachten Machi, einer indigenen Mapuche, auf der 100-Peso-Münze. Andererseits zeigen die Künstlerinnen, wie vielfältig und offen die Forderungen der sozialen Bewegungen in Chile heute sind, indem sie feministische Kämpfe, Altersarmut oder den fehlenden Zugang zu Wasser thematisieren.
Den Symbolen von Gewalt, Unterdrückung und Rassismus stehen die Arbeiten unversöhnlich gegenüber. Gleichzeitig verweisen die Künstlerinnen auf Symbole, die für andere Formen von Gemeinschaft stehen: Die schwarz-weißen Porträtfotografien, die oft zerknittert sind, weil sie die Suche nach den Angehörigen begleiten, symbolisieren die Gemeinschaft der Hinterbliebenen der Gefangenen, die verschwunden worden sind. Ebenso wie rote Nelken, Abbildungen des Sängers Víctor Jara oder Stencils von Seepferdchen stehen diese Symbole für den Widerstand gegen die zivil-militärische Diktatur und ihre bis heute spürbaren Folgen.

Pedro Lemebel, Autor und Künstler, schrieb einst, dass in Chile gerne so getan werde, als sei der September ausschließlich der Monat des Nationalfeiertags und damit von Cueca (traditioneller Tanz), Copete (umgangssprachliches Wort für alkoholische Getränke) und Empanadas (gefüllte Teigtaschen). Dass im September nicht nur der Unabhängigkeit von der spanischen Krone erinnert werden sollte, veranschaulichen die fünf Künstlerinnen der Ausstellung. Die Kämpfe um Erinnerungen und ihre Repräsentationen sind ungebrochen.

Foto: Mariana Soledad, Desligarse de la conquista, 2019

2019 ist in der südchilenischen Stadt Concepción die Statue des Spaniers Pedro de Valdivia von ihrem Sockel gestürzt worden. Die Demonstrierenden trugen die Skulptur des Eroberers auf einen nahe gelegenen Platz, um sie zu Füßen des Lautaro-Denkmals zu platzieren. Lautaro oder Leftraru ist ein Symbol des indigenen Widerstands der Mapuche im 16. Jahrhundert und nahm an der Schlacht von Tucapel teil, in der Valdivia getötet wurde. Die Umkehrung der Machtverhältnisse dieser beiden historischen Figuren ist eine Art, eine andere Geschichte zu erzählen, die die Fotografin Mariana Soledad in ihrer Serie Desligarse de la Conquista (sich von der Eroberung befreien) von 2019 festhält. Der Denkmalsturz, von Manuela Badilla und Carolina Aguilera als „dekoloniale Performance“ bezeichnet, fand am ersten Jahrestag der Ermordung des jungen Mapuche Camilo Catrillanca statt. Im letzten Akt dieser Performance trägt Lautaro das Bild von Catrillanca, eine schwarzgefärbte chilenische Flagge und die Wenüfoye, die Flagge der verschiedenen territorialen Identitäten der Mapuche. Die Ereignisse sind Ausdruck der Entstehung eines neuen Ortes der Erinnerung mit neuen Symbolen.

Foto: Antonia Taulis, Mercvria, 2019

Mercvria (2019-heute) von Antonia Taulis ist eine „Wandzeitung“, die die Pluralität der Forderungen in den Oktober-Demonstrationen von 2019 widerspiegelt. Als visuelle Kommunikation bringt das Projekt aktuelle Forderungen, verschiedene politische Kämpfe und ihre künstlerischen Ausdrucksformen zusammen. Das Format ist inspiriert vom Kunstprojekt Quebrantahuesos von Nicanor Parra, Enrique Lihn und Alejandro Jodorowsky aus den 1950er Jahren in Chile. Der Titel bezieht sich auf die auflagenstarke und älteste spanischsprachige Zeitung des Kontinents El Mercurio. Ihr Herausgeber war ein überzeugter Anhänger des Militärputsches. Noch heute ist die Zeitung bekannt für ihre reißerische und teilweise fehlerhafte Berichterstattung.

Foto: Milena Moena Morena, Especies Acuñadas, 2020

Milena Moena Moreno bearbeitet in ihrer Serie Especies Acuñadas (Geprägte Arten, 2019 & 2020) die nationale 100-Peso-Münze, auf deren Rückseite eine Machi, eine Mapuche, abgebildet ist. Die Alltäglichkeit der Münze und andere symbolische Akte der Sichtbarkeit verschleiern die Geschichte des Genozids und die anhaltende Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Chiles. Mit dem unkenntlich gemachten Gesicht der Mapuche-Frau visualisiert die bildende Künstlerin und Goldschmiedin diese Missachtung und die historische Unzufriedenheit der stets wehrhaften Mapuche. Als 2021 ein Verfassungskonvent zusammentrat, dessen erste Präsidentin die Indigene Elisa Loncón wurde, war dies ein erster Schritt der Anerkennung.

Foto: Paula Carmona Araya. PONER EL CUERPO, “Memoria Abierta”, 2022

In ihrer Serie Memoria Abierta (Offene Erinnerung, 2022) verdeckt Paula Carmona Araya ihr Gesicht mit einer weißen Maske und platziert sich an drei bedeutsamen Orten in Santiago de Chile: dem Denkmal für die weiblichen Opfer politischer Repression, der Gedenkstätte Brücke Bulnes und dem Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Die Serie steht in Verbindung zu Obraabierta (Offenes Werk, 1978 bis heute) des chilenischen Künstlers Hernán Parada. Während der Diktatur intervenierte er auf vielfältige Weise im öffentlichen Raum. Dafür nutzte er Fotografien seines Bruders Alejandro, der 1974 verschwunden wurde – und der bis heute verschwunden bleibt. Bei einer dieser Interventionen trug der Künstler eine Fotografie von Alejandros Gesicht als Maske vor seinem eigenen Gesicht. Paula, die im Museum der Erinnerung vor den Fotografien anderer verschwundener Gefangener zu sehen ist, unterstreicht die permanente Abwesenheit, die Undarstellbarkeit der Geschichten und die Notwendigkeit einer aktiven Erinnerung.

