TRADITION ALS WAFFE

Moisés Martínez rührt ein letztes Mal um. Vorsichtig tunkt er mehrere Bündel Seidenfäden in die dunkelrote Flüssigkeit, die in großen Emaille-Töpfen auf dem Gasherd kocht, und wechselt ein paar Worte auf Zapoteco mit Estela Zárate. Hinter der offenen Tür zeichnen sich die Berge der Sierra Norte von Oaxaca ab. „Wir können anfangen“, ruft Estela den anderen Mitgliedern der Kooperative zu, die in der Werkstatt Fäden spinnen und verknoten. Im nächsten Moment drängen sich alle um die Kochtöpfe, um die Seidenknäul in dem Sud aus zerstoßenen Cochenille-Läusen mit Winterestragon und Indigo zu färben. Ist die Seide ausgewrungen, getrocknet und aufgespult, wird sich Estela den Hüftwebstuhl umschnallen und die Fäden zu bunten rebozos (Tüchern) und huipuiles (weiten Blusen) weben.

Fotos: Sarah Weis

Estela und Moisés gehören den Kooperativen Bienhi und Wen Do Sed an, die sich mit dem Ziel organisiert haben, die traditionelle Seidenherstellung in den Nachbardörfern San Pedro und San Miguel Cajonos zu retten. Das Wissen, wie man die Seidenraupen züchtet und wie man aus deren Puppen die wertvollen Seidenfäden gewinnt, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Kein leichtes Unterfangen, denn wie in vielen ländlichen Gebieten Oaxacas sind auch San Pedro und San Miguel Cajonos davon betroffen, dass die jungen Leute in die Großstädte Mexikos oder der USA ziehen, um dort ein besseres Auskommen zu finden.

Kunsthandwerk hat in Mexiko eine lange Tradition. Das enorme Wissen über Färbe- und Webtechniken ist vor allem in indigenen Gemeinden verwurzelt. Doch die Arbeit, die hinter der kunsthandwerklichen Produktion steckt, wird oft als folkloristisch abgetan und kaum wertgeschätzt, was dazu führt, dass die meisten indigenen Produzent*innen ihre Ware zu Spottpreisen verkaufen müssen. Die Kunsthandwerker*innen selbst werden im von postkolonialen Strukturen geprägten Mexiko stigmatisiert. Das liegt daran, dass Kunsthandwerk als etwas Indigenes gesehen wird. Tourismusprogramme werben zwar gerne mit der kulturellen Vielfalt Mexikos, doch indigene Gruppen sind immer noch betroffen von Rassismus und gehören zu den Ärmsten der Bevölkerung. Über die Hälfte aller Kunsthand-werker*innen in Mexiko verdiente 2011 weniger als den zu dem Zeitpunkt gültigen Mindestlohn (umgerechnet etwa drei Euro pro Tag), besagt die Studie „Kunsthandwerk in Mexiko“ des Centro de Estudios Sociales y de Opinión Pública.

“Der servicio comunitario ist das beste System, um Korruption zu verhindern.”

„Viele sehen in uns nur jemanden, der am Arsch ist, der kein Geld hat“, erzählt David Villanueva, Gründer der Kooperative Huizache. „Viele Kunsthandwerker sagen deshalb zu ihren Kindern: Werde Ingenieur, Architekt, alles nur nicht Kunsthandwerker.“ Wir sitzen in den Verkaufsräumen von Huizache, die zwischen bunten, flachen Kolonialhäusern mitten im Zentrum von Oaxaca-Stadt liegen, etwa drei Autostunden entfernt von San Miguel Cajonos. Obwohl es Winter ist, brennt die Sonne im Gesicht, der Himmel ist glasklar und blau. Im Laden türmen sich alebrijes (bunte Fantasiefiguren), Krüge aus schwarzem Ton und kunstvoll gewebte rebozos. Die meisten der 70 Kunsthandwerker*innen von Huizache leben in comunidades, indigenen Gemeinden, und kommen nur zum Verkauf in die Stadt. Gemeinsam wollen sie ihre Produkte besser vermarkten und das Bild von Kunsthandwerker*innen und ihrer Arbeit verändern.

Selbstorganisation ist eine wichtige Waffe, um sich gegen Armut zu wehren und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Im Bundesstaat Oaxaca schließen sich deshalb immer mehr Kunsthandwerker*innen zu Kooperativen zusammen. Der Vorteil der Arbeit in der Kooperative ist, dass die Mitglieder nicht darauf angewiesen sind, ihre Produkte zu lächerlichen Preisen an Zwischenhändler*innen zu verkaufen. Ohne die Kooperativen bliebe ihnen nichts anderes übrig. „In Huizache sind wir alle Partner“, sagt Concepción Guzmán, Präsidentin von Huizache. „Das ermöglicht, dass 70 Prozent des Verkaufspreises direkt an die Kunsthandwerker gehen.“ Zudem profitieren die Mitglieder vom Austausch von Wissen und Erfahrungen untereinander.


