DIE SOZIALEN BEWEGUNGEN UND DIE REGIERUNG BORIC

Boric wird Präsident Nach seiner Wahl müssen sich die sozialen Bewegungen neu positionieren (Foto: Diego Reyes)

Herr Grez, Sie beobachten die sozialen Kämpfe in Chile seit vielen Jahren. Wo stehen die Bewegungen nach dem Wahlsieg von Gabriel Boric?
Der hohe Stimmenanteil von knapp 56 Prozent und der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem in den ärmeren Schichten zeigen, dass seine Kandidatur bei einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung auf Veränderungen geweckt hat. Zwar gibt es darunter einen bedeutenden Prozentsatz von Linken, die ihn widerwillig gewählt haben, weil sie Boric neben der Gefahr, die von Kast ausging, für das „kleinere Übel“ hielten. Dennoch verkörpert er bis jetzt die Sehnsucht nach Wandel und der Überwindung des neoliberalen Modells. Das hat sich schon während des Wahlkampfes nicht nur in persönlichen Äußerungen, sondern auch in vielen Erklärungen sozialer Organisationen gezeigt.

Was bedeutet das konkret für die Zukunft der sozialen Bewegungen?
Vieles deutet darauf hin, dass die Organisationen und Bewegungen nun einige Zeit in Erwartungshaltung verharren werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Borics Amtsantritt ihre Mobilisierungs- kraft hemmen oder im Gegenteil beflügeln wird – etwa um Druck auf die neue Regierung auszuüben, ihre Wahlversprechen schnell und umfassend zu erfüllen. Die Arbeit des Verfassungs-*konvents (siehe Artikel S. 6), der in einem großen Teil des Landes ebenfalls Hoffnungen geweckt hat, könnte ähnlichen Einfluss auf das weitere Handeln der Bewegungen haben.

Welche Rolle spielt die Zusammensetzung der neuen Regierung?
Das Verhalten bestimmter politischer Akteure ist ein wichtiger Faktor. Die Kommunistische Partei etwa hat Einfluss auf gesellschaftliche Organisationen, insbesondere auf die Gewerkschaften. Aus früheren Regierungsbeteiligungen der Partei wissen wir jedoch, dass sie die Kämpfe der Bevölkerung entweder einzudämmen oder zu beleben versucht – je nach politischer Situation und Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition. So war es während der Regierungen von González Videla (1946-1952), Allende (1970-1973) und Bachelet (2006-2010 & 2014-2018). Ähnlich dürfte es auch jetzt sein.

Auf große Teile der Bevölkerung haben parteipolitische Akteure aber wenig Einfluss. Vor allem auf diejenigen nicht, die am stärksten unter dem neoliberalen System leiden: prekär und informell Beschäftigte, Selbstständige (cuentapropistas), Men- schen in extremer Armut, Mapuche, Migranten und andere. Es gibt keine Garantie dafür, dass die neue Regierung diesen Teil der Gesellschaft zufriedenstellen wird. Daher ist es denkbar, dass ihre Mobilisierungen, die auch radikalisierte und außerinstitutionelle Formen annehmen können, weitergehen werden. Einige Mapuche-Gemeinschaften und -organisationen haben bereits angekündigt, dass es keinen „Waffenstillstand” mit der Regierung von Boric geben wird. Das deutet darauf hin, dass es in Wallmapu, das die Strategen des chilenischen Nationalstaates euphemistisch als Macrozona Sur bezeichnen, weiterhin zu Auseinandersetzungen kommen wird.

Wird sich für diese Gruppen etwas ändern?
Ein Faktor, der die Basisorganisation mittelfristig fördern könnte – wenn auch stärker reguliert und kontrolliert – ist eine versprochene Reform des Streikrechts. Borics Programm zufolge sollen Streiks und Tarifverhandlungen künftig auch nach Produktionszweigen möglich sein, bisher waren nur firmeninterne Tarifverhandlungen zulässig. Diese und andere Faktoren mit noch unklaren Auswirkungen deuten auf ein komplexes und unvorhersehbares Szenario hin, insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden gravierenden sozialen Probleme. Das konkrete Handeln der politischen Akteure wird also entscheidend sein. Denn nach den allgemeinen Aufforderungen an die Bewegungen, Boric bei der Wahl zu unterstützen und möglichst „keine Wellen zu schlagen“, ist die Frage aus ihrer Sicht jetzt nicht mehr, wie die Menschen Boric unterstützen werden, sondern, wie Boric ihre Kämpfe unterstützt und die Forderungen zu ihrer Zufriedenheit erfüllt.

Was kommt nach dem aktuellen Verharren in Erwartungshaltung?
Ich glaube, die sozialen Kämpfe werden in einigen Monaten, wenn Borics Gnadenfrist – wie sie die Präsidenten zu Beginn ihrer Amtszeit oft begleitet – verflogen ist, ihren gewohnten Lauf nehmen und ungelöste Widersprüche unweigerlich an die Oberfläche bringen. Genaueres vorherzusehen ist unmöglich. Denn wir wissen weder, wie handlungsfähig diese Kämpfe sein werden, noch, inwieweit die Regierung Boric Repression einsetzen wird, um soziale Forderungen einzudämmen. Daher müssen die Bewegungen ihre Autonomie bewahren und sich auf allen Ebenen stärken. Die schwierigen vor uns liegenden Zeiten erfordern es.

