Chile | Nummer 582 - Dezember 2022 | Politik

KATERPAUSE

Die politische Situation in Chile ist festgefahren

Seit dem verlorenen Referendum ist der verfassungsgebende Prozess in Chile bis auf Weiteres eingefroren. Die sozialen Bewegungen, die die Revolte von 2019 getragen und danach die Verfassung maßgeblich mit ausgearbeitet hatten, scheinen derzeit marginalisiert. Stattdessen redet nun die Rechte wieder ein gewichtiges Wort mit. Die Regierung von Präsident Gabriel Boric versucht derweil, ihre Reformagenda zu retten. LN geben einen Überblick über die vertrackte Situation.

Von Malte Seiwerth

Mit erhobener Faust Die ehemalige Konventsabgeordnete Camila Zárate will weiterhin Druck ausüben (Foto: Caterina Muñoz)

Camila Zárate meint, sie sei erschöpft. „Über ein Jahr während des Verfassungskonvents habe ich so gut wie alles vernachlässigt: Freundschaften, die Familie, selbst die eigene Gesundheit“, erzählt die ehemalige Abgeordnete des Verfassungskonvents. Sie habe ihre volle Aufmerksamkeit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewidmet und das zum Teil bis früh in die Morgenstunden. Zárate ist Aktivistin der Bewegung für Wasser und die Territorien, kurz MAT. Sie vertrat die Bewegung im Verfassungskonvent, der von Juli 2021 bis Juni 2022 tagte. Am 4. September 2022 wurde der von ihm vorgelegte Entwurf von 62 Prozent der wählenden Bevölkerung abgelehnt (siehe LN 579). Es war das erste Mal in der chilenischen Geschichte, dass Vertreter*innen sozialer Bewegungen an einer neuen Verfassung mitschreiben konnten – diese Chance ist nun vorbei.

Seit dem 4. September haben die Parteien und die beiden Parlamentskammern wieder die Hoheit über den verfassungsgebenden Prozess. Anders als die Konventsmitglieder nehmen sie sich Zeit und diskutieren nur in unregelmäßigen Abständen über die Form einer neuen Verfassung – bislang jedoch ohne klare Anzeichen auf Einigung. „Nun hat die traditionelle Politik wieder das Zepter übernommen“, meint Zárate konsterniert.

Knapp drei Monate nach der Ablehnung der neuen Verfassung herrscht in Chile Stillstand. Mittlerweile ist der verfassungsgebende Prozess aus der öffentlichen Diskussion fast gänzlich verschwunden. Wie konnte das geschehen? Eigentlich schien der Ablauf nach der Abstimmung bereits klar: Sofern der Verfassungsentwurf abgelehnt werden würde, sollten die Parlamentskammern einen erneuten Anlauf für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung anstoßen. So hatte es Chiles Präsident Gabriel Boric zuvor erklärt. Auch ein Großteil der Gegner*innen des Verfassungsentwurfs waren mit diesem Plan einverstanden. Unter dem Motto „eine, die uns vereint“, warben sie für ein Nein und gleichzeitig dafür, nach der Abstimmung einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu beginnen. Wie dieser aussehen sollte, legten sie jedoch nur sehr vage dar.

Gleich nach Bekanntgabe der Wahlresultate rief die Regierungssprecherin Camila Vallejo alle im Parlament vertretenen Parteien zu gemeinsamen Gesprächen auf. Seitdem hat die rechte Opposition versucht, Zeit zu schinden. Am Folgetag der Abstimmung kündigte Francisco Chahuán, Präsident der rechten Partei Renovación Nacional, an, zunächst nicht an den gemeinsamen Sitzungen teilzunehmen. Sie seien zu improvisiert, sagte er gegenüber dem staatlichen Fernsehsender TVN. Erst mehrere Tage danach fand die erste gemeinsame Sitzung statt.

Anschließend wechselten sich öffentliche Mindestforderungen rechter und linker Parteien ab. Während es von der Regierung immer wieder hieß, man sei kurz vor einem Durchbruch der Verhandlungen oder erwarte, bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu einer Einigung zu kommen, dementierte die Opposition kurz danach stets jede Behauptung. Nach mehrmaligem Hin und Her haben die Medien mittlerweile aufgehört, über angebliche Einigungen zu informieren.

Mit dem Scheitern des Verfassungsentwurfs ist das bisherige linksreformistische Programm der Regierung Boric weiter unter Druck geraten. Eigentlich hatte die Regierung vor, tiefgreifende Reformen in den Bereichen Renten, Bildung und Gesundheit anzustoßen. Ohne die neue Verfassung wird es allerdings umso schwieriger, diese durchzusetzen. Noch im August hatte Regierungssprecherin Vallejo verkündet: „Die Verfassung von 1980 wirft Grenzen und Hindernisse auf, mit denen es schwierig ist, unser Regierungsprogramm umzusetzen“.

Anfang November stellte die Regierung schließlich den ersten Teil des tiefgreifenden Reformprogramms vor, das im Bereich der Renten die privatisierten Rentenfonds AFP teilweise durch ein „gemischtes System“ ersetzen soll. Mit der Reform sollen die „AFPs verschwinden“, kündigte Präsident Gabriel Boric an. Zukünftig sollen zusätzlich sechs Prozent des Lohns auf Kosten des Arbeitgebers für die Renten abgeführt werden. Ein Teil davon soll weiterhin auf individuelle Sparkonten eingezahlt werden, ein anderer Teil soll in ein staatlich verwaltetes solidarisches Rentensystem fließen. Der Staat soll zudem Mindestrenten in Höhe von umgerechnet etwa 290 Euro zusichern. Bisher zahlten Arbeiter*innen zehn Prozent direkt auf ein individuelles Sparkonto eines AFP ein. Zukünftig soll ein staatlicher Rentenfonds den privaten Akteuren Konkurrenz machen. Zudem sollen alle Einzahlungen über eine staatliche Stelle laufen, die das Geld an den entsprechenden Fonds weiterreicht. Das Ziel sei es, „die Renten der Chilenen zu erhöhen“, so Boric. Durch die Reform würden die kritisierten AFPs in ihrem Handeln eingeschränkt werden. Es wäre der erste Schritt dahin, neue, staatliche und solidarische Akteure im chilenischen Rentensystem zu etablieren.

Das gewerkschaftsnahe Forschungszentrum Fundación Sol jedoch kritisierte die Reform als Augenwischerei. Ein Großteil des eingezahlten Geldes würde weiterhin in private Rentenfonds investiert werden, die seit Jahren rote Zahlen schreiben und diese direkt an die Rentner*innen weitergeben. Der solidarische Anteil des neuen Systems sei viel zu gering. Das Geld würde weiterhin vor allem dazu verwendet werden, die Wirtschaft zu finanzieren, anstatt würdige Renten auszuzahlen, so das Forschungszentrum.

Das bisherige Rentensystem wurde während der Militärdiktatur im Jahr 1980 vom damaligen Arbeitsminister José Piñera eingeführt. Es setzte sich zum erklärten Ziel, die international isolierte Wirtschaft durch Investitionen aus dem Ersparten der Arbeiter*innen in Gang zu bringen.

Der abgelehnte Verfassungsentwurf hätte ein vollständig solidarisches Rentensystem vorgesehen, in dem private Rentenfonds nur noch als Zusatzversicherungen agiert hätten. Die nun vorgeschlagene Reform ist ein Eingeständnis gegenüber den rechten Sektoren, die mit der Kampagne „Con mi plata no“ (zu Deutsch „Nicht mit meinem Geld“) gegen einen solidarischen Rentenfonds kämpfen.

Derweil wirbt der Finanzminister Mario Marcel (Sozialistische Partei) für die zweite große Reform der Regierung. Seit Juli verhandelt Marcel mit verschiedenen Wirtschaftsgremien und in den entsprechenden Parlamentskommissionen über die geplante Steuerreform. Mit dem Ziel, jährlich zusätzlich mindestens zwölf Milliarden Dollar einzunehmen, soll Steuerhinterziehung besser bekämpft sowie ein progressiverer Steuersatz auf Einkommen und Vermögen und höhere Steuern auf Bergbauaktivitäten festgelegt werden. Die geplante Steuerreform wird von internationalen Gremien wie der OECD gelobt. In einem Bericht der Organisation heißt es, Chile brauche eine höhere Steuerlast, um soziale Grundrechte wie Bildung und Gesundheit zu finanzieren. Derzeit liegt die durchschnittliche Steuerbelastung in Chile bei etwa 20 Prozent. In Europa beträgt sie das Doppelte.

Die Reformen der Regierung sind Augenwischerei

Obwohl beide Reformen weit entfernt von einem tiefgreifenden Umbau des chilenischen Wirtschaftssystems sind, läuft die Opposition Sturm gegen sie. Und zweifelt immer wieder öffentlich an, ob sie die Gesetzestexte unterstützen wird. Sowohl bei den Reformen als auch beim erneuten Anlauf für einen verfassunggebenden Prozess befindet sich die Regierung in einer kniffligen Lage. Trotz Aufnahme von Mitte-Links Parteien zum Amtsantritt fehlt dem Präsidenten in der unteren Kammer mit 65 von 155 Sitzen eine Mehrheit. Im Senat sieht es mit gerade einmal 18 von 50 Sitzen kaum besser aus. Ohne die Stimmen der Opposition gibt es also keine Reformen und schon gar keinen weiteren verfassungsgebenden Prozess. Für Letzteren bräuchte es sogar eine Viersiebtelmehrheit.

Die Rechte fühlt sich derweil in ihrer Position bestärkt. Sie fordert, der neue verfassungsgebende Prozess solle in einem eingeschränkten Rahmen durchgeführt werden, bei dem die Einhaltung gewisser Eigentumsrechte, wie etwa das auf Wassernutzung, durch ein Kontrollorgan garantiert wird.

Der rechte Politiker Christian Macaya meint derweil gegenüber LN, „wir dürfen nicht Gefangene unserer eigenen Versprechen sein“. Man solle sich mittlerweile um andere, für ihn wichtigere Themen konzentrieren und den verfassungsgebenden Prozess der Vergangenheit überlassen. Macaya war ein führender Politiker in der Kampagne gegen den Verfassungsentwurf in der Region von Valparaíso.

Die ehemalige Konventsabgeordnete Zárate ist dagegen zuversichtlich: „Ich glaube, es wird eine neue Verfassung geben. Nur wie weit die sozialen Bewegungen an ihr teilnehmen werden, kann ich heute noch nicht sagen“.

Teilweise wird darüber berichtet, dass die Parteien im Parlament langsam mit gemeinsamen Vereinbarungen vorankommen. Ein Zwölf-Punkte-Plan soll einen neuen verfassungsgebenden Prozess leiten und eingrenzen. Dieser steht mittlerweile und legt unter anderem fest, dass die „Symbole des Vaterlandes“ unverändert bleiben, die Souveränität des Landes nicht bei der Bevölkerung, sondern beim Staat liegt, das Privateigentum in „all seinen Formen“ geschützt werden soll und die Erziehungsberechtigten die Freiheit haben sollen, über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. Auch Punkte wie die Plurinationalität werden in diesem Plan ausdrücklich verboten und ein Recht auf Abtreibung durch ein breit angelegtes „Recht auf Leben“ untersagt.

Vieles ist aber weiterhin unbekannt. Bislang steht aus, ob ein neuer Konvent gewählt werden wird und ob sich Parteiunabhängige wieder in Listen zusammenschließen können, um an der Wahl teilzunehmen. „Trotzdem können wir weiterhin Druck ausüben“, meint Zárate. Es wäre die Rückkehr zur alten Position der sozialen Bewegungen: Man organisiert Demonstrationen, leistet in gewissem Grade Lobbyarbeit, ist aber nicht direkt an der Ausarbeitung von Gesetzen beteiligt.

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