Damit die Kooperative funktioniert, leistet jeder einen Dienst für die Gemeinschaft. Zum Beispiel beim Verkauf im Laden. Bezahlt wird nur die Büroarbeit. „Der servicio comunitario“, meint Fidel Salazar, ebenfalls Gründer der Kooperative, „ist das beste System, um Korruption zu verhindern.“ Während er spricht, hüpft Davids vierjährige Tochter von einem zu anderen. „Am schwierigsten ist es, die Leute zu organisieren, weil es so unterschiedliche Arten und Weisen gibt, die Welt zu sehen“, sagt Concepción. „Wir gehören 16 verschiedenen ethnischen Gruppen an. Die Älteste in Huizache ist 70, der Jüngste 23 Jahre alt. Deshalb ist Disziplin sehr wichtig.“

Wenn jemand krank wird, legen alle zusammen. Theoretisch garantiert das mexikanische Gesundheitssystem zwar Hilfe für alle Bürger*innen, in der Praxis ist das System korrupt und nicht in der Lage, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Insbesondere in ländlichen Gebieten mangelt es an Ärzt*innen und Krankenhäusern. Es ist in Mexiko üblich, dass das soziale Netzwerk auffängt, was das öffentliche Sozialsystem nicht leistet.

„Wie wir uns organisieren, hat viel damit zu tun, wer wir sind”, erzählt Concepción. „Jeder gibt etwas dazu. Diese Art der gemeinschaftlichen Arbeit kommt aus den comunidades. Es ist unsere traditionelle Art, uns zu organisieren. Über 60 Prozent der Oaxaqueños leben in Gemeinden, die in indigenen Systemen organisiert sind.“ Huizache geht es nicht nur um die Vermarktung der Produkte, sondern auch darum, indigene Lebensformen und Strukturen zu stärken. Edgardo Villanueva, Gründer von Huizache, erklärt: „Das Wichtige ist nicht Huizache, sondern die Solidarität, die dahintersteckt: Die Werte unserer Vorfahren. Das macht uns zu Feinden von staatlichen Funktionären und Gewerkschaften. Die wollen ungebildete Kunsthandwerker, die weinen und um Hilfe betteln, keine autonomen Kunsthandwerker, wie wir es sind.“

„Huizache ist ein Beispiel dafür, wie man durch Organisation Macht erlangen kann“, sagt Dulce Martínez, die uns zu Huizache begleitet hat. Sie arbeitet als Direktorin von Fábrica Social, einem Projekt, das das Ziel hat, Kunsthandwerkerinnen zu empowern und deren Produkte zu fairen Preisen zu vermarkten. Sie fügt hinzu: „Der Regierung ist es lieber, wenn Indigene arm sind, dann können sie ihr Stimmrecht und ihr Land kaufen und sie als billige Arbeitskräfte benutzen. Deshalb versucht die Regierung solche Kooperativen zu schwächen.“ Herausforderungen gibt es für die Mitglieder von Huizache genug.

„In den comunidades gibt es viele Probleme“, erzählt Edgardo, „zum Beispiel der weit verbreitete Alkoholismus.“ Auch Sexismus ist ein Problem. „Oft sprechen wir nur von dem Partner und vergessen dabei die Frauen. Daran müssen wir arbeiten“, sagt David.

Einen Traum haben die Mitglieder von Huizache: Eine Hochschule für Kunsthandwerk gründen. In der sollen nicht nur traditionelle Tech-niken vermittelt werden, sondern auch indigene Philosophien. Schon jetzt veranstaltet die Kooperative regelmäßig Workshops und kulturelle Veranstaltungen, wie Konzerte oaxaqueñischer Musik und Lesungen zapotekischer Märchen. Es ist ein Weg, indigenes Wissen, das unsichtbar gemacht wurde, ins Blickfeld zu rücken. „Auch deshalb“, betont David, „ist die Kooperative eine politische Haltung, ein friedlicher ziviler Widerstand gegen die Regierungspolitik“.

Nicht immer ist es einfach, indigene Formen des Zusammenlebens mit dem Verkauf von Produkten zu vereinbaren. Zu unterschiedlich sind die Systeme, die aufeinander prallen. „Manchmal können wir Bestellungen nicht rechtzeitig liefern, weil wir zuerst unseren sozialen Verpflichtungen in der Gemeinde nachkommen müssen. Die Käufer verstehen das nicht“, erzählt Jesús Sosa auf dem Weg zu seiner Werkstatt. Er webt Teppiche, seit er acht Jahre alt war und arbeitet in dem Projekt Bi Yuu. Dort produzieren mehrere Familien von Kunsthandwerker*innen gemeinsam mit einer Designerin großformatige Teppiche und arbeiten an der Verknüpfung von traditionellen Techniken mit innovativen Mustern. Jesús lebt in Teotitlán del Valle, knapp eine Stunde von Oaxaca-Stadt entfernt. An den aus Lehmziegeln gebauten Häusern des Dorfes hängen Schilder mit handgeschriebenen Buchstaben: „Teppiche und Tischdecken zum Verkauf.“ Die Sonne blendet, Gras verdorrt am Straßenrand, ein Wandgemälde wirbt für Recycling von Müll. Plastiktüten sind hier auf dem Markt verboten.

Das zapotekisch geprägte Teotitlán ist eines der reicheren Kunsthandwerker*innen-Dörfer. Diverse Reiseanbieter bieten geführte Touren durch die Werkstätten der Kunsthand­werker*innen an und Tourist*innen kommen oft hierher, um Souvenirs zu erwerben. Davon profitieren aber längst nicht alle, denn der Zwischenhandel hat Verträge mit Tourismus-Guides, die die Urlaubenden direkt vom Hotel abholen und zu den größten Teppich-Herstellern bringen, mit denen sie kooperieren. Zu den kleineren Werkstätten kommen dadurch viel weniger Interessierte.

