Chile | Nummer 513 - März 2017 | Politik

TIEFE GRÄBEN

In Chile positionieren sich zu Beginn des Wahljahres die Kandidat*innen des linken sowie des rechten Spektrums

Einen klaren Favoriten für die kommenden Präsidentschaftswahlen in Chile gibt es bisher nicht, denn die Ernüchterung der Bevölkerung über die politische Klasse ist groß. Viele sehen in dieser Entfremdung die Chance für eine unabhängige Bewegung jenseits der beiden großen Blöcke, die das Land seit Ende der Diktatur regieren.

Von Oliver Niedhöfer

2017 ist Wahljahr in Chile. Am 19. November wird ein*e neue*r Präsident*in gewählt, und auch das Parlament sowie ein Großteil des Senats werden neu besetzt. Dabei ist völlig unklar, wer diesmal das Rennen macht: Wird es zum zweiten Mal seit Ende der Diktatur 1990 eine Regierung des Mitte-rechts-Bündnisses Chile Vamos geben, kann sich die Mitte-links-Koalition Nueva Mayoría durchsetzen oder eventuell sogar ein*e unabhängige*r Kandidat*in? Eine Vielzahl an Bewerber*innen hat sich bereits in Stellung gebracht. In den Vorwahlen im Juli könnte es heiße Debatten geben, denn die sozialen Probleme im Land sind groß und die Gräben, die sich zwischen Gesellschaft und politischer Klasse aufgetan haben, sind tief.

Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden.

Klar ist, dass Michelle Bachelet nicht erneut antreten kann, da die chilenische Verfassung keine direkte Wiederwahl zulässt. Selbst wenn sie es könnte, wäre ihre Wiederwahl mehr als fraglich: Ihre Zustimmungsrate von lediglich 20 Prozent (bei Amtsantritt 2014 noch rund 53 Prozent) liegt sogar unter der von Ex-Präsident Sebastián Piñera, der aufgrund seiner harten Haltung zu den Bildungsprotesten 2011 äußerst unbeliebt war. Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden – dabei wurden durchaus einige wichtige Reformen durchgesetzt. So beispielsweise die Abschaffung des binominalen Wahlrechts, das als Überbleibsel der Diktatur zur Bildung der zwei großen Parteienblöcke führte und somit das politische System des Landes nachhaltig lähmte.

Weiterhin wurden Veränderungen am Bildungssystem, eine der Forderung der Studierendenbewegungen 2011, sowie ein Gesetz zur Lockerung des Abtreibungsverbotes angestoßen. Auch die Finanzierung von teuren Medikamenten wurde durch ein Gesetz erleichtert, womit das chronisch unzureichende Gesundheitssystem entlastet wurde.

Die Autonome Bewegung sieht sich als Alternative zum Blocksystem der Parteien.

Doch all diese Errungenschaften der aktuellen Regierung scheinen zu verblassen. Einer der Gründe dafür ist der Korruptionsfall um Sebastián Dávalos, den Sohn Bachelets. Dieser soll seinen Einfluss ausgenutzt haben, um einen Kredit in Millionenhöhe für das Unternehmen Caval zu erwirken, welches zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon gehörte. Mit diesen Geldern wurden von Caval mehrere Grundstücke zur Bebauung in der Nähe der Stadt Rancagua erworben. Nun war Michele Bachelet zwar nicht direkt in diesen Fall verwickelt, doch dass sie von diesem Deal nichts wusste, glaubte ihr kaum jemand. Es wurde ihr außerdem zum Verhängnis, dass das politische Klima in Chile ohnehin durch mehrere bereits zuvor ans Licht gekommene Korruptionsfälle angeschlagen war (LN 491). Viele Vertreter*innen der politischen Elite des Landes, das einst als eines von wenigen Staaten Lateinamerikas von der Korruption weitgehend verschont geblieben schien, haben über Jahre in die eigene Tasche gewirtschaftet.. Etwa im Fall Penta, durch den Spendenzahlungen des gleichnamigen Unternehmens an Mitglieder der rechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI) aufgedeckt wurden. Im Gegenzug wurden gefälschte Rechnungen ausgestellt, über die die Spenden steuerlich geltend gemacht wurden. Ähnlich, aber mit einer viel größeren Tragweite, war der Fall um das Bergbauunternehmen Soquimich, bei dem Bestechungsvorwürfe gegenüber Politikern fast aller großen Parteien erhoben wurden.

Kein Wunder also, dass sich einige in Bachelets Regierungsbündnis von ihrer Politik distanzieren. So der ehemalige Präsident Ricardo Lagos von der Partei für Demokratie (PPD), der in einem Radiointerview unter anderem die Einführung des hauptstädtischen Verkehrssystems Transantiago während der ersten Amtszeit Bachelets (2006–2010) kritisierte – dabei wurde das System hauptsächlich unter seiner Präsidentschaft (2000-2006) konzipiert. Auch José Miguel Insulza von der Christdemokratischen Partei (PDC), der sich einen Namen als Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gemacht hat, griff die Präsidentin frontal an, wobei er auf den Prozess der Verfassungsgebung unter Bürgerbeteiligung abzielte, der im September 2015 begonnen wurde. Beiden, sowohl Lagos als auch Insulza, werden Ambitionen auf das höchste Amt im Land nachgesagt.

Von dieser Seite des politischen Grabens, der das Land seit 27 Jahren durchzieht, droht ihnen Gefahr von Alejandro Guillier. Der 63-jährige aus Antofagasta, der als Unabhängiger im Senat sitzt, dabei allerdings von der Radikalen und Sozialdemokratischen Partei (PRSD) und somit von der Nueva Mayoría unterstützt wird, ist seit langem als Radiomoderator und Journalist bekannt. Auf ihm ruhen die Hoffnung derer, die zwar auf die marktwirtschaftliche Politik der Linken vertrauen, sich aber dennoch frischen Wind wünschen. Diesen will der charismatische Guillier bieten, der von sich selbst sagt, dass er ein Politiker des „Übergangs“ sei; von der bisherigen Politik seit dem Ende der Diktatur zu einer neuen, jungen Politik, die ihre Anfänge in der Student*innenbewegung von 2011 hat. Guillier führt die Umfragen noch vor Lagos und Insulza an und hat seine Kandidatur Mitte Januar offiziell angekündigt.

Für Chile Vamos hat sich Sebastián Piñera als Kandidat positioniert und erfreut sich momentan einer hohen Beliebtheit – in einigen Umfragen führt er sogar noch vor Guillier. Zwar wird ein endgültiger Kandidat erst in Vorwahlen bestimmt, doch gibt es bei den konservativen Parteien noch weniger erfolgsversprechende Politiker* innen als bei der Nueva Mayoría. Es scheint, als wäre der Einzige, der Piñera noch gefährlich werden könnte, er selber, denn auch er ist in einen Skandal verwickelt: Während seiner Amtszeit als Präsident 2010 investierte das Unternehmen Bancard, das seiner Familie gehört, in ein peruanisches Fischereiunternehmen. Dies ist deshalb brisant, weil genau zu diesem Zeitpunkt der Grenzverlauf zwischen Chile und Peru vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt wurde und Piñera somit über Insiderwissen verfügte. Das allein wird ihn vermutlich nicht die Kandidatur kosten, aber bis zur Wahl ist es noch lang, und schon ist die Rede von einer „Büchse der Pandora“, die sich durch diesen Fall geöffnet habe und noch mehr Verwicklungen zutage fördern könnte.

Die Verbindungen zwischen Politik und Geschäft ist nichts Neues in dem Land, das als Musterkind des Neoliberalismus gilt. Relativ neu ist die Korruption und die Verwicklung von Spitzenpolitiker* innen. Die andauernden Enthüllungen bestätigen den Bürger*innen nur einmal mehr, dass sich die Elite des Landes hauptsächlich um sich selbst kümmert. Bei vielen Themen – beispielsweise dem in der Diktatur privatisierten Rentensystem AFP, das immer wieder zu landesweiten Protesten führt (LN 507/508), oder dem unter Piñera eingeführten Fischereigesetz, das viele Fischer in die Prekarität treibt – fühlen sie sich im Stich gelassen. Auch bei Arbeitskämpfen wie den wochenlangen Streiks im Baumarkt Sodimac oder in der öffentlichen Verwaltung tritt die Politik bestenfalls als Unterstützerin der Arbeitgeberseite auf. Vielleicht ruht darauf die Popularität Guilliers, der sagt, dass „sich die Verbindung zwischen der politischen Klasse und den Menschen“ aufgelöst hat und somit ausspricht, was viele denken. Das Resultat sind entweder Proteste, die wie bei der letzten „No+AFP“-Demonstration am 4. November immer wieder in Gewalt enden, oder Resignation, wie sie sich in der niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 35 Prozent bei den letzten Kommunalwahlen manifestierte.

Die Ursachen für diese tiefen Gräben zwischen Gesellschaft und politischer Klasse sind weitreichend. Oft werden die wirtschaftspolitischen und sozialstaatlichen Maßnahmen während der Pinochet-Diktatur für diesen Bruch verantwortlich gemacht. Dies stimmt nur zum Teil, denn diese Maßnahmen hätten durch linke Regierungsmehrheiten seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 reformiert werden können. Vielmehr sind es die Bedingungen der Transition von Diktatur zur Demokratie selber, in denen viele die Gründe der Probleme des Landes wie Ungleichheit, gesellschaftlicher Zerfall, Urbanisierung, fehlender Gemeinsinn begründet sehen.