Foto: Anís Estrellada, AFP, 2019

Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) nimmt in ihrer Arbeit AFP (2019) die andere Seite der gleichen 100-Peso-Münze, um auf ein aktuelles Thema hinzuweisen: das Rentensystem und die damit verbundene Altersarmut. Diese ist eines der vielen Probleme, die während des Aufstands von 2019 angeprangert wurden. In der Arbeit Violador (2019) überarbeitet Ana das Staatswappen. Das Original aus dem Jahr 1834 umfasst einen Schild mit einem Stern in der Mitte, gekrönt von einem Federbusch, beide in den Nationalfarben. Die Schildhalter sind ein gekrönter Südandenhirsch (Huemul) und ein gekrönter Kondor. Auf dem Spruchband des Sockels befindet sich der Wahlspruch Chiles: „Por la razón o la fuerza“ (Durch Vernunft/Verstand oder Stärke). Huemul und Condor haben in der Version von Ana keine Augen, in Anspielung auf die mehr als 3.700 Verwundeten und 440 Menschen mit verletzten Augen im Jahr 2019. Das Wappen, das sie halten trägt statt des Sterns einen Totenkopf, darunter ist zu lesen „El violador eres tú“ (Der Vergewaltiger bist du), Titel der berühmten Performance des Kollektivs LasTesis. In den Arbeiten Molotov (2019) und Lucha (2020) verweist sie auf die Stärke der feministischen Bewegungen, den damit verbundenen Slogan „Keine Angst“ sowie das Feuer als Symbol des Kampfes.

KARIKATUR IST KRITIK

Illustration: Pedro X. Molina

Sie sind ein international bekannter und mit vielen Preisen bedachter Karikaturist. In Berlin halten Sie sich derzeit auf Einladung des Lateinamerika Instituts auf. Wie wurde Ihr Interesse für diese Kunstrichtung angeregt? Und wohin hat sie Sie geführt?
Ich habe als Kind aus Spaß angefangen zu zeichnen. Ich wuchs während der Wirtschaftsblockade in den 1980er Jahren in Estelí im Norden von Nicaragua auf. Wegen der Blockade kamen viele Dinge nicht ins Land. Für ein Kind, das Superhelden-Comics lesen wollte, gab es keine Möglichkeit, sie zu bekommen. Es gab nur einen Fernsehkanal, der eineinviertel Stunden Kinderprogramm ausstrahlte, nicht viel, womit man sich unterhalten konnte.

Damals fuhr meine Mutter nach Managua, um dort Dinge einzukaufen, die sie in Estelí verkaufte. Am Busbahnhof in Managua wurden mexikanische, kubanische, argentinische und auch spanische humoristische Comics verkauft. Meine Mutter ließ mich die Comics kaufen oder kaufte mir selbst welche. Es gab auch die Semana Cómica, ein Comicheft des Cartoonisten Roger Sánchez. Ich las das ganze Material und versuchte, die Bilder und die Karikaturen aus dem Fernsehen zu kopieren. Semana Cómica war politisch und kritisch, so dass ich schon sehr früh eine Verbindung zwischen Zeichnen und Kritik herstellte, und wie man die Gesellschaft durch Humor hinterfragen kann. Bei der Berufswahl habe ich mich für Grafikdesign entschieden, doch schon bald habe ich gemerkt, dass das nichts mit dem zu tun hatte, was ich machen wollte. So begann ich, mich autodidaktisch weiterzubilden.

In der Bibliothek in Managua suchte ich die Karikaturen der Meinungsseiten nicaraguanischer und ausländischer Zeitungen und kopierte sie. So begann ich, Zeichnen zu lernen. Dann zeichnete ich meine erste Karikatur und brachte sie zu einer Zeitung, um zu sehen, ob man sie veröffentlichen würde. Ich wurde zwei-, dreimal abgelehnt, dann einmal veröffentlicht. Aber ich habe nicht aufgegeben, ich sagte mir, das ist das, was ich beruflich machen will: Meinungskarikatur.

Kulturschaffende und Journalist*innen sind derzeit in Nicaragua einer harten Repressionswelle ausgesetzt. Wann war für Sie der Zeitpunkt gekommen, Nicaragua endgültig zu verlassen?
Das war eine schwierige Entscheidung, denn es ist mein zweites Exil. In den achtziger Jahren musste meine Familie wegen des Krieges ins Exil gehen – später konnten wir zurückkehren. Daher wusste ich, wie schwierig das Exil ist, und ich wollte diese Entscheidung nur treffen, wenn es absolut notwendig würde. Künstler in Nicaragua haben schon vorher unter Repressionen gelitten, ebenso Journalisten. Ich habe journalistisch für Confidencial in Estelí gearbeitet und visuell über meine Stadt berichtet. Gleichzeitig habe ich meinen Job als Karikaturist gemacht und davon erzählt, was von April 2018 (Beginn der Proteste, Anm. d. Red.) bis Dezember 2018 passiert ist.

Bei dieser Arbeit ist man bis zu einem gewissen Grad daran gewöhnt, Hassmails zu erhalten: Unter den Leuten, die sich über deine Arbeit ärgern, gibt es immer jemanden, der den Ton verschärft, bis hin zu Drohungen. Vor allem seit Ortega 2007 wieder an die Macht kam, sind die Drohungen härter, gröber und vulgärer geworden. Nach dem April 2018 lief die Sache gezielter: Journalisten wurden ständig an ihrer Arbeit gehindert. Sie wurden auf der Straße ausgeraubt, verprügelt und verunglimpft. Angel Gahona (Journalist und Kameramann, der am 21.4.2018 erschossen wurde, während er live über die Proteste berichtete, Anm. d. Red.) war bereits getötet worden, und es herrschte große Anspannung.

Im Dezember 2018 beschlagnahmte die Diktatur die Redaktion von Confidencial, doch Journalisten waren keine mehr anwesend. Damit war der Punkt gekommen, an dem ich mir sagen musste, es reicht. Als sie in der darauf folgenden Woche dasselbe mit 100% Noticias machten, waren unglücklicherweise die Journalisten Miguel Mora und Lucía Pinera noch im Gebäude, die dann verhaftet wurden.