Die Werkstatt von Jesús liegt ein Stück außerhalb des Dorfes. Der Webstuhl, mit dem die Familie in monatelanger Handarbeit kunstvolle Teppiche knüpft, wurde vom Schreiner des Dorfes gezimmert. Jede gewebte Faser wird mit natürlichen Farbstoffen aus der Region gefärbt. Um die komplexen geometrischen Muster zu weben, braucht es viel mathematischen Verstand. In der Werkstatt gibt es selbstgemachten atole, ein typisches Maisgetränk, und süßes Brot. Von der Decke baumeln nopales, Kaktusblätter, gebraten eine beliebte Beilage. Hühner gackern im Hof. Die meisten können hier nicht allein vom Kunsthandwerk leben, sondern betreiben nebenbei auch Landwirtschaft oder verkaufen atole.


In Zeiten von Fast Fashion und Wegwerfmode wird Qualität von vielen Käufer*innen nicht wertgeschätzt. Mit der Massenproduktion von Textilien durch internationale Unternehmen können die Kunsthandwerker*innen nur schwer konkurrieren. „Damit das Wissen nicht verloren geht, ist es wichtig zu kommunizieren, wie viel Arbeit im Kunsthandwerk steckt“, meint Ana Paula Fuentes, ehemalige Direktorin des Textil-Museums in Oaxaca, und streicht über das Rautenmuster des Teppichs, der auf dem Webstuhl aufgespannt ist. „Wir werden H&M und Walmart nicht kleinkriegen“, sagt sie, „aber wir können ein alternatives Modell schaffen.“ Ein Problem sei auch, dass es kein Copyright für die traditionellen Muster gibt. „Große Unternehmen wie Zara oder Suburbia, aber auch Modedesigner, die von außerhalb kommen, kopieren indigene Muster, benutzen sie in ihren Kollektionen und machen viel Geld damit“, erläutert Ana Paula. Das Kunsthandwerk hat davon nichts.

Staatliche Fördergelder lehnen viele ab, da sie unabhängig bleiben wollen. Dulce von Fábrica Social nimmt noch einen Schluck aus ihrem Becher mit atole. Sie meint, dass es dennoch wichtig sei, auch für diese Gelder zu kämpfen: „Die Gelder gehören den Bürgern, nicht den Politikern.“ Es gibt zwar zahlreiche Förderprogramme, wie z.B. von FONART, dem Nationalen Fonds zur Förderung des Kunsthandwerks, doch Korruption ist ein enormes Problem. Zudem sind die Programme auf sehr kurze Zeitspannen begrenzt.

Um Fördermittel zu beantragen, müssen zahlreiche bürokratische Hürden überwunden werden. Jesús erzählt, dass das Wirtschafts­sekretariat unter anderem einen Nachweis über das private Grundeigentum fordert. „In Teotitlán gehört das gesamte Land der Gemeinde. Das wird aber nicht anerkannt“, sagt er. In manchen Gemeinden sprechen die Kunsthandwerker*innen gar kein Spanisch, die Sprache, in der die Anträge verfasst werden müssen. „Dann müssen die Frauen jemanden dafür bezahlen, dass er übersetzt. Oder sie schulden dem Übersetzer einen Gefallen. Sowas kann leicht genutzt werden, um bei Wahlen Stimmen zu kaufen“, meint Dulce.

In Teotitlán spielen zapotekische Strukturen für das gesellschaftliche Leben eine wichtige Rolle. Jesús arbeitet neben seinem Beruf als Weber zurzeit auch in der policía comunitaria, der Gemeindepolizei. „Jeder aus dem Dorf muss einen servicio comunitario leisten“, erzählt er, „meine Schicht dauert zwei Jahre. Danach habe ich drei Jahre Pause. Dann übernehme ich ein anderes Amt.“ Der servicio comunitario wird nicht bezahlt, sondern ist Teil der indigenen Dorforganisation. Etwa 35 verschiedene Ämter gibt es, zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung oder im Gesundheitswesen. Wer welches Amt übernimmt, entscheidet die Gemeindeversammlung, der gegenüber sich auch die Gemeindepolizei verantworten muss.

“Die staatlichen Funktionäre wollen ungebildete Kunsthandwerker, die um Hilfe betteln.”

Die staatlichen Institutionen in Oaxaca tolerieren die Selbstorganisation der indigenen Gemeinden im Rahmen der sogenannten usos y costumbres (Sitten und Gebräuche), die in dem Bundesstaat einen verfassungsrechtlichen Status haben. In 417 der 520 Gemeinden in Oaxaca werden die Amtsträger nach den usos y costumbres bestimmt (siehe LN 504). „Traditionelle Formen der Organisation werden in comunidades wie Teotitlán als Waffe gegen die Regierung eingesetzt, um Autonomie zu erlangen“, erklärt Dulce. Je besser die indigenen Gemeinden organisiert sind, desto schwieriger hat es auch der Drogenhandel in die Gemeinden einzuziehen. „Der ist ein großes Problem für die comunidades, weil er deren Zusammenhalt schwächt“, sagt Ana Paula vom Textilmuseum und fügt hinzu: “Teotitlán ist eines der wenigen Dörfer, in die es der Drogenhandel noch nicht geschafft hat. Das liegt daran, dass die Gemeinde sehr gut organisiert ist.“

Doch die traditionelle Organisation in Teotitlán hat auch ihre Schattenseiten, denn lange Zeit waren Frauen von bestimmten Bereichen ausgeschlossen. So dürfen Frauen in Teotitlán zum Beispiel erst seit kurzer Zeit servicios comunitarios übernehmen. „Der servicio gibt der Person einen Wert innerhalb der Gemeinde“, erklärt Josefina Jiménez, Gründerin der Kooperative Mujeres que tejen (Frauen, die weben). „Die Männer wollten das deshalb nicht.“ Wie San Miguel Cajonos ist auch Teotitlán davon betroffen, dass viele junge Männer in die USA migrieren. Oft bleiben die Frauen mit den Kindern zurück. „Das hat die Rolle der Frau verändert“, meint Josefina. „Vorher hatten wir keine Stimme, wir durften nicht an Gemeindeversammlungen teilnehmen. Deshalb mussten wir uns organisieren.“

Anders als in den meisten Kunsthandwerker*innen-Gemeinden in Mexiko, wo in der Regel nur die Frauen weben, war dies in Teotitlán traditionellerweise den Männern vorbehalten. Um das zu ändern, schloss sich Josefina mit weiteren alleinerziehenden Frauen 1992 zu der Kooperative Mujeres que tejen zusammen. Gemeinsam widersetzten sie sich den Konventionen: Sie setzten sich an den Webstuhl und begannen, ihre Produkte selbst zu verkaufen. Mittlerweile hat die Kooperative für die Designs ihrer Teppiche schon mehrere Preise gewonnen. „Wir mussten gegen unsere eigenen Familien kämpfen“, erzählt Josefina. „Sie dachten, dass wir das nicht können. Aber wir haben es ihnen gezeigt. Jetzt haben wir eine Stimme.“

Wir sind zurück in San Miguel Cajonos. Draußen zieht Nebel über den bewaldeten Berghängen auf und verschluckt das Dorf innerhalb weniger Minuten. Langsam wird es dunkel. Noch brennt Licht in der Werkstatt von Bienhi, dem Herzen der Kooperative. An quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen trocknet rotes, lila, grünes und blau getupftes Seidengarn. Drei Mal im Jahr schlüpfen hier die Seidenraupen, die sich ausschließlich von Maulbeerblättern ernähren. Die Kooperative hat es geschafft, auch die junge Generation für das traditionelle Handwerk zu begeistern. Brenda und Marcos Zárate, beide Anfang Zwanzig, wollen hier bleiben und das Erbe ihrer Familie fortführen. Bevor sie die Tür der Werkstatt für heute hinter sich schließen, wollen sie noch die Muster entwerfen, die sie morgen weben werden.

*Die Reportage entstand im Rahmen der Recherche für das Projekt Doó Nhoo – Hilos Cruzados, einer Kooperation von Kunsthandwerker*innen und Designerinnen für Nachhaltigkeit und Innovation.

IN TRÜMMERN

Fotos: Jonathan Treat SURCO, A.C. OAXACA, MÉXICO

„Wann nimmt es denn endlich ein Ende?“, ist von den verzweifelten Menschen in den betroffenen Regionen oft zu hören. Seit dem 7. September bebt die Erde unaufhörlich in Südmexiko: Dem ersten heftigen Erdbeben von Stärke 8.2 auf der Richterskala vor der Küste der Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca folgten bis Ende Oktober über 9.000 leichte bis mittelschwere Nachbeben. Ein zweites Beben der Stärke 7.1 erschütterte Zentralmexiko sowie Mexiko-Stadt am 19. September, just am Jahrestag des großen Bebens von 1985 (siehe LN 521). Die Gesamtbilanz ist verheerend: 470 Menschen fanden bislang in den Trümmern den Tod, hundert-tausende Mexikaner*innen sind seither obdachlos, leben auf der Straße vor ihrem zerstörten Hab und Gut, unter Plastikplanen, die sie nur notdürftig gegen Sonne und Regen schützen.

Besonders dramatisch ist die Situation in Oaxaca. Der indigen geprägte südöstliche Bundesstaat ist einer der ärmsten Mexikos. Bei einer Reise Ende September in die Stadt Juchitán und umliegende Dörfer in der Isthmus-Region von Oaxaca zeigt sich die Zerstörung und die Verzweiflung der Menschen. Der ehemals bunte Markt, das Herzstück der zapotekischen Handelsmetropole Juchitán mit ihren 100.000 Einwohner*innen, ist ebenso zerstört wie das Gemeindehaus. Die Händler*innen hatten versucht, ihren Markt provisorisch auf dem Hauptplatz der Stadt einzurichten, doch heftige Nachbeben erschütterten die Stadt, so dass nur ein gespenstisch leeres Gewirr von Holzständen vorzufinden ist. Die wenigen Produkte wie Gemüse sind überteuert, die lokale Ökonomie ist komplett zusammengebrochen. Das Stadtzentrum ist menschenleer, Trümmer überall, und die vielen Polizei- und Militäreinheiten, die schwerbewaffnet patroullieren, tragen das ihre zur bizarren Szenerie bei.

“Willkommen in meinem neuen Wohnzimmer auf der Straße. Hier gibt es keine Klassenunterschiede mehr”

In einem Viertel von Juchitán treffen wir die Journalistin Roselia, sie sitzt unter den Plastikplanen vor dem Haus ihrer Familie, das jederzeit zusammenzubrechen droht. Das Haus der Nachbarin wurde durch ein Nachbeben in der regnerischen Nacht zuvor zerstört, übrig geblieben ist ein zwei Meter hoher Trümmerhaufen. Roselia weist uns ein paar Plastikstühle zu: “Willkommen in meinem neuen Wohnzimmer auf der Straße. Hier gibt es keine Klassenunterschiede mehr”, meint sie halb ironisch, halb im Ernst. Tatsächlich zerstörte das Beben ganze Quartiere, unabhängig von der Einkommensklasse. Auch die Fahrer*innen von Limousinen stehen Schlange vor einem der wenigen Läden, der noch Plastikplanen für die Obdachlosen vorrätig hat. Doch nach der ersten Schockstarre, die alle traf, zeigten sich bald darauf auch wieder die starken Gegensätze in der Region.


Beim Besuch der widerständigen Gemeinde San Dionisio del Mar wird klar, dass auch nach dem Erdbeben die Konflikte weiterschwelen. Diese Gemeinde von Ikoots-Indigenen rebellierte 2012 gegen das größte Windkraftprojekt Lateinamerikas namens Mareña Renovables, das auf einer Landzunge in der Lagune errichtet werden sollte. Der von den europäischen Investor*innen bestochene Gemeindepräsident wurde zum Teufel gejagt, das Gemeindehaus und dessen überdeckter Vorplatz besetzt (siehe LN 473). Die asamblea (institutionalisierte Vollversammlung) der Bewohner*innen von San Dionisio betreibt nach dem Erdbeben in den besetzten Gebäuden eine Herberge für die obdachlos gewordenen Familien sowie eine Gemeinschaftsküche. Beides konnte mit Spenden solidarischer Organisationen aus dem In- und Ausland ausgerüstet werden (siehe Kasten).

Auch die Behörden verteilen Hilfe, jedoch werden die eigenen Parteigänger*innen dabei bevorzugt, wie die asamblea kritisiert. Hinzu kämen Unregelmäßigkeiten bei der Registrierung der zerstörten Häuser, von der abhängt, ob und in welchem Umfang staatliche Nothilfe gewährt wird. Der Lehrer Aquilino, einer der Sprecher der asamblea, erklärt uns vor den Trümmern seines Hauses: „Erst kam eine Behörde und erklärte, das Haus sei unwiderruflich zerstört, müsse abgerissen und neu gebaut werden. Tage später kam eine andere Behörde und markierte das Haus mit einem blauen Punkt. Diese Markierung bedeutet, dass nur ein Teilschaden entstanden sei.” Aquilino sieht dahinter ein politisches Manöver. Da er als Sprecher der Vollversammlung ein Dorn im Auge der Behörden sei, wollten sie ihn persönlich abstrafen. Für die Koordination des Wiederaufbaus von San Dionisio del Mar und den umliegenden Ikoots-Dörfer ist die föderale Behörde für die Entwicklung der Indigenen (CDI) zuständig. Auf einer Pressekonferenz kritisiert die asamblea von San Dionisio ebenfalls den grassierenden Klientelismus bei den staatlichen Hilfeleistungen und nennt die Namen von Personen, die zu Unrecht Hilfe erhalten hätten.


Dem ersten Schock über die Naturgewalt folgte so eine hitzige Diskussion über die Rolle des Staates bei Nothilfe und Wiederaufbau.

Dem ersten Schock über die Naturgewalt folgte so eine hitzige Diskussion über die Rolle des Staates bei Nothilfe und Wiederaufbau. Denn auch zwei Monate nach den ersten Erdbeben sind in vielen Gemeinden auf dem Land die Trümmerberge das dominierende Bild. Tausende Schulen sind weiterhin geschlossen, die Arbeitsbedingungen der Krankenhäuser noch prekärer als vor den Beben, wobei zahlreiche Verletzte zu versorgen sind. Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto gab am 31. Oktober in Juchitán bekannt, dass erst 1.500 komplett zerstörte Häuser geräumt wurden. 6.000 Familien warten hingegen immer noch darauf, dass die Baumaschi-nen anrücken, und weitere 7.600 zerstörte Häuser wurden von den Behörden als nur teilweise beschädigt eingestuft. Dabei ist die Beseitigung der Trümmer Bedingung für finanzielle Hilfen: „Erst wenn die Grundstücke sauber sind” könne die Unterstützung für den Wiederaufbau beginnen, so Peña Nieto. Diese besteht aus einer Kreditkarte, einlösbar für Baumaterialien bei gewissen Händler*innen und für die Entlohnung von Handwerker*innen. Allerdings sind die die Entschädigungszahlungen viel zu knapp bemessen, für stark beschädigte Häuser belaufen sich diese auf 15.000 bis 30.000 Pesos (670 bis 1340 Euro), für einen Neubau gibt es 120.000 Pesos (5360 Euro). Lokalen Architekt*innen zufolge reicht das knapp für ein unverputztes Zimmer mit Bad, nie und nimmer für ein Haus für eine ganze Familie. Ein Wiederaufbau in Würde ist so nicht machbar.

