Chile | Nummer 552 - Juni 2020

ZU VIELE FRAGEZEICHEN

Interview zu klandestinen Schwangerschaftsabbrüchen in Chile

Schwangerschaftsabbrüche sind in Chile nur in drei Fällen erlaubt: Wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist, bei Lebensgefahr für die Mutter oder bei einer tödlichen Erkrankung des Fötus. Abseits davon bleibt Schwangeren in rechtlicher Hinsicht keine andere Wahl, als das Kind auszutragen. Weil viele sich jedoch dagegen entscheiden und auch die Infrastruktur für legale Eingriffe zum Abbruch einer Schwangerschaft äußerst begrenzt ist (siehe Infokasten), haben sich seit Jahren im ganzen Land Netzwerke gebildet, um Abtreibungen illegal durchzuführen. Im Interview mit den LN sprachen María Ch´ixi* und Lobelia Tupa* über diese Arbeit und darüber, wie die Corona-Pandemie sie verändert. María Ch´ixi war in einem Netzwerk für klandestine Abtreibungen im Valle del Mapocho aktiv, Lobelia Tupa ist im Norden des Landes Teil eines Netzwerks zur Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen.

Interview: Lioba Adam
, Übersetzung: Susanne Brust

Foto: Zikophotography via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Wie kann man sich ein Netzwerk für klandestine Schwangerschaftsabbrüche vorstellen?
María: Diese Gruppen entstehen lose aus der Not heraus, um Personen, die ungewollt schwanger geworden sind, zu begleiten. Ich sage Personen und nicht Frauen, weil es zum Beispiel trans Männer oder auch Menschen mit nicht-binären Geschlechtsidentitäten gibt, die schwanger werden und gebären können. Weil wir alle schon persönliche Erfahrungen mit ungewollten Schwang-*erschaften gemacht hatten, war uns von Anfang an klar, dass es zu diesem Thema im Allgemeinen ein Informationsloch gibt. Vor zehn Jahren sprach man in Chile kaum über Abtreibungen. In diesem Sinn waren wir uns alle einig darüber, wie wichtig es ist, Unterstützungsnetzwerke für ungewollt Schwangere aufzubauen und die Stimmen von Personen, die abgetrieben haben, zu verbreiten.

Lobelia: Einige Netzwerke sind größer als andere. Ich zum Beispiel arbeite in einer Stadt in den Anden in einem Netzwerk hauptsächlich mit Freundinnen von vor Ort zusammen, um Entscheidungsprozesse zu dezentralisieren. Trotzdem stehen wir in Kontakt mit anderen Netz- werken und tauschen uns aus. Jedes Netzwerk hat seine eigene Art, aber ich denke, wir begreifen uns alle als Fürsorgeorganisationen, die schwesterlich und feministisch handeln. Wir machen das jetzt seit zwei Jahren. Im Laufe der Zeit haben wir ein Aktionsprotokoll entwickelt, nach dem wir Frauen aus der Stadt, aus der Hochebene und der Nähe der Grenze begleiten.

Wie läuft ein konkreter Fall ab?
María: Die Empathie und das Verständnis, das wir aufbringen können, weil viele von uns selbst schon einmal in dieser Situation waren, macht die Kommunikation in dieser schwierigen Situation etwas leichter. Nach dem Gespräch erklären wir der Person, was bei einer Abtreibung körperlich und emotional geschieht. Wir fragen, welche Begleitung sie sich vor, während und nach dem Schwangerschaftsabbruch wünscht und was sie braucht. Manchmal ziehen wir professionelle Ärztinnen hinzu. Wir hatten auch Kontakt zu einer Gynäkologin, Psychologinnen und Therapeutinnen. Als „Entlohnung“ für unsere Arbeit als Netzwerk haben wir die Betroffenen darum gebeten, etwas zurückzugeben – je nachdem wie sie konnten und wollten, damit das Netzwerk weiterhin funktionieren und Menschen helfen kann.