So spricht der Politikwissenschaftler Daniel Mansuy in seinem Mitte 2016 erschienenen Buch Nos fuimos quedando en silencio von der „Agonie der Transition“: das Erbe der Diktatur in Form des neoliberalen Marktmodells, eingerahmt in die Verfassung, führte zur Erstarrung der Politik und der Beibehaltung des Status Quo. Während die Mitte-links-Regierungen sich mit punktuellen Reformen zufrieden gaben, Markt und Politikmodell allerdings unangetastet ließen, verblieben die Mitte-rechts-Bündnisse durch das binominale Wahlsystem, welches ihnen ein proportionales Gleichgewicht garantierte, in einer passiven Opposition. Politiker*innen aller parlamentarischen Parteien profitierten davon, es herrschte ein „ewiger Konsens“. Diese Agonie ist der Grund dafür, dass die politische Elite „die Fähigkeit verloren hat, dem Gemeinwohl des Landes zu dienen“. Als möglichen Ausweg skizziert Mansuy unter anderem die Schaffung von bürgernahen „repräsentativen Institutionen“, welche „in der einen oder anderen Form eine Verbindung mit dem Alltagsleben bewahren“.

In diese Kerbe schlägt auch der Abgeordnete Gabriel Boric, wenn er sagt, dass „die heutige politische Krise ihre Wurzeln in der Trennung zwischen institutioneller Politik und der Gesellschaft“ habe. Die Verantwortung für die heutigen Probleme Chiles liege nicht nur bei der Pinochet-Diktatur, sondern auch bei den Regierungen der Transition, denn die Beibehaltung des ökonomischen und politischen Modells war eine „klare politische Entscheidung“. Es ist der 30-jährige Boric, der für die Region Magallanes in Südchile im Parlament sitzt und 2011 als einer der Anführer der Studierendenbewegung bekannt wurde, der für Hoffnung sorgt. Seine Autonome Bewegung (Movimiento Autonomista) ist in das breite Bündnis linker und unabhängiger Parteien Frente Amplio eingebettet und könnte eine der Institutionen sein, die Mansuy meint. Die Bewegung sieht sich als Alternativmodell zu dem als „Duopol“ bezeichneten Blocksystem, und mit dieser bewussten Abgrenzung sollen die Mehrheiten angesprochen werden, die sich von der bisherigen Politik ausgeschlossen fühlen. So distanziert sich Boric auch von Alejandro Guillier, mit dem ihn inhaltlich viel verbindet, dessen Unterstützung durch die Nueva Mayoría er allerdings für den falschen Weg hält. Einen eigenen Kandidaten hat das Bündnis bisher nicht ernannt, allerdings wird erwartet, dass dies in den nächsten Monaten geschieht.

Obwohl die Bewegung noch am Anfang steht, konnte sie bereits erste Erfolge erzielen: Boric’ Einzug in das Parlament 2013, die Wahl von drei Stadträt*innen in Antofagasta, Ñuñoa und Punta Arenas sowie der Sieg von Jorge Sharp bei der Bürgermeisterwahl in Valparaíso im Oktober 2016. Diese Wahl steht paradigmatisch für das Vorhaben der Bewegung: Der 31-jährige Sharp, der wie Boric aus dem äußersten Süden Chiles stammt, setzte sich überraschend deutlich mit 54 Prozent der Stimmen gegen die Kandidaten der beiden großen Parteiblöcke durch. Paradigmatisch ist auch das Motto der Kampagne: „Mit sauberen Händen holen wir Valparaíso zurück“; ein Slogan, der auf die undurchsichtigen Machenschaften der politischen Elite anspielt. Sein Vorhaben, die Ausgaben der Stadt zu senken und in notwendige Sozialmaßnahmen umzuleiten, begann er gleich nach Amtsantritt, indem er einen Vertrag für die Beleuchtung der Plaza Victoria im Zentrum der Stadt kündigte. Dieser wurde von seinem Vorgänger José Castro von der UDI für umgerechnet 385.000 Euro abgeschlossen – zu viel, urteilte die neu gewählte Stadtverwaltung und ließ einen neuen Vertrag für etwa ein Drittel der ursprünglichen Kosten abschließen. Neben dem Ziel der massiven Kostensenkungen kündigte Sharp an, mit Referenden, Versammlungen und Diskussionsveranstaltungen den Bürger*innen mehr Beteiligung am politischen Prozess zu ermöglichen. Die Erwartungen sind hoch, und es lässt sich nicht sagen, ob sich dieser Erfolg in der zweitgrößten Stadt bei den Wahlen im November wiederholen lässt. Weder Sharp noch Boric werden die über Jahrzehnte entstandenen Gräben im Land komplett schließen können, aber sie können, wie Sharp sagt, „frischen Sauerstoff, und somit ein Element der Hoffnung und der Erneuerung, in die politische Szene einführen“.


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