GEWALT UND GESETZ: ECUADOR

Schwesterlichkeit “Wir Frauen sind die Kriegerinnen undeser Gemeinschaft”

Illustration: Shawna Pancarita Farinango, @shawnaf

Daten der ökumenischen Kommission für Menschenrechte (CEDHU) zufolge wurden in Ecuador zwischen dem ersten Januar und dem 18. November 2019 95 Feminizide begannen. Dies entspricht einem Feminizid alle 70 Stunden. In drei der 95 Fälle hatten die Frauen schon eine sogenannte boleta de auxilio bei den Behörden beantragt. Diese Notfallkarte soll es Betroffenen häuslicher Gewalt erleichtern, in Notsituationen polizeiliche Hilfe zu erhalten.

Einem Bericht der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen von 2019 zufolge hat Ecuador in Bezug auf die Gesetzeslage in den letzten Jahren deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Im Strafgesetzbuch wird Gewalt gegen Frauen und andere Mitglieder der Familie je nach Schwere kriminalisiert. Neben dem Feminizid als maximalem Ausdruck von Gewalt gegen Frauen sind dort auch andere Formen von Gewalt einschließlich physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt festgehalten. Als direkte Kritik an diesem Gesetz nennt die UN-Sonderberichterstatterin Dubravka Šimonović die Definition des Begriffs der Vergewaltigung, der nur auf der Anwendung von Gewalt beruht, nicht auf dem Fehlen von Konsens. Des Weiteren solle die Verjährungsfrist für die Anzeige von Vergewaltigungen verlängert werden, um die effiziente Einleitung von Strafverfahren zu ermöglichen, nachdem das Opfer volljährig geworden ist.

Weitere Kritikpunkte an der Gesetzeslage sind die Kriminalisierung von Abtreibung und die unzureichende Bereitstellung finanzieller Ressourcen zur Umsetzung der bestehenden Gesetze.

Anfang 2019 kam es in mehreren ecuadorianischen Städten zu Massenprotesten gegen sexualisierte Gewalt, Feminizide und Rassismus. Anlass für die Proteste waren zwei Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich in derselben Woche ereignet hatten. Die 35-Jährige Martha wurde Opfer einer Massenvergewaltigung in einer Bar im Norden von Quito. Martha sagte später aus, dass sie von drei befreundeten Männern betäubt und gefoltert worden war. Die 24-jährige Schwangere Diana wurde von ihrem venezolanischen Partner erstochen. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Verbrechens gab Präsident Lenín Moreno auf seinem Twitter-Account bekannt, dass er „Brigaden“ zur Kontrolle der Venezolaner in Ecuador angeordnet habe. Aktivist*innen verurteilten die rassistischen Äußerungen des Präsidenten, welche die Herkunft des Täters in den Vordergrund rückten, anstatt Gewalt gegen Frauen als solche anzuerkennen und den Opfern die Würdigung entgegenzubringen, die sie verdienen.

GEWALT UND GESETZ: DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Das Patriarchat wird fallen! Auf machistische Gewalt folgt feministischer Widerstand.

Illustration: Agustina Di Mario, @aguslapiba

Das größte Risiko für eine Frau, ermordet zu werden, ist die bloße Tatsache, eine zu sein.” Diese Aussage der dominikanischen Feministin Susi Pola spiegelt die erschreckende Realität von Gewalt an Frauen und Femiziden in Lateinamerika wider. Nach El Salvador (6,8 jährliche Femizide pro 100.000 Einwohner*innen) und Honduras (5,1) weist die Dominikanische Republik (1,9) eine der höchsten Gewaltraten an Frauen in Lateinamerika auf. Zwischen 2000 und 2006 wurden 1.068 Frauen getötet. Zwischen 2017 und Oktober 2019 waren es bereits 484. Laut Amnesty International nahm die Gewalt gegenüber Frauen in der Dominikanischen Republik allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2017 im Vergleich zum Vorjahr um 21 Prozent zu. Knapp ein Drittel der Frauen sind zwischen 20 und 29 Jahre alt.

Die hohen Ziffern verdeutlichen, dass die dominikanische Regierung den Frauen nicht genügend Schutz vor Gewalt bietet, obwohl es Gesetze wie etwa das Gesetz Nr. 24-97 aus dem Jahr 1997 gibt, das Gewalt an Frauen bestrafen sollte. Auch hat die Dominikanische Republik das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) im Jahr 1982 unterzeichnet und ratifiziert.