Lobelia: Die Kommunikation ist in dieser Arbeit das wichtigste. Unsere Hilfe setzt beispielsweise voraus, dass wir nur mit der Schwangeren sprechen und sie bitten, zu unserem Treffen nicht mit ihrem Vater, Ehemann oder Freund zu erscheinen – zu unserem Schutz und dem des Netzwerks. Die Mehrheit der Frauen zeigt dafür sofort Verständnis. Bei Minderjährigen, deren Mütter Bescheid wissen und die Entscheidung für eine Abtreibung unterstützen, sprechen wir auch mit den Müttern, wollen aber hauptsächlich mit der Frau sprechen, um die es geht. Diese Fälle sind zudem meist komplexer, weil wir herausfinden müssen, ob der Sex einvernehmlich war oder ob die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung hervorgeht.

Wer nimmt eure Netzwerke in Anspruch?
María: Sehr unterschiedliche Frauen. Es geht nicht immer um einen Schwangerschaftsabbruch, es kommen auch Frauen, die bereits abgetrieben haben und danach emotional oder körperlich von ihren Partnern missbraucht oder verlassen wurden. Ich denke, so ist es bei vielen Netzwerken: Es geht darum, Hilfe und Unterstützung für Frauen zu leisten, die sich in einem schwierigen Moment ihres Lebens befinden. Dieser Moment, der die Möglichkeit in den Raum stellt, Leben zu erschaffen, bringt ganz viele Unsicherheiten und Ängste mit sich. Viele müssen diese Gefühle in einer Umgebung verarbeiten, in der sie selbst nicht entscheiden dürfen, ob sie Mütter werden wollen oder nicht.

Wie hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Lobelia: Hier herrscht nur nachts ab 22 Uhr Ausgangssperre, das heißt, dass wir erstmal normal weitermachen und uns mit den Frauen treffen konnten. Aber seit einem Monat haben wir keine Medikamente mehr vorrätig, weil die Grenzen geschlossen sind. Soweit wir wissen, werden in Chile keine Pillen für Schwangerschaftsabbrüche hergestellt. Als uns die Vorräte ausgegangen sind, haben wir mit einer Frau gesprochen, die Arzneimittel in der Stadt verkauft. Sie meinte zunächst einmal, der Preis für eine Pille habe sich von 6.000 auf 12.000 Pesos verdoppelt. Bei dem Preis ist es uns unmöglich, in größeren Mengen an das Medikament zu kommen, nur die Frauen aus stabileren ökonomischen Verhältnissen haben Zugang. Kurz darauf sagte uns unsere Kontaktfrau, dass auch sie nun keine Medikamente mehr vorrätig habe. Wir fragten andere Netzwerke in der Nähe, überall kam die gleiche Antwort: Es gibt keine Medikamente mehr, nirgendwo.

Und jetzt?
Wir müssen zu anderen Maßnahmen greifen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Frauen aus indigenen Gemeinschaften zusammen daran, Informationen über Verhütung bereitzustellen. Wir arbeiten auch an Methoden zum Schwangerschaftsabbruch mit Pflanzen. Als die Medikamente knapp wurden, standen außerdem viele der Frauen, die auf die Behandlung angewiesen sind, auf einmal mit Fake-Pillen da, für die sie teuer bezahlt haben. Zusammen mit den falschen Pillen erhielten sie Nachrichten sogenannter Lebensschützer*innen, die drohten, sie anzuzeigen. Außerdem gibt es Leute, die die Medikamentenpreise aufs dreisteste in die Höhe treiben. Das sind nicht nur ein oder zwei Gruppen, das Internet ist voll von Fake-Händler*innen.