Künstler*innen werden fast immer gefragt, ob Kunst Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen kann. Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Ich denke, die Kunst ist ein Teil der sozialen Prozesse und Veränderungen werden nie durch einen einzigen Faktor hervorgerufen, der sie freisetzt oder zu ihrem Erfolg führt. Sie sind die Summe vieler Dinge. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch das, was einzelne tun, Teil dieses Wandels ist. Denn was man mit einer Karikatur − mit ihrer Kritik − anstrebt, ist soziales Bewusstsein: Zu hinterfragen, wie wir leben, ob es richtig oder falsch ist, was wir tun sollten oder zumindest − wenn wir die Antwort nicht geben können − uns zu unterstützen, uns gegenseitig zu fragen, was wir tun können, um aus der Situation, in der wir uns befinden, herauszukommen. All das lädt zu Veränderungen ein, es lädt zum Nachdenken über die Gesellschaft ein. Ich denke, dass Kunst − Kunst im Allgemeinen − sicherlich ein großer Motivator für sozialen Wandel ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Kontroverse zurückkommen, die sich 2016 abgespielt hat, also zwei Jahre vor Ausbruch der Jugendproteste: Einige von Ihnen in Confidencial verfasste Comics zur politischen Apathie der Jugend riefen wutentbrannte Kommentare zu Ihrer Person hervor. Wie haben Sie auf die Angriffe der jungen Leute reagiert? Und hat sich für Sie der Vorwurf des Eskapismus und Konformismus nach dem April 2018 relativiert?
Wir sprechen hier über eine soziale Gruppe, milenials genannt, auf die sich zu diesem Zeitpunkt die Kritik richtete: Erstens weil sie kritikwürdig ist und zweitens, weil sie glaubt, dass alle anderen Sektoren Kritik verdienen, nur die eigene Gruppe nicht. Als ich die Comics machte, war es das, was ich in diesem Moment bei den jungen Menschen beobachtete: Jugendliche, die nur daran interessiert waren, ihr Studium zu beenden, am Wochenende auszugehen und sich zu amüsieren, ein Guthaben auf dem Handy zu haben, sich für spanischen Fußball interessierten und für wenig mehr. Und die sich nicht im geringsten um die institutionelle Erosion und den Verfall kümmerten, der gerade in Nicaragua stattfand, die sich hinter der Ausrede versteckten, damit hätten sie nichts zu tun, es sei nicht ihre Schuld, das sei „unsere” Schuld.

Unabhängig davon, wessen Schuld es ist: Sie werden diese Suppe auslöffeln müssen, deshalb sollte es sie interessieren. Also habe ich diesen Cartoon gemacht, der heftigst kommentiert und kritisiert wurde. Einige Jugendliche, von denen manche sich als Sprecher ihrer Generation bezeichneten, begannen mit der Kritik. Dabei ging es nicht um inhaltliche Argumente, das Argument war, dass wir adulteros seien, „Alte“, die junge Leute nicht verstehen. Das andere war: „Ihr wart die Generation, die uns das angetan hat, warum wälzt ihr das Problem auf uns ab?” Mir schien, als würde man der Generation die Schuld geben wollen, die in den achtziger Jahren von der FSLN begeistert war, ohne zu wissen, was aus ihr einmal werden würde. Aber die Kritik war auch sehr nützlich, weil sie eine Diskussion eröffnete. Das Thema wurde debattiert, was ja die Aufgabe der Meinungskarikatur ist: eine Debatte anzustoßen, die damals hauptsächlich in den sozialen Netzwerken stattfand. Dann begann der Protest von 2018 und das veränderte alles. Die Studierenden waren eine sehr wichtige Stimme und übernahmen am Anfang die Führung. Für mich waren sie nicht nur die wichtigste Stimme, sondern die Stimme überhaupt. Also begann ich, dies in meinen Karikaturen und Comics darzustellen und die Position der Studenten zu verteidigen und zu bestätigen, dass ihre selbstorganisierte Bewegung eine Bürgerbewegung war, auch wenn die Regierung etwas anderes behauptete. Viele von ihnen begannen, eine starke Sensibilität zu entwickeln, womit sie die gesamte Bevölkerung ansteckten, was schließlich zu einem mehrheitlich geteilten Empfinden wurde. Nachdem das passiert war, haben mir einige die gleiche Frage gestellt, die Sie mir gestellt haben. Über die sozialen Netzwerke fragten sie: „Nun, da Sie gesehen haben, wie die Dinge liegen, müssen Sie sich für das entschuldigen, was Sie 2016 über uns gesagt haben.” Meine Antwort war deutlich: Nein! Warum? Ich arbeite kontextbezogen, ich schaue mir an, was Tag für Tag passiert. In dem Moment, als ich es kritisierte, war es wahr. Sollten sie in Zukunft zu derselben Situation zurückkehren, werde ich sie wieder kritisieren, denn das ist meine Aufgabe. Die meisten Menschen beider Generationen erkennen an, dass es 2018 einen grundlegenden Wandel gab. Bedeutet das, dass es in Nicaragua keine apathischen jungen Leute mehr gibt? Nein. Denn es gibt immer noch viele. Aber auch viele engagierte junge Menschen und viele, die gezwungen waren, Nicaragua zu verlassen, weil sie verstanden haben, dass dieses System, für das sie bis 2018 blind waren, als Lebensprojekt nicht tragfähig ist.

Die Somoza-Diktatur wurde erst nach jahrzehntelangem bewaffneten Kampf beendet. Gibt es unter den Exilant*innen noch Zuversicht oder Ideen, wie sich in Nicaragua ein Systemwechsel erreichen ließe?
Ich denke, so schwierig es auch ist, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, gibt es Gründe, sie zu haben. Nicaraguas Geschichte zeigt uns, dass Diktaturen unter Umständen fallen und das Volk für Überraschungen sorgen kann. Den April 2018 hat niemand vorhergesagt − niemand! Nicht einmal die seriösesten Analysten sagten für 2018 so etwas voraus. Damit will ich sagen, dass in einem bestimmten Moment die geringfügigste Sache der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich bin besorgt, weil sich 2018 wiederholen wird und vielleicht wird es mit noch größerer Gewalt und zu einem noch höheren Preis für die nicaraguanische Gesellschaft passieren – genau das hätten wir verhindern sollen, die Welt hätte es verhindern müssen, aber es ist leider bisher nicht gelungen.

Ich möchte zurück, aber ich will nicht zurück in ein Nicaragua, das kapituliert hat, das versklavt, unterworfen, resigniert ist. Ich will ein freies Nicaragua, in dem man jedes Thema diskutieren kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man für einen Tweet 15 Jahre ins Gefängnis kommt. Das ist mein Kampf und der Kampf so vieler Menschen, um Veränderungen herbeizuführen. Wie erreichen wir diese Veränderungen? Das ist eine wichtige Debatte und ich verstehe all die Leute, die frustriert sind und sagen: „Wenn Somoza mit Waffengewalt gestürzt wurde, und wenn diese Diktatur mehr und mehr identisch ist mit der Diktatur von Somoza, dann muss das ebenso die Antwort sein.” Ich glaube nicht, dass dies der richtige Weg ist, es muss einen anderen Weg geben als eine bewaffnete Revolution. Eine Reihe von Dingen muss geschehen, um eine Gesellschaft zu verändern. Natürlich liegt die Verantwortung dafür zuerst bei den Nicaraguanern selbst und unter ihnen bei denjenigen, die über mehr Energie und Möglichkeiten verfügen, um zu handeln; ihre größte Verantwortung besteht darin, einen Konsens über ein Mindestprogramm herzustellen, das eine Lösung der Probleme ermöglicht. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft hier ebenfalls eine Rolle zu spielen hat, denn was in Nicaragua geschieht, hat Auswirkungen auf die gesamte Region.

„DIE KUNST IST EINE GROSSE VERBÜNDETE FÜR ALLES, WAS AUF DER STRASSE PASSIERT“

Mariela Scafati (Foto: Jorge Miño)

Sie kommen gerade von einer Ausstellung in Madrid, jetzt sind Sie in Berlin und fahren bald nach Kassel zur Documenta. Wie sind diese Ausstellungen verbunden?
Es gibt eine klare Verbindung, und das ist der Globale Süden: In Kassel sind wir alle Gruppen aus dem Globalen Süden, Künstler*innen, die nicht zum hegemonialen Zentrum gehören. In Madrid ist es eine Ausstellung lateinamerikanischer Grafiken, die aus einer sechs Jahre langen Recherche entstanden ist. Dort war es einfach, sich wohlzufühlen, zwischen all den Menschen, mit denen man etwas gemeinsam hat. Zwischen dieser Ausstellung und der Documenta 15 gibt es eine zentrale Verbindung: das Nachdenken über und das Arbeiten mit dem Ort. Die Arbeiten entstehen im Museum, verlassen dieses dann, gelangen in Form von Workshops in die Nachbarschaft, um wieder ins Museum zurückzukehren. Die Ideen von Ruangrupa für Kassel sind vergleichbar. Es ist ein dezentrales Denken. Das ist etwas, das hier in Berlin nicht wirklich passiert.

In welchem Verhältnis stehen Aktivismus und künstlerische Arbeit für Sie?
Es bestehen immer Spannungen: Die Kunst ist eine große Verbündete für alles, was auf der Straße passiert, aber sie folgt einer anderen Logik. Mich persönlich hat die Politik vor der Kunst gerettet. Das meine ich natürlich ironisch, aber ich fühle das vor allem auch umgekehrt: Die Kunst hat mich vor der Politik gerettet, sie hat mir eine Pause verschafft. Sie hat eine Zeit kreiert, die außerhalb der politischen Zeit liegt. In den letzten Jahren haben wir in Argentinien und in anderen Ländern des Kontinents nicht mehr innegehalten, wir mussten auf den Straßen sein. Das ist ein sehr physischer Akt, in dem der Körper eine große Rolle spielt und in Argentinien ist es unmöglich, dieser Realität zu entkommen. Diese politische Kultur hat die Kunst sehr stark geprägt.

Ihre Arbeit „Movilización“ (Mobilisierung) ist während der Corona-Pandemie entstanden. Hat die Arbeit einen Zusammenhang mit dem Pandemiegeschehen und den kollektiven Formen, die Sie eben beschrieben haben?
Ja, hier wird das Kollektive sehr deutlich. Bereits bevor die Pandemie begann, waren die Leinwände auf dem Weg nach Berlin. Diese bildeten stehende Körper von Freundinnen und Freunden, kurz bevor wir zu einer Demonstration gehen. Mit dem Beginn der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass das zu viel Fiktion war und nichts mit dem Moment zu tun hatte.

Inwiefern?
Ich dachte an die Außensicht: Was erwartet ein europäisches Publikum von Lateinamerika? Heldenhafte Körper, die protestieren gehen, die sich widersetzen. Während des Lockdowns begann ich die Kurator*innen davon zu überzeugen, dass die Körper liegen müssten. Zunächst sagten sie, dass auf dem Boden liegende Körper Assoziationen zu Leichen hervorrufen würden. Es sind jedoch keine Leichen, sondern die Art und Weise, wie meine Freundinnen und Freunde während der Pandemie protestierten, war eben auf dem Boden liegend.

Haben Sie künstlerische Vorbilder?
Für mich sind die größte künstlerische Inspiration die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo. Ich denke dabei an den siluetazo, eine Strategie der Menschenrechtsbewegung in Argentinien. Er ist von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt worden, aber ohne den Dialog mit den Müttern und Großmüttern wäre das nicht möglich gewesen. Die ursprüngliche Idee war, die Silhouetten auf den Boden zu malen. Doch für die Mütter und Großmütter konnten ihre Kinder nicht auf dem Boden liegen, weil es keine Leichen waren. Deshalb wurden die Silhouetten auf Papier gezeichnet und an Wände geklebt. Dieser Gedanke ist sehr künstlerisch. Darin liegt die Macht, die zwischen Kunst und Politik entsteht.

Die Farbe Weiß ist bis heute mit der Geschichte der Mütter und Großmütter verbunden. Sie arbeiten viel mit Farben, welche Bedeutung hat das für Sie?
Farben sind nicht neutral. In Madrid war ich mit dem Kollektiv Cromoactivismo eingeladen, wir verstehen uns als Anti-Pantone-Gruppe; als Künstlerinnen und Künstler betreiben wir einen poetischen und transversalen Aktivismus mit Farbe. Wir arbeiten auf der Straße.

Als während des Macrismo versucht wurde, die Strafen für Folterer der Diktatur zu reduzieren, waren wir geschockt, niemand hätte das für möglich gehalten. Unsere Reaktion bestand darin, mit weißen Stoffen auf die Straße zu gehen. Dadurch entstand eine öffentliche Debatte. Einige sagten, dass das Weiß heilig sei, es sei das Tuch der Mütter. Genau in diesem Moment trat die indigene Aktivistin Milagro Sala hervor und hielt ein weißes Tuch an zwei Ecken in die Luft. Damit war der pañuelazo (kollektive Protestaktion mit dreieckigen Tüchern, Anm. d. Red.) geboren, den wenig später die feministische Bewegung aufgriff. Es ist ein weiteres Werkzeug des Protests, das allen gehört.

Der pañuelazo entfaltet seine volle Wirkung nur im Kollektiv. Solche Arbeitsweisen spielen in Ihrer Praxis eine große Rolle…
Das ist ähnlich wie das, was ich über die Beziehung zwischen Kunst und Politik gesagt habe: Zwischen meiner persönlichen Arbeit und der Arbeit im Kollektiv bestehen Spannungen und gegenseitige Befruchtungen. Meine persönliche Arbeit besteht aus Geschichten, Dialogen und kollektiven Erinnerungen. Die Sätze, mit denen wir mit der Gruppe Serigrafistas Queer arbeiten, ergeben sich auf den Straßen, auf den Plätzen, gemeinsam mit anderen Gruppen. All das sieht man nicht, aber es geht um die Botschaften, die dabei entstehen. So ist auch die Arbeit „Algo se rompió“ (Etwas ist zerbrochen) im Hamburger Bahnhof zu verstehen: sie ist voller Zitate aus meiner Umgebung, es ist eine Arbeit von mir, aber ohne andere könnte sie nicht bestehen.

EIN VERFECHTER POLITISCHER KUNST

Francisco Toledo Nicht nur in Oaxaca unvergessen (Foto: Francisco Toledo, 2005, Wikimedia Commons / Copyrighted free use)

Toledo war nicht nur einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler Mexikos, sondern auch ein großer Förderer der Kunst und Verteidiger der kulturellen Vielfalt im indigen geprägten Bundesstaat Oaxaca. Darüber hinaus setzte er sich Zeit seines Lebens für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein, unterstützte deren Kampf gegen Landraub und Megaprojekte und förderte Menschenrechts- sowie Umweltorganisationen.
Francisco Toledo wurde 1940 in Juchitán im Isthmus von Tehuantepec geboren und gehörte wie viele Menschen in der Region dem indigenen Volk der Zapoteken an. Seine indigenen Wurzeln haben nicht nur sein künstlerisches Schaffen, sondern auch sein politisches Engagement stark geprägt. Nach mehreren Umzügen innerhalb Mexikos lebte die Familie ab Anfang der fünfziger Jahre in Oaxaca de Juárez, der Hauptstadt des Bundesstaates. Hier besuchte der junge Toledo das Gymnasium und begann seine künstlerische Ausbildung. Als Fünfzehnjähriger ging er nach Mexiko-Stadt, um am Instituto Nacional de Bellas Artes y Literatura (INBAL) zu studieren.
Noch während der Zeit in der Hauptstadt zeigte Toledo seine Kunst in ersten Einzelausstellungen. Eine Ausstellung in Fort Worth (Texas) fand sogar internationale Aufmerksamkeit. Im Alter von neunzehn Jahren verließ Francisco Toledo Mexiko und reiste nach Europa. In Paris traf er Octavio Paz und Rufino Tamayo, einen ebenfalls aus Oaxaca stammenden Maler mit zapotekischen Wurzeln. Durch die Freundschaft zu Paz und die Unterstützung Tamayos wurde Toledo schnell in der Pariser Galerieszene bekannt. Bald folgten Ausstellungen in Amsterdam, London und New York. Fünf Jahre lebte und arbeitete Toledo in Europa, bevor er 1965 nach Mexiko zurückkehrte. In seinem späteren Werk sind deutliche Einflüsse dieser Reisen zu erkennen. Ab 1967 lebte Toledo in seiner Geburtsstadt Juchitán. Hier begann auch sein politisches Engagement für die indigene Bevölkerung der Region. Mitte der siebziger Jahre siedelte er dauerhaft nach Oaxaca de Juárez über.


Autoretrato Ein Selbstporträt Toledos (Francisco Toledo, Wikimedia Commons / Copyrighted free use)

In seinem künstlerischen Schaffen war Toledo sehr vielfältig. Er nutzte nicht nur verschiedene Maltechniken wie Aquarell oder Gouache, sondern arbeitete auch als Graveur und Lithograph, war Bildhauer, gestaltete Keramiken und entwarf Teppiche, die er von Weberinnen in der zapotekischen Gemeinde Teotitlan del Valle herstellen ließ. Nach seiner Rückkehr aus Europa intensivierte sich Toledos Interesse an der zapotekischen Kultur und deren mythologischen Wurzeln. Sein Werk spiegelt so die kulturelle Vielfalt, die er in seiner Heimat Oaxaca vorfand. Neben den noch aktiv gelebten indigenen Kulturen ist diese stark durch die Kolonialgeschichte geprägt.
Seit seiner Rückkehr nach Oaxaca hat Francisco Toledo das kulturelle und künstlerische Leben seiner Heimatstadt nachhaltig geprägt. So gründete er eine Reihe der wichtigsten kulturellen Institutionen Oaxacas oder hat an deren Gründung mitgewirkt. In seinem ehemaligen Wohnhaus in der zentralen Fußgängerzone der Stadt befindet sich heute das IAGO, Oaxacas Grafik-Institut. Institutionen wie diese haben die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren der bildenden Kunst in Mexiko gemacht.
Im Jahr 2005 wurde Francisco Toledo für seinen Einsatz für das kulturelle Erbe und den Umweltschutz in Oaxaca mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Anfang der 2000er Jahre war es dem Künstler dort gelungen, die Eröffnung einer McDonalds-Filiale im historischen Zentrum der von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannten Stadt zu verhindern. Sein politisches Engagement brachte dem Künstler allerdings nicht nur Ehrungen und Freund*innen ein: 2006 wurde sein Haus Ziel eines Anschlages, bei dem Unbekannte insgesamt neun Schüsse abgaben. Der Anschlag erfolgte unmittelbar nachdem sich der Künstler gegen die Unterdrückung der Proteste der Lehrer*innengewerkschaft in Oaxaca ausgesprochen hatte – Toledo aber ließ sich davon nicht einschüchtern. Als die Proteste der Lehrer*innen wenige Wochen später gewaltsam niedergeschlagen wurden, richtete er zusammen mit Medizinstudierenden einen Erste-Hilfe-Stützpunkt in dem von ihm gegründeten Grafik-Institut im Zentrum der Stadt ein. Nach der Niederschlagung des Aufstandes setzte sich der Künstler für die Freilassung der 140 politischen Gefangenen ein und zahlte einen Großteil der für ihre Freilassung erhobenen Kautionen.
Der landesweiten Protestbewegung nach dem gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Studenten des Lehramtsseminars von Ayotzinapa vor fünf Jahren schloss sich Toledo mit einer Kunstaktion an: Der Maestro gestaltete 43 Drachen mit den Porträts der Verschwundenen, die er über der Fußgängerzone im historischen Zentrum Oaxacas aufsteigen ließ – seine Weise, Gerechtigkeit für die jungen Männer zu fordern. Auch als vor zwei Jahren ein Erdbeben mit der Stärke 8,2 die Pazifikküste Mexikos erschütterte, war Francisco Toledo einer der ersten, der der Not leidenden Bevölkerung im Isthmus von Tehuantepec zu Hilfe eilte. Über Monate unterhielt er mehr als vierzig kommunale Küchen in Juchitán und anderen zerstörten Orten. Toledo setzte sich darüber hinaus dafür ein, dass beim Wiederaufbau der zerstörten Gemeinden die indigene Identität ihrer Bewohner*innen berücksichtigt wird.
Noch Anfang dieses Jahres kritisierte Francisco Toledo die derzeitige sozialdemokratisch orientierte Regierung von Präsident Lopez Obrador für ihr Vorgehen bei der Umsetzung des Prestigeprojektes Tren Maya. Die Bahnlinie soll auf der Halbinsel Yucatán durch unberührten Regenwald und über indigenes Territorium gebaut werden. Viele indigene Gemeinden lehnen das Megaprojekt allerdings ab. In einem Brief forderte Toledo den Präsidenten dazu auf, das Recht der indigenen Gemeinden auf eine Konsultation gemäß der Vorgabe der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu respektieren. Bislang hat die Regierung jedoch nur eine informelle Befragung durchführen lassen, für die es nicht einmal eine gesetzliche Grundlage gibt.
Als Francisco Toledos Tod Anfang September öffentlich bekannt wurde, kamen tausende Menschen in das von ihm gegründete Grafik-Institut, um von dem Mann Abschied zu nehmen, der nicht nur die Kunstszene, sondern auch die politische Landschaft Oaxacas nachhaltig geprägt hat.

 

TRADITION ALS WAFFE

Moisés Martínez rührt ein letztes Mal um. Vorsichtig tunkt er mehrere Bündel Seidenfäden in die dunkelrote Flüssigkeit, die in großen Emaille-Töpfen auf dem Gasherd kocht, und wechselt ein paar Worte auf Zapoteco mit Estela Zárate. Hinter der offenen Tür zeichnen sich die Berge der Sierra Norte von Oaxaca ab. „Wir können anfangen“, ruft Estela den anderen Mitgliedern der Kooperative zu, die in der Werkstatt Fäden spinnen und verknoten. Im nächsten Moment drängen sich alle um die Kochtöpfe, um die Seidenknäul in dem Sud aus zerstoßenen Cochenille-Läusen mit Winterestragon und Indigo zu färben. Ist die Seide ausgewrungen, getrocknet und aufgespult, wird sich Estela den Hüftwebstuhl umschnallen und die Fäden zu bunten rebozos (Tüchern) und huipuiles (weiten Blusen) weben.

Fotos: Sarah Weis

Estela und Moisés gehören den Kooperativen Bienhi und Wen Do Sed an, die sich mit dem Ziel organisiert haben, die traditionelle Seidenherstellung in den Nachbardörfern San Pedro und San Miguel Cajonos zu retten. Das Wissen, wie man die Seidenraupen züchtet und wie man aus deren Puppen die wertvollen Seidenfäden gewinnt, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Kein leichtes Unterfangen, denn wie in vielen ländlichen Gebieten Oaxacas sind auch San Pedro und San Miguel Cajonos davon betroffen, dass die jungen Leute in die Großstädte Mexikos oder der USA ziehen, um dort ein besseres Auskommen zu finden.

Kunsthandwerk hat in Mexiko eine lange Tradition. Das enorme Wissen über Färbe- und Webtechniken ist vor allem in indigenen Gemeinden verwurzelt. Doch die Arbeit, die hinter der kunsthandwerklichen Produktion steckt, wird oft als folkloristisch abgetan und kaum wertgeschätzt, was dazu führt, dass die meisten indigenen Produzent*innen ihre Ware zu Spottpreisen verkaufen müssen. Die Kunsthandwerker*innen selbst werden im von postkolonialen Strukturen geprägten Mexiko stigmatisiert. Das liegt daran, dass Kunsthandwerk als etwas Indigenes gesehen wird. Tourismusprogramme werben zwar gerne mit der kulturellen Vielfalt Mexikos, doch indigene Gruppen sind immer noch betroffen von Rassismus und gehören zu den Ärmsten der Bevölkerung. Über die Hälfte aller Kunsthand-werker*innen in Mexiko verdiente 2011 weniger als den zu dem Zeitpunkt gültigen Mindestlohn (umgerechnet etwa drei Euro pro Tag), besagt die Studie „Kunsthandwerk in Mexiko“ des Centro de Estudios Sociales y de Opinión Pública.

“Der servicio comunitario ist das beste System, um Korruption zu verhindern.”

„Viele sehen in uns nur jemanden, der am Arsch ist, der kein Geld hat“, erzählt David Villanueva, Gründer der Kooperative Huizache. „Viele Kunsthandwerker sagen deshalb zu ihren Kindern: Werde Ingenieur, Architekt, alles nur nicht Kunsthandwerker.“ Wir sitzen in den Verkaufsräumen von Huizache, die zwischen bunten, flachen Kolonialhäusern mitten im Zentrum von Oaxaca-Stadt liegen, etwa drei Autostunden entfernt von San Miguel Cajonos. Obwohl es Winter ist, brennt die Sonne im Gesicht, der Himmel ist glasklar und blau. Im Laden türmen sich alebrijes (bunte Fantasiefiguren), Krüge aus schwarzem Ton und kunstvoll gewebte rebozos. Die meisten der 70 Kunsthandwerker*innen von Huizache leben in comunidades, indigenen Gemeinden, und kommen nur zum Verkauf in die Stadt. Gemeinsam wollen sie ihre Produkte besser vermarkten und das Bild von Kunsthandwerker*innen und ihrer Arbeit verändern.

Selbstorganisation ist eine wichtige Waffe, um sich gegen Armut zu wehren und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Im Bundesstaat Oaxaca schließen sich deshalb immer mehr Kunsthandwerker*innen zu Kooperativen zusammen. Der Vorteil der Arbeit in der Kooperative ist, dass die Mitglieder nicht darauf angewiesen sind, ihre Produkte zu lächerlichen Preisen an Zwischenhändler*innen zu verkaufen. Ohne die Kooperativen bliebe ihnen nichts anderes übrig. „In Huizache sind wir alle Partner“, sagt Concepción Guzmán, Präsidentin von Huizache. „Das ermöglicht, dass 70 Prozent des Verkaufspreises direkt an die Kunsthandwerker gehen.“ Zudem profitieren die Mitglieder vom Austausch von Wissen und Erfahrungen untereinander.


Damit die Kooperative funktioniert, leistet jeder einen Dienst für die Gemeinschaft. Zum Beispiel beim Verkauf im Laden. Bezahlt wird nur die Büroarbeit. „Der servicio comunitario“, meint Fidel Salazar, ebenfalls Gründer der Kooperative, „ist das beste System, um Korruption zu verhindern.“ Während er spricht, hüpft Davids vierjährige Tochter von einem zu anderen. „Am schwierigsten ist es, die Leute zu organisieren, weil es so unterschiedliche Arten und Weisen gibt, die Welt zu sehen“, sagt Concepción. „Wir gehören 16 verschiedenen ethnischen Gruppen an. Die Älteste in Huizache ist 70, der Jüngste 23 Jahre alt. Deshalb ist Disziplin sehr wichtig.“

Wenn jemand krank wird, legen alle zusammen. Theoretisch garantiert das mexikanische Gesundheitssystem zwar Hilfe für alle Bürger*innen, in der Praxis ist das System korrupt und nicht in der Lage, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Insbesondere in ländlichen Gebieten mangelt es an Ärzt*innen und Krankenhäusern. Es ist in Mexiko üblich, dass das soziale Netzwerk auffängt, was das öffentliche Sozialsystem nicht leistet.

„Wie wir uns organisieren, hat viel damit zu tun, wer wir sind”, erzählt Concepción. „Jeder gibt etwas dazu. Diese Art der gemeinschaftlichen Arbeit kommt aus den comunidades. Es ist unsere traditionelle Art, uns zu organisieren. Über 60 Prozent der Oaxaqueños leben in Gemeinden, die in indigenen Systemen organisiert sind.“ Huizache geht es nicht nur um die Vermarktung der Produkte, sondern auch darum, indigene Lebensformen und Strukturen zu stärken. Edgardo Villanueva, Gründer von Huizache, erklärt: „Das Wichtige ist nicht Huizache, sondern die Solidarität, die dahintersteckt: Die Werte unserer Vorfahren. Das macht uns zu Feinden von staatlichen Funktionären und Gewerkschaften. Die wollen ungebildete Kunsthandwerker, die weinen und um Hilfe betteln, keine autonomen Kunsthandwerker, wie wir es sind.“

„Huizache ist ein Beispiel dafür, wie man durch Organisation Macht erlangen kann“, sagt Dulce Martínez, die uns zu Huizache begleitet hat. Sie arbeitet als Direktorin von Fábrica Social, einem Projekt, das das Ziel hat, Kunsthandwerkerinnen zu empowern und deren Produkte zu fairen Preisen zu vermarkten. Sie fügt hinzu: „Der Regierung ist es lieber, wenn Indigene arm sind, dann können sie ihr Stimmrecht und ihr Land kaufen und sie als billige Arbeitskräfte benutzen. Deshalb versucht die Regierung solche Kooperativen zu schwächen.“ Herausforderungen gibt es für die Mitglieder von Huizache genug.

„In den comunidades gibt es viele Probleme“, erzählt Edgardo, „zum Beispiel der weit verbreitete Alkoholismus.“ Auch Sexismus ist ein Problem. „Oft sprechen wir nur von dem Partner und vergessen dabei die Frauen. Daran müssen wir arbeiten“, sagt David.

Einen Traum haben die Mitglieder von Huizache: Eine Hochschule für Kunsthandwerk gründen. In der sollen nicht nur traditionelle Tech-niken vermittelt werden, sondern auch indigene Philosophien. Schon jetzt veranstaltet die Kooperative regelmäßig Workshops und kulturelle Veranstaltungen, wie Konzerte oaxaqueñischer Musik und Lesungen zapotekischer Märchen. Es ist ein Weg, indigenes Wissen, das unsichtbar gemacht wurde, ins Blickfeld zu rücken. „Auch deshalb“, betont David, „ist die Kooperative eine politische Haltung, ein friedlicher ziviler Widerstand gegen die Regierungspolitik“.

Nicht immer ist es einfach, indigene Formen des Zusammenlebens mit dem Verkauf von Produkten zu vereinbaren. Zu unterschiedlich sind die Systeme, die aufeinander prallen. „Manchmal können wir Bestellungen nicht rechtzeitig liefern, weil wir zuerst unseren sozialen Verpflichtungen in der Gemeinde nachkommen müssen. Die Käufer verstehen das nicht“, erzählt Jesús Sosa auf dem Weg zu seiner Werkstatt. Er webt Teppiche, seit er acht Jahre alt war und arbeitet in dem Projekt Bi Yuu. Dort produzieren mehrere Familien von Kunsthandwerker*innen gemeinsam mit einer Designerin großformatige Teppiche und arbeiten an der Verknüpfung von traditionellen Techniken mit innovativen Mustern. Jesús lebt in Teotitlán del Valle, knapp eine Stunde von Oaxaca-Stadt entfernt. An den aus Lehmziegeln gebauten Häusern des Dorfes hängen Schilder mit handgeschriebenen Buchstaben: „Teppiche und Tischdecken zum Verkauf.“ Die Sonne blendet, Gras verdorrt am Straßenrand, ein Wandgemälde wirbt für Recycling von Müll. Plastiktüten sind hier auf dem Markt verboten.

Das zapotekisch geprägte Teotitlán ist eines der reicheren Kunsthandwerker*innen-Dörfer. Diverse Reiseanbieter bieten geführte Touren durch die Werkstätten der Kunsthand­werker*innen an und Tourist*innen kommen oft hierher, um Souvenirs zu erwerben. Davon profitieren aber längst nicht alle, denn der Zwischenhandel hat Verträge mit Tourismus-Guides, die die Urlaubenden direkt vom Hotel abholen und zu den größten Teppich-Herstellern bringen, mit denen sie kooperieren. Zu den kleineren Werkstätten kommen dadurch viel weniger Interessierte.

Die Werkstatt von Jesús liegt ein Stück außerhalb des Dorfes. Der Webstuhl, mit dem die Familie in monatelanger Handarbeit kunstvolle Teppiche knüpft, wurde vom Schreiner des Dorfes gezimmert. Jede gewebte Faser wird mit natürlichen Farbstoffen aus der Region gefärbt. Um die komplexen geometrischen Muster zu weben, braucht es viel mathematischen Verstand. In der Werkstatt gibt es selbstgemachten atole, ein typisches Maisgetränk, und süßes Brot. Von der Decke baumeln nopales, Kaktusblätter, gebraten eine beliebte Beilage. Hühner gackern im Hof. Die meisten können hier nicht allein vom Kunsthandwerk leben, sondern betreiben nebenbei auch Landwirtschaft oder verkaufen atole.


In Zeiten von Fast Fashion und Wegwerfmode wird Qualität von vielen Käufer*innen nicht wertgeschätzt. Mit der Massenproduktion von Textilien durch internationale Unternehmen können die Kunsthandwerker*innen nur schwer konkurrieren. „Damit das Wissen nicht verloren geht, ist es wichtig zu kommunizieren, wie viel Arbeit im Kunsthandwerk steckt“, meint Ana Paula Fuentes, ehemalige Direktorin des Textil-Museums in Oaxaca, und streicht über das Rautenmuster des Teppichs, der auf dem Webstuhl aufgespannt ist. „Wir werden H&M und Walmart nicht kleinkriegen“, sagt sie, „aber wir können ein alternatives Modell schaffen.“ Ein Problem sei auch, dass es kein Copyright für die traditionellen Muster gibt. „Große Unternehmen wie Zara oder Suburbia, aber auch Modedesigner, die von außerhalb kommen, kopieren indigene Muster, benutzen sie in ihren Kollektionen und machen viel Geld damit“, erläutert Ana Paula. Das Kunsthandwerk hat davon nichts.

Staatliche Fördergelder lehnen viele ab, da sie unabhängig bleiben wollen. Dulce von Fábrica Social nimmt noch einen Schluck aus ihrem Becher mit atole. Sie meint, dass es dennoch wichtig sei, auch für diese Gelder zu kämpfen: „Die Gelder gehören den Bürgern, nicht den Politikern.“ Es gibt zwar zahlreiche Förderprogramme, wie z.B. von FONART, dem Nationalen Fonds zur Förderung des Kunsthandwerks, doch Korruption ist ein enormes Problem. Zudem sind die Programme auf sehr kurze Zeitspannen begrenzt.

Um Fördermittel zu beantragen, müssen zahlreiche bürokratische Hürden überwunden werden. Jesús erzählt, dass das Wirtschafts­sekretariat unter anderem einen Nachweis über das private Grundeigentum fordert. „In Teotitlán gehört das gesamte Land der Gemeinde. Das wird aber nicht anerkannt“, sagt er. In manchen Gemeinden sprechen die Kunsthandwerker*innen gar kein Spanisch, die Sprache, in der die Anträge verfasst werden müssen. „Dann müssen die Frauen jemanden dafür bezahlen, dass er übersetzt. Oder sie schulden dem Übersetzer einen Gefallen. Sowas kann leicht genutzt werden, um bei Wahlen Stimmen zu kaufen“, meint Dulce.

In Teotitlán spielen zapotekische Strukturen für das gesellschaftliche Leben eine wichtige Rolle. Jesús arbeitet neben seinem Beruf als Weber zurzeit auch in der policía comunitaria, der Gemeindepolizei. „Jeder aus dem Dorf muss einen servicio comunitario leisten“, erzählt er, „meine Schicht dauert zwei Jahre. Danach habe ich drei Jahre Pause. Dann übernehme ich ein anderes Amt.“ Der servicio comunitario wird nicht bezahlt, sondern ist Teil der indigenen Dorforganisation. Etwa 35 verschiedene Ämter gibt es, zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung oder im Gesundheitswesen. Wer welches Amt übernimmt, entscheidet die Gemeindeversammlung, der gegenüber sich auch die Gemeindepolizei verantworten muss.

“Die staatlichen Funktionäre wollen ungebildete Kunsthandwerker, die um Hilfe betteln.”

Die staatlichen Institutionen in Oaxaca tolerieren die Selbstorganisation der indigenen Gemeinden im Rahmen der sogenannten usos y costumbres (Sitten und Gebräuche), die in dem Bundesstaat einen verfassungsrechtlichen Status haben. In 417 der 520 Gemeinden in Oaxaca werden die Amtsträger nach den usos y costumbres bestimmt (siehe LN 504). „Traditionelle Formen der Organisation werden in comunidades wie Teotitlán als Waffe gegen die Regierung eingesetzt, um Autonomie zu erlangen“, erklärt Dulce. Je besser die indigenen Gemeinden organisiert sind, desto schwieriger hat es auch der Drogenhandel in die Gemeinden einzuziehen. „Der ist ein großes Problem für die comunidades, weil er deren Zusammenhalt schwächt“, sagt Ana Paula vom Textilmuseum und fügt hinzu: “Teotitlán ist eines der wenigen Dörfer, in die es der Drogenhandel noch nicht geschafft hat. Das liegt daran, dass die Gemeinde sehr gut organisiert ist.“

Doch die traditionelle Organisation in Teotitlán hat auch ihre Schattenseiten, denn lange Zeit waren Frauen von bestimmten Bereichen ausgeschlossen. So dürfen Frauen in Teotitlán zum Beispiel erst seit kurzer Zeit servicios comunitarios übernehmen. „Der servicio gibt der Person einen Wert innerhalb der Gemeinde“, erklärt Josefina Jiménez, Gründerin der Kooperative Mujeres que tejen (Frauen, die weben). „Die Männer wollten das deshalb nicht.“ Wie San Miguel Cajonos ist auch Teotitlán davon betroffen, dass viele junge Männer in die USA migrieren. Oft bleiben die Frauen mit den Kindern zurück. „Das hat die Rolle der Frau verändert“, meint Josefina. „Vorher hatten wir keine Stimme, wir durften nicht an Gemeindeversammlungen teilnehmen. Deshalb mussten wir uns organisieren.“

Anders als in den meisten Kunsthandwerker*innen-Gemeinden in Mexiko, wo in der Regel nur die Frauen weben, war dies in Teotitlán traditionellerweise den Männern vorbehalten. Um das zu ändern, schloss sich Josefina mit weiteren alleinerziehenden Frauen 1992 zu der Kooperative Mujeres que tejen zusammen. Gemeinsam widersetzten sie sich den Konventionen: Sie setzten sich an den Webstuhl und begannen, ihre Produkte selbst zu verkaufen. Mittlerweile hat die Kooperative für die Designs ihrer Teppiche schon mehrere Preise gewonnen. „Wir mussten gegen unsere eigenen Familien kämpfen“, erzählt Josefina. „Sie dachten, dass wir das nicht können. Aber wir haben es ihnen gezeigt. Jetzt haben wir eine Stimme.“

Wir sind zurück in San Miguel Cajonos. Draußen zieht Nebel über den bewaldeten Berghängen auf und verschluckt das Dorf innerhalb weniger Minuten. Langsam wird es dunkel. Noch brennt Licht in der Werkstatt von Bienhi, dem Herzen der Kooperative. An quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen trocknet rotes, lila, grünes und blau getupftes Seidengarn. Drei Mal im Jahr schlüpfen hier die Seidenraupen, die sich ausschließlich von Maulbeerblättern ernähren. Die Kooperative hat es geschafft, auch die junge Generation für das traditionelle Handwerk zu begeistern. Brenda und Marcos Zárate, beide Anfang Zwanzig, wollen hier bleiben und das Erbe ihrer Familie fortführen. Bevor sie die Tür der Werkstatt für heute hinter sich schließen, wollen sie noch die Muster entwerfen, die sie morgen weben werden.

*Die Reportage entstand im Rahmen der Recherche für das Projekt Doó Nhoo – Hilos Cruzados, einer Kooperation von Kunsthandwerker*innen und Designerinnen für Nachhaltigkeit und Innovation.

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