Auffallend schnell waren auch bestimme Zementhersteller zur Stelle als Präsident Peña Nieto die ersten Kreditkarten für das Wiederaufbaukonto persönlich überreichte. Die Videoaufnahme eines Anwohners von Ixtaltepec zeigt eine Kolonne von Lastwagen und improvisierten Verkaufs-ständen mehrerer Baufirmen, zuvorderst zu sehen: Holcim. Der schweizerisch-französische Multi Holcim-Lafargue ist der größte Zementhersteller weltweit und hat sich bei dem Riesengeschäft des Wiederaufbaus nach den Erdbeben eine Pole-Position gesichert, was in Mexiko kaum ohne gute und gut geschmierte Beziehungen geht. „Que Peña tenga tantita madre”, der Präsident sollte doch angesichts der Katastrophe wenigstens ein klein wenig Anstand haben, empören sich Anwohner*innen im Video und denunzieren das negocio redondo, die offensichtliche Geschäftemacherei zwischen Behörden und Unternehmen.

Die Mischung aus Unfähigkeit und Korruption der Behörden im Umgang mit der Katastrophe dürfte die meisten Menschen in der Region allerdings nicht sonderlich überrascht haben. Wie so oft davor sind es es vor allem die eigenen Basisinitiativen sowie die (internationalen) zivilen Hilfsorganisationen, die den Betroffenen in der Not am tatkräftigsten zur Seite stehen.

 

HAIKUS AUF ZAPOTEKISCH

Sie sind in Buena Vista Loxicha aufgewachsen, einem Dorf von nicht einmal tausend Einwohnern im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Wie war die Welt Ihrer Kindheit?
Es war eine vollkommen zapotekische Welt. Meine Eltern konnten zwar vielleicht ein bisschen Spanisch verstehen, weil wir aber immer im Dorf blieben, dachte ich, dass alle Menschen Zapotekisch sprechen – bis zu meinem ersten Schultag. Diese Anekdote erzähle ich gerade zum ersten Mal: Ich erschrak fürchterlich, dass alle Lehrer nur Spanisch sprachen. Mein erster Impuls war, aus der Reihe auszubrechen, in der sie uns aufstellten. An der Tür hielten sie mich zurück. Das ist die Realität vieler indigener Kinder. Man spricht so lange Spanisch mit dir, bis du es irgendwann verstehst.

Wie sind Sie Schriftsteller geworden?
Ich sollte das Buch Aquí están los que se van (wörtlich: „Hier sind die, die weggehen“) von Gabriel Quiroz übersetzen. Man hatte ihn nach San Quintín, Baja California, ganz im Norden von Mexiko, geschickt; er machte Fotos von Migranten aus Oaxaca, die dort in der landwirtschaftlichen Produktion arbeiten, und schrieb Gedichte dazu. Als ich die Gedichte ins Zapotekische übersetzte, entdeckte ich diese Sprache, die ich nie zuvor geschrieben hatte, und es brachte mich dazu, meine eigene Fiktion zu erschaffen. Mein erstes Buch Y supe qué responder (etwa: „Und ich hatte eine Antwort“) handelt von einem Kind, das von einem Lehrer auf Spanisch mit Fragen traktiert wird, es fühlt sich verloren. Aber danach befragt es den Lehrer auf Zapotekisch und der Lehrer fühlt die gleiche Hilflosigkeit.

Bevorzugen Sie beim Schreiben eine der beiden Sprachen, Spanisch oder Zapotekisch?
Ich würde hier gerne etwas deutlich machen: Meine Gedichte schreibe ich auf Zapotekisch, weil es eine metaphorische Sprache ist. Statt „Wie geht’s?“ sagt man zum Beispiel „Wie geht es Ihrem Herzen?“ Du kannst auch nicht sagen „Ich ärgere mich“, sondern nur „Mein Herz ärgert sich“. Das „Herz“ kommt in vielen Redewendungen vor. Der difrasismo des Zapotekischen fällt einem auf, wenn man schreibt: Zwei Wörter zusammen ergeben einen neuen Ausdruck. Stein-Nacht bedeutet dann „Unheil“, Wasser-Feuer bedeutet „Krieg“, Stein-Licht heißt „Ernte“. Dieses mesoamerikanische Denken ist beeindruckend. Und jetzt denk an all das, was die Spanier und die mexikanische Gesellschaft getan haben, um eine „nationale Einheit“ herzustellen. Nach der Revolution hieß es: Mexiko ist ein Land mit einer Sprache.
Es war ausgerechnet ein Mann aus Oaxaca, José Vasconcelos, einer der großen mexikanischen Denker, der mit seiner Kastellanisierungspolitik nur Spanisch an den Schulen erlaubte. In dieser Kultur wuchs mein Vater auf. Er erzählt, dass man verprügelt wurde, wenn man nur ein einziges Wort auf Zapotekisch sagte. Es wurden Lehrer aus dem Norden eingestellt, denen man sogar ein höheres Gehalt bezahlte, damit die Verwendung des Zapotekischen verhindert wurde. Diese nationale Bildungspolitik bestand bis in die siebziger Jahre, als man die indigene Bildungspolitik einführte, die aber erst in den neunziger Jahren umgesetzt wurde.

Welchen Stellenwert hat die zapotekische Sprache heute in der Schule und der Familie?
Es ist so: Siebzig Jahre lang wurde in den Dörfern die Meinung vertreten, Zapotekisch sei zu nichts nütze, Spanisch sei viel besser. Die Großeltern denken immer noch, ihre Sprache habe keinen Wert. Sie sprechen zwar Zapotekisch, wollen es aber nicht weitergeben. Aber sie wollen die Feste! Wenn die älteren Leute in meinem Dorf ihre zapotekischen Feste feiern, sprechen sie Spanisch. Ich sage das sehr ungern, aber die Indigenen selbst hegen eine gewisse Geringschätzung gegenüber ihrer Sprache. Ihre Identität wurde beschädigt. Sie wollen ihre indigene Herkunft nicht annehmen und glauben, allein indem sie Spanisch sprechen, lösen sie ihre Probleme. Aber es liegt nicht an der Sprache, es sind die Lebensbedingungen, die in Mexiko verbreitete Ausgrenzung und Armut. Nur weil du Spanisch sprichst, hast du noch lange nicht das Geld, um ein Universitätsstudium zu bezahlen.
Seit vier Jahren werde ich vom Kulturzentrum San Agustín in Oaxaca unterstützt, um Schreibworkshops auf Zapotekisch zu geben. Dieses Jahr bin ich zwischen drei Ortschaften unterwegs wie ein Wanderlehrer. Die Kinder sind elf, zwölf Jahre alt, und jeden Monat unterrichte ich für zwei Tage eine Gruppe von zwanzig Kindern in jedem Dorf. Dabei greife ich auf die japanische Tradition zurück: Zuerst schreiben wir Haikus, drei Zeilen. Dann Tankas, fünf Zeilen. Erst beim Schreiben wird man bestimmter Dinge gewahr, dass zum Beispiel die Orchidee auf Zapotekisch für das Wort Schönheit steht. Genauso ging es mir ja selbst: Ich wusste nichts über die zapotekische Welt, bis ich dieses Buch übersetzt habe. Da entdeckte ich so viel Wunderbares! Denn beim Schreiben wird man zur Genauigkeit gezwungen. Wenn man nicht weiß, wie man etwas schreibt, muss man zuhören. Zapotekisch ist noch dazu eine Tonsprache. Den Kindern möchte ich dazu Anleitungen geben. Und sie schreiben großartige Sachen.

Wo liegen die Dörfer, in denen Sie unterrichten?
Sie liegen etwa fünf Stunden von der Stadt Oaxaca entfernt. Eine Schule befindet sich in einer sehr großen Ortschaft, es gibt circa 1.200 Schüler. Eine halbe Stunde weiter befindet sich das Dorf San Luis Amatlán in einem trockenen Tal, wo traditionell Meskal hergestellt wird. Dann fahre ich eine Stunde mit dem Bus, um zu meinen Kindern in den Bergen zu kommen. Die Landschaft ist ganz anders und die Kinder sind stiller als die anderen. Danach fahre ich eine Stunde in Richtung Küste bis zu meinem Haus, wo ich immer eine Pause einlege. Ich weiß, dass es ein gutes Projekt ist, aber außer mir will das kaum jemand machen. Die anderen sehen sich als Dichter, als Wissenschaftler, sie wollen ihre persönlichen Projekte machen, in der Stadt das Leben eines Schriftstellers führen und nicht in die Dörfer fahren, dort essen oder übernachten.

Das erfordert schon ein großes Engagement. Was treibt Sie an, den Beruf des Schriftstellers mit dem des Lehrers zu kombinieren?
Anders als viele andere kehre ich gerne in mein kleines Heimatdorf zurück. Meine Brüder zum Beispiel würden es nicht länger als einen Tag aushalten, aber ich kann Monate dort verbringen. Schon als ich als staatlicher Lehrer arbeitete, wählte ich das abgelegenste Dorf aus, um ein Jahr dort zu unterrichten. Danach wollte ich unabhängig vom Staat arbeiten, aber das ist sehr schwierig in Mexiko. Ich mache diese Projekte nicht, weil ich dafür bezahlt werde, sondern weil ich es wichtig finde, die zapotekische Sprache zu erhalten.

Wenn nun Schriftsteller*innen wie Sie auf Zapotekisch schreiben, ist die Frage auch, wer diese Werke lesen kann. Gibt es denn genug Leser*innen für das Zapotekische?
Es sind wenige. Aber es ist Teil derselben Politik: In der Schule hat man es dir nicht beigebracht und auch wenn nun Texte auf Zapotekisch vorhanden sind, lesen die Leute lieber auf Spanisch, weil es ermüdend ist, wenn man die Strukturen und Wörter nicht versteht. Trotzdem machen wir weiter Bücher. Im Augenblick bewerben wir die Anthologie der fünf Premio-Casa-Preisträger. Das sind Gedichte auf Zapotekisch, es wurden 10.000 Exemplare gedruckt, die wir an den Schulen verteilen, damit die Kinder lesen und erkennen, wie wichtig Zapotekisch als Schriftsprache ist. Es ist ein langsamer Prozess, diese neue Lesergeneration auszubilden. Manchmal bringe ich meinen Schülern Texte auf Quechua oder Mapudungun mit. Dann sage ich ihnen, schaut mal, Kinder, hier sprechen wir Zapotekisch, wenn wir aber auf dieser Landkarte Richtung Süden gehen, sprechen die Menschen Mapudungun, wollt ihr hören, wie das klingt? Und die Kinder sind neugierig.