Nach Angaben von UN Women gab es 2019 bereits in 144 Ländern Aktionspläne, die sich für eine Reduzierung geschlechtsspezifischer Gewalt einsetzen. Auch die Dominikanische Republik hat vor Jahren solch einen Aktionsplan implementiert. Es bleibt festzuhalten, dass Friedenspädagogik und toxische Männlichkeitskonzepte kaum bis gar kein Bestandteil der Gegenmaßnahmen sind, was nach theoretischen Ansätzen jedoch eine gute Möglichkeit wäre, um die bestehende Problematik rund um geschlechtsspezifische Gewalt und einem gesellschaftlichen Wandel zu thematisieren. Im Aktionsplan „Planeg III: Landesweiter Plan für Geschlechtergleichheit und -gleichberechtigung” (2019-2030) herrscht Einigkeit darüber, dass die dominikanische Regierung trotz einer hohen Anzahl von Initiativen, die sich für die Bekämpfung geschlechterspezifischer Gewalt einsetzen, versagt hat.

In der Hauptstadt Santo Domingo demonstrieren seit Jahren zahlreiche Menschen am 25. November, dem internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, für ein Ende geschlechtsspezifischer Gewalt. An diesem Tag wird an die Schwestern Mirabal zurückerinnert, die am 25. November 1960 im Auftrag des damaligen Diktators Rafael Trujillo Molina durch den militärischen Geheimdienst ermordet wurden. Der Fall wurde so bekannt, dass die Vereinten Nationen 1999 nach einem Treffen mit lateinamerikanischen Feminist*innen den 25. November offiziell als internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen einführten. Neben immer öfter stattfindenden Demonstrationen im Land sind einige dominikanische Feminist*innen Teil der Ni Una Menos-Bewegung, die sich gegen Femizide einsetzt.

GEWALT UND GESETZ: DEUTSCHLAND

Illustration: Valeria Araya, @onreivni

In Deutschland werden Feminizide noch nicht staatlich anerkannt. Bisher vermied es die Bundesregierung in Antworten auf zwei kleine Anfragen der Parteifraktion DIE LINKE, die Tötung von Frauen als strukturelles Problem einzuordnen und als Feminizide zu benennen. Gleichzeitig hat Deutschland den größten finanziellen Anteil an der Spotlight Initiative, einer Kooperation zwischen EU und Vereinten Nationen (UN) zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika und der Pazifik-Region. Für den lateinamerikanischen Raum wird der Schwerpunkt auf die Beendigung von Femiziden gelegt. Wegen fehlender Daten fordert die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen Dubravka Šimonovic die Etablierung eines „Femicide Watch“ in allen Ländern, der Statistiken zu geschlechtsspezifischen Tötungen und ihrer juristische Verfolgung erfassen und analysieren soll.

Im Unterschied zu 25 anderen Ländern ist Deutschland dieser Forderung bisher nicht gefolgt. Zwar wurden internationale Konventionen ratifiziert und in nationales Recht umgewandelt, es herrscht jedoch noch großer Nachholbedarf. So bemängelt die CEDAW-Allianz, ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen, die Unterfinanzierung von Hilfsangeboten, den Mangel effektiver Schutzmaßnahmen und, dass der Zugang zu Beratungsstellen etwa für Migrant*innen und geflüchtete Frauen oft nicht gewährleistet sei. Eine auf Grundlage der Istanbul-Konvention umzusetzende Monitoring-Stelle gegen Gewalt an Frauen befindet sich erst seit Januar 2020 im Aufbau.

Juristisch werden Feminizide nicht gesondert betrachtet, sondern als Mord, Totschlag oder gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge erfasst. Lena Foljanty und Ulrike Lembke analysierten in einer Studie von 2014 dabei einen rassistischen Bias in der Rechtsprechung: Von Mehrheitsdeutschen begangene Taten wurden meist als Partnerschaftsverbrechen und Totschlag verurteilt, die von Nichtmehrheitsdeutschen mehrheitlich als Mord („Ehrenmorde”).

Aussagekräftige Statistiken fehlen bislang. Seit 2011 erfasst die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts die Beziehung zwischen Opfern und Täter*innen. Seit 2015 veröffentlicht die Stelle jährlich eine kriminalstatistische Auswertung zu Gewaltdelikten in Partnerschaften. 2018 gab es demnach 324 Fälle versuchter oder vollendeter Tötung an Frauen, 122 Frauen wurden von (Ex-)Partnern getötet – eine weitere Analyse bleibt aber aus.

Aktivist*innen kritisieren, dass Morde außerhalb von (Ex-)Partnerschaften in der Statistik außen vor bleiben. Zudem werden ermordete trans Frauen, die keine Personenstandsänderung vorgenommen haben, in der Statistik als männlich erfasst. Aktivistische Gruppen wie Feminicide Map, der Arbeitskreis Feministische Geographie oder das #KeineMehr-Dokumentationsprojekt haben deshalb angefangen, auf Grundlage von Presseberichten selbstständig Statistiken anzufertigen. Dort werden Feminizide vor allem dann skandalisiert, wenn rassistische Ressentiments bedient werden, etwa bei sogenannten Ehrenmorden. Privatisierende Begriffe wie „Beziehungsdrama“ oder „Familientragödie“ verschleiern häufig die strukturelle Dimension von Feminiziden.