Wie organisiert ihr euch als Netzwerk und wie fällt ihr Entscheidungen?
María: Das Netzwerk hat sich über die verschiedenen Aufgaben organisiert: die Betreuung davor, danach, die Ausgabe der Medikamente und so weiter. Je nachdem, wie die Aufgaben verteilt wurden, waren manche von uns mehr in bestimmte Fälle involviert als andere. Die emotionale Last ist dabei immer Teil der internen Dynamik so einer Gruppe. Dinge wie Selbstfürsorge und kollektive Unterstützung, auch der Kontakt mit Psychologinnen und Therapeutinnen, sind essenziell, um entscheiden zu können, bis zu welchem Punkt man involviert sein und weiterarbeiten kann. Trotzdem hat sich unsere Gruppe aufgelöst, nicht nur wegen der emotionalen Belastung, die wir alle spürten, sondern weil die betroffenen Personen dem Versprechen, nach ihrem eigenen Fall selbst Unterstützung für andere zu leisten, nicht nachgekommen sind, auch wenn es nur darum ging, einen Erfahrungsbericht zu schreiben.

Welche Netzwerke gibt es aktuell?
María: Es gibt einige feministische, lesbofeministische und queere Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten. Con las amigas y en la casa ist vielleicht die bekannteste Organisation. In verschiedenen Regionen sind in letzter Zeit Gruppen an den Universitäten entstanden, die diese Art von Aktivismus dezentralisieren wollen und sich auf die Arbeit in der unmittelbaren Umgebung konzentrieren. Einige beschäftigen sich auch mit der Verbreitung traditioneller Methoden, wie die Abtreibung mit Heilkräutern. Eine solche Abtreibung ist viel weniger invasiv, braucht aber Disziplin, um die Veränderungen, die der Körper durchläuft, erkennen zu können. Es gibt auch einige institutionalisierte Gruppen, Info-Webseiten und Hotlines.

Was erwartet ihr für die Zukunft von staatlicher Seite?
Lobelia: Wir als Kollektiv fordern akut die gesetzliche Transparenz über die Anwendung der drei Gründe für einen legalen Schwangerschaftsabbruch. Von 13 Ärzt*innen in unserer Stadt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen können, weigern sich acht aus Gewissensgründen. Das heißt, selbst bei einer legalen Abtreibung ist es schwierig, jemanden zu finden, der diese durchführt. Dass Schwangerschaftsabbrüche – außer aus drei Gründen – immer noch illegal sind, hinterlässt viel zu viele Fragezeichen.

* Name geändert

REPRODUKTIVE RECHTE WÄHREND DER CORONA-PANDEMIE

Der 28. Mai ist Internationaler Aktionstag für die Gesundheit der Frau. Wie vielerorts konnte der Anlass dieses Jahr auch in Chile nur online begangen werden: Unter #AbortoLegalDerechoEsencial („Legale Abtreibung, ein Grundrecht“) wurde dabei auch für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen protestiert.

Erst Ende April hatte die UNO vor „katastrophalen Auswirkungen“ der Corona-Pandemie auf Frauen gewarnt: Die Krise führe weltweit zu geschätzt sieben Millionen ungeplanten Schwangerschaften, 28.000 Frauen könnten bei Geburten oder bei drei Millionen klandestinen Abtreibungen sterben.

Neben feministischen Organisationen richteten auch Andrea Parra, Abgeordnete der Partei für die Demokratie (PPD), und Anita Peña Saavedra, Geschäftsführerin von Miles (Vereinigung für sexuelle und reproduktive Rechte), ihre Kritik an die Regierung und Gesundheitsminister Jaime Mañalich: Fehlende staatliche Maßnahmen würden vermehrt zu ungewollten Schwangerschaften führen, die Frauen zu klandestinen Abtreibungen zwingen. Von diesen gab es schon vor der Coronakrise laut dem Gesundheitsministerium etwa 90 am Tag, andere Organisationen schätzen die Zahl noch höher.

Menschen, die illegal abtreiben, geben sich nicht nur in gesundheitliche Gefahr, sondern riskieren eine Gefängnisstrafe. Erst seit August 2017 sind Schwangerschaftsabbrüche in Chile in drei Fällen legal. Ein Fünftel der Ärzt*innen in öffentlichen Krankenhäusern weigert sich jedoch aus moralischen Gründen, diese durchzuführen. Bei Abtreibungen nach Vergewaltigung sind es sogar die Hälfte der Mediziner*innen. Die landesweite Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung fordert die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 14. Woche.

// Susanne Brust

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