Wie hat der verfassungsgebende Prozess die Mobilisierung beeinflusst?
Mit der sogenannten Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung vom 15. November 2019 wollte die politische Klasse die Macht der Revolte auf einen harmlosen Weg lenken, nämlich den eines verfassungsgebenden Prozesses, der vom Parlament geregelt wird. So wurde eine gänzlich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung verhindert, die die wichtigsten Interessen, die das neoliberale Modell aufrechterhalten, gefährdet hätte. (Der Verfassungskonvent ist in dem Sinne nicht frei und souverän, da Entscheidungen eine Zweidrittel­mehrheit benötigen und er internationale Abkommen nicht antasten darf, die das Parlament verabschiedet hat – beispielsweise Freihandels­abkommen, Anm. d. Red.). Mit dem Abkommen war die erste Phase der Revolte vom 18. Oktober 2019 zu Ende gegangen. Im Großen und Ganzen hat dieses politische Manöver die erhofften Ergebnisse erbracht: Es ist gelungen, viele Menschen zu demobilisieren, die glaubten, dass der ihnen angebotene verfassungsgebende Prozess ihren Wünschen entsprechen würde. Aber es reichte nicht aus, um zu der gewünschten „Normalität“ zurückzukehren.

Stattdessen gingen die Proteste weiter …
Ja, am 8. März 2020 zum Internationalen Frauentag erreichten sie ihren Höhepunkt. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Chile veranlasste die Regierung jedoch, den Ausnahmezustand zu verhängen, der von Quarantänen, einer Ausgangssperre im ganzen Land und anderen Maßnahmen begleitet wurde, die zur Demobilisierung beitrugen. Zu Beginn des Frühjahrs, als die pandemische Lage sich etwas entspannte, belebte die Aussicht auf das Plebiszit am 25. Oktober 2020, das den verfassungsgebenden Weg genauer bestimmen sollte, die sozialen Mobilisierungen insbesondere in politischer Hinsicht wieder.

Der 25. Oktober war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Institutionalisierung des Konflikts und des verfassungsgebenden Prozesses, wie in der Vereinbarung vom 15. November vorgesehen. Die Bemühungen, Energien und Ressourcen zahlreicher Aktivisten, Versammlungen, Räte und sozialer Organisationen, die in diesem neuen Kontext reaktiviert wurden, konzentrierten sich hauptsächlich auf die Kampagne zur Wahl der Delegierten für den Verfassungskonvent. Aus heutiger Perspektive können wir erkennen, dass die Revolte Mitte März 2020 erlosch. Dazu hatten das Abkommen vom 15. November, dann die Folgen der Pandemie, die eigene Zersplitterung und die politischen Beschränkungen geführt. Stattdessen wurde nun ein von der politischen Klasse geregelter und kontrollierter verfassungsgebender Prozess umgesetzt.

Werden die Bewegungen an die Revolte von 2019 anknüpfen können?
Nach Borics Wahl könnte der gegenwärtige Zeitpunkt als Beginn einer neuen Phase der Mobilisierungen nach der Revolte betrachtet werden – mit allen Unklarheiten und Unsicherheiten, die eine solche Definition mit sich bringt. Denn obwohl die Revolte schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen ist, sind viele der subjektiven Elemente des sogenannten octubrismo (Ethos und Erzählung der ersten Tagen der Revolte im Oktober 2019, Anm. d. Übers.) in der Vorstellung, in den Sehnsüchten und politischen Ausdrucksformen noch immer präsent. Zwar gibt es Proteste zu bestimmten Themen – für die Freiheit der politischen Gefangenen des Aufstands sowie für verschiedene wirtschaftliche und soziale Forderungen. Aber sie sind nicht mehr Teil der Revolte.

Welche Rolle spielten die Wahlen in diesem Zusammenhang?
Die zahlreichen Wahlen des vergangenen Jahres (zum Verfassungskonvent, Gouverneurs-, Kommunal-, Parlaments- und Regionalratswahlen) haben zur „Normalisierung“ und Institutionalisierung der Konflikte beigetragen. Auch die Präsidentschaftswahl 2021 hat, trotz ihrer Dramatik, nichts geändert. Die Revolte war nicht in der Lage, eine eigene Alternative aufzustellen, die es ihr ermöglicht hätte, in diesem Wahlkampf autonom aufzutreten. Der einzige Aspekt, in dem sich der octubrismo hier zeigt, ist das bemerkenswerte Wahlergebnis von Fabiola Campillai zur Senatorin in Santiago (die Fabrikarbeiterin Campillai, die durch den Beschuss mit einer Tränengaskartusche der Polizei ihr Augenlicht verloren hat, wurde im November 2021 als unabhängige Kandidatin zur Senatorin gewählt, Anm. d. Red.).

Auch wenn es nicht möglich ist, den Verlauf weiterer Mobilisierungen vorherzusagen, so ist doch sicher, dass die kommenden Proteste nicht als Teil der Revolte vom Oktober 2019 betrachtet werden können, sondern als Teil eines neuen Kontextes, der, wie ich vermute, über das Plebiszit über die neue Verfassung hinaus andauern wird. Doch der gesamte verfassungsgebende Prozess wird von den politischen Kräften des „Abkommens für sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 kontrolliert.

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