In welcher Lage befinden sich indigene Schriftsteller*innen in Mexiko? Es gibt ja zum Beispiel die Gesellschaft der Indigenen Schriftsteller…
Sie wollen sich nicht gegenseitig unterstützen. Die Gesellschaft der indigenen Schriftsteller ist wie ein Patriarchat. Als ich zu schreiben anfing, war es mein Wunsch, dass sie mich dort lesen und mir eine Einschätzung geben. Sie wollten nicht. Das ist eine sehr mexikanische Einstellung: Wenn ich ein erfolgreicher indigener Schriftsteller bin, möchte ich unbedingt verhindern, dass viele junge Menschen schreiben, denn sie könnten mir ja meinen Platz streitig machen. Manche indigenen Schriftsteller weigern sich, aufs Land zu fahren, wo sehr viele Indigene Mexikos leben. Wenn ein Kolloquium in Oaxaca veranstaltet wird, wollen viele Kollegen nicht kommen, weil wenn schon, dann wollen sie in die Hauptstadt oder ins Ausland eingeladen werden.

Um noch auf Ihre Werke zurückzukommen, Sie schreiben Prosa genauso wie Lyrik. Welche Themen, welche Motive sind Ihnen beim Schreiben wichtig?
Ich habe mit Erzählungen angefangen und die Suche nach etwas noch Tieferem führte mich zur Poesie. Ein Gedicht spricht über das Unsagbare, von der äußersten Erfahrung. Mein Erzählband Hormigas Rojas („Rote Ameisen“) wurde viel gelesen und, was mich besonders freut, in einem Seminar am Colegio de México, dem Elitekolleg der Reichen, besprochen. Dennoch: Sie haben nur den zapotekischen Teil analysiert! Dabei kommen nur in drei Erzählungen zapotekische Ausdrücke vor. Die anderen vierzehn Erzählungen bedienen sich einer Sprache fernab vom Gesprochenen. Diesen Teil des Buches, wenn ich mich dem Realismus verweigere, rätselhafte, unbestimmbare Orte beschreibe, das hat bisher noch niemand kommentiert.
Eine wichtige Rolle spielt die spezifische Art der Landschaft in meiner Fiktion. Der beste Schriftsteller in dieser Hinsicht ist für mich der US-Amerikaner Cormac McCarthy. Meine Literatur ist aber auch sehr durchdrungen vom Japanischen, von Schriftstellern wie Osamu Dazai oder Jun’ichiro Tanizaki. Ich habe mein Buch Hormigas Rojas genannt, weil es die Natur in den Blick nimmt. Gleichzeitig sind die Figuren von ewigen Konflikten gekennzeichnet, von Verlust, Suche, Gewalt. Ich glaube, als Schriftsteller kombiniert man immer seine Lektüre mit der Alltagserfahrung. Insofern glaube ich, dass die Literatur ein sehr machtvolles Werkzeug sein kann, um die geringgeschätzte indigene Vorstellungswelt sichtbar zu machen. Mein Beitrag zur mexikanischen Literatur soll aber sein, zu zeigen, dass ich fiktive Welten auch auf Spanisch schaffen kann.

Sie möchten als Schriftsteller, nicht als indigener Schriftsteller gesehen werden.
Genau. Eine weitere Sache ist, dass die Bücher der wenigen indigenen Schriftsteller, die es in Mexiko gibt, nicht übers Internet zu erwerben sind. Sie erscheinen als Veröffentlichungen des mexikanischen Staats, die Auflage beträgt gerade einmal tausend Exemplare. Kaum einer wird von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht. Den indigenen Schriftstellern muss vermittelt werden, dass sie auf diese Weise zwar Preise der Regierung bekommen, aber nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Mir ist das selbst passiert. Was ich bei Verlagen veröffentlicht habe, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, ist nicht anders zu beschaffen, als dass ich es persönlich jemandem bringe. Hormigas Rojas dagegen kann man bei Amazon bestellen. Ein Schriftsteller muss darauf achten, dass die Leser sein Buch besorgen können.

Wie haben Sie es geschafft, mit nur wenigen Büchern so bekannt zu werden?
Almadía, mein Verlag in Oaxaca, ist ein wichtiger mexikanischer Verlag. Ich bin ihm sehr dankbar für den Vertrieb, den es dort gibt, sodass die Bücher nach Argentinien, Chile und über eine Filiale auch nach Spanien gelangen. 2014 wurde eine Liste von zwanzig jungen mexikanischen Schriftstellern herausgegeben. Mit nur einem Buch kam ich auf diese Liste, die sehr umstritten war. Natürlich wollten alle auf diese Liste, weil sie eine Garantie ist, gelesen zu werden. Und weil wir zur Buchmesse in London eingeladen waren, gab es eine Übersetzung ins Englische. Pushkin Editorials war sehr nett und schickte uns die übersetzte Anthologie, während der mexikanische Verlag Malpasa sich weigerte. Ich musste das Buch kaufen.

Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Projekt?
Mein Verlag bittet mich schon seit zwei Jahren, irgendetwas zu veröffentlichen, egal was. Aber wenn man schon in der Liste ist, wird deine nächste Veröffentlichung kleinlichst auseinandergenommen. Was, wenn das nächste Buch nicht so gut ist? Mit meinem Zögern treibe ich die Leute vom Verlag an den Rand der Verzweiflung, die rufen mich an, fragen mich aus. Aber ich glaube, in den nächsten Monaten oder bis Jahresende werde ich das Manuskript übergeben. Hoffentlich werde ich Leser haben, denn das ist der Wunsch aller Autoren.

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