Erst seit wenigen Jahren findet eine größere öffentliche Sensibilisierung für die strukturellen Ursachen von Feminiziden statt. Gruppen wie die 2017 gegründete Initiative #Keine Mehr mobilisieren gegen Feminizide und rücken das Thema auch in Deutschland in den Fokus.

GEWALT UND GESETZ: COSTA RICA

In Flammen Sie wollten uns verbrennen, aber wir sind zu Feuer geworden (Illustration: Mora Gala, @mora.gala)

Von Januar bis Oktober 2020 sind in Costa Rica 53 Frauen ermordet worden, elf davon zählen offiziell als Femizide und sechs als Morde. In 38 Fällen ist der Status bisher noch ungeklärt. Elf Frauen wurden allein im Juli getötet, der damit kritischste Monat der diesjährigen Bilanz. In Costa Rica ist laut Artikel 21 des Gesetzes zur Bestrafung von Gewalt an Frauen (Nr. 8589) ein Mord an einer Frau nur dann ein Femizid, wenn Täter und Opfer verheiratet sind oder eine eingetragene Lebensgemeinschaft bilden. Die Beobachtungsstelle für geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dokumentiert seit 2007 auch Fälle des „erweiterten Femizids“, hierzu zählen auch Tötungsdelikte an Frauen, bei denen es keine romantische Beziehung oder Ehe zwischen Opfer und Täter gab. Im vergangenen Jahr wurden sieben solcher Fälle registriert. In Costa Rica gibt es keine gesonderte Statistik über Transfemizide.

Feministische Gruppen fordern die strikte Durchsetzung des Strafgesetzes und die schnelle Aufklärung der Fälle. Sie beklagen, dass Urteile oft aufgrund fadenscheiniger Begründungen milder ausfallen oder zurückgenommen werden.

Diese Forderungen und die Wut über die Brutalität der Fälle sexualisierter Gewalt werden vor allem auf Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. So auch im Fall der 18-Jährigen Allison Bonilla, die im März 2020 verschwand. Sie war von einem Nachbarn sexuell missbraucht und ermordet worden. Der Täter bekannte sich im September schuldig. Daraufhin gingen tausende Frauen und Unterstützer*innen auf die Straße. Der vermeintliche Täter zog wenige Tage später seine Aussage zurück und behauptet seitdem, er sei unschuldig. Ende September wurden die menschlichen Überreste Allison Bonillas gefunden, der Fall ist bisher noch nicht abgeschlossen.

Trotz Ausgangssperren gibt es auch während der Covid-19-Pandemie virtuelle und physische Demonstrationen von feministischen Organisationen. Gruppen wie Ni Una Menos Costa Rica oder Transvida haben Hilfe-Hotlines eingerichtet, die sie rund um die Uhr betreuen und bei denen betroffene Frauen Gewalttaten anzeigen können.

GEWALT UND GESETZ: CHILE

Mutig kämpfen Sie haben uns so viel weggenommen, dass sie uns auch unsere Angst genommen haben (Illustration: Magda Castría, @magdacastria)

Bis Anfang Oktober hat es im Jahr 2020 nach Angaben des Ministeriums für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter in Chile 29 Feminizide und 102 versuchte Feminizide gegeben. Das Ministerium gibt jedes Jahr eine Liste mit Namen der Opfer von Feminiziden heraus, im vergangenen Jahr 46 Fälle. Diesen Angaben gegenüber stehen die Statistiken des chilenischen Netzwerkes gegen Gewalt an Frauen, die für den gleichen Zeitraum 2020 schon 38 Feminizide im Land zählen, im vergangenen Jahr 63. Die seit 30 Jahren aktive Organisation dokumentiert jeden Fall detailliert und betont die politisch-strukturelle Dimension von Feminiziden sowie die Verstrickung von sexualisierter und rassistischer Gewalt in Chile. Das Netzwerk zählt neben Feminiziden auch Fälle von sogenannten suicidios femicidas, also Suizide von Frauen, nachdem sie Gewalt erfahren haben. Transfeminizide werden an keiner dieser Stellen dokumentiert.

Der Tatbestand Femizid ist im chilenischen Recht seit 2010 mit dem Gesetz 20.480 als Mord an Frauen durch den Ehemann oder Partner etabliert. Zehn Jahre lang kritisierten feministische Bewegungen, dass dies andere Gewaltkontexte als den familiären völlig ausblenden würde. Im März dieses Jahres fand dann mit dem Gesetz Gabriela eine Erweiterung statt: Seitdem beschreibt der Tatbestand Femizid alle Tötungsdelikte an Frauen, die aus Hass-, Verachtungs- oder Missbrauchsmotiven in Bezug auf das Geschlecht geschehen. Hierfür können Gefängnisstrafen von 15 Jahren und einem Tag bis lebenslänglich verhängt werden. So fortschrittlich die Rechtslage sich auch gestaltet: In weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft wird Gewalt an Frauen noch immer nicht klar verurteilt. Dazu zählt auch Präsident Sebastián Piñera: Als er das neue Gesetz vorstellte, betonte er ausdrücklich, dass es bei sexualisierter Gewalt nicht immer nur um den Willen von Männern ginge, sondern auch am Willen der Frauen, missbraucht zu werden. Organisationen wie das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen betonen daher, dass neben der entsprechenden Gesetzgebung auch in Sachen Aufklärungs- und Präventionsarbeit Fortschritte nötig seien. Denn die Zahl der Feminizide bleibt auch mit den neuen Gesetzen konstant.

Ein Fall, der die mangelnde Durchsetzung der bestehenden Gesetze offenbart, ist der von Ámbar Cornejo. Im August 2020 wurde die 16-Jährige von ihrem Stiefvater ermordet. Der Täter war erst 2016 aus dem Gefängnis freigekommen, wo er nach elf von 27 Haftjahren für den Feminizid an seiner damaligen Partnerin und deren Sohn frühzeitig entlassen worden war. Gegen ihn galt außerdem eine einstweilige Verfügung, sich von Ámbar fernzuhalten. Nach deren Tod sitzt er nun erneut in Untersuchungshaft. Auch seine Partnerin, Ámbar Cornejos Mutter, wurde Anfang Oktober in Untersuchungshaft genommen und wird beschuldigt, an der Tat beteiligt gewesen zu sein.

Die feministische Bewegung im Land gilt als stark und wachsend. Und sie hat mit den breiten gesellschaftlichen Protesten seit November 2019 neuen Aufwind erhalten. So brachte der Internationale Frauentag im März 2020 zwei Millionen Frauen und Queers auf die Straßen der Hauptstadt Santiago. Zu den wichtigsten feministischen Gruppen gehört die Coordinadora 8M mit ihren landesweiten und regionalen Gruppen. Dazu kommen unzählige feministische asambleas (Nachbarschaftsversammlungen) im ganzen Land. Gegen Gewalt an Frauen engagieren sich unter anderem der Verein feministischer Anwältinnen (ABOFEM) und das chilenische Netzwerk gegen Gewalt an Frauen. Einen symbolischen Erfolg konnte die feministische Bewegung im Oktober verbuchen: Der Senat verabschiedete einstimmig ein Gesetz, nach dem der 19. Dezember in Zukunft landesweiter Gedenktag gegen Femizide wird.

GEWALT UND GESETZ: BRASILIEN

Schluss mit der Diskriminierung! Für ein Leben ohne Lesbophobie (Illustration: Producciones y Milagros, @produccionesymilagros)

In der durch ein extrem ungleiches Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen geprägten brasilianischen Gesellschaft wurde die Unterdrückung von Frauen lange Zeit unsichtbar gemacht, naturalisiert und gesellschaftlich toleriert. Durchschnittlich wird in Brasilien alle sieben Stunden eine Frau Opfer eines Feminizids. Im internationalen Vergleich ist Brasilien somit weltweit eines der Länder mit der höchsten Feminizidrate und das Land mit den meisten Morden an trans Personen.

Am 9. März 2015 wurde in Brasilien das Gesetz Nr. 13.104 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Es bestimmt die Merkmale, die ein Tötungsdelikt zum Feminizid machen, wie folgt: häusliche und innerfamiliäre Gewalt, Verachtung oder Diskriminierung der Frau. Es stuft den Feminizid als eine niederträchtige Tat ein, was wiederum eine Erhöhung der Strafe zur Folge hat. Eine ebenfalls wichtige Folge des Gesetzes ist, dass durch die Typisierung von Feminiziden in der Gesetzgebung allgemein eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Art von Verbrechen gelenkt wird. Außerdem wird ein genaueres Verständnis seiner Dimension geschaffen, um eine Verbesserung der Politik zur Eindämmung von Gewalt gegen Frauen zu erreichen.

In Brasilien kommt es häufig zu Feminiziden, bei denen die Opfer von ihren Partnern oder Ex-Partnern im eigenen Zuhause ermordet werden. Diese Straftaten werden in der Gesellschaft, der Presse und sogar in der Justiz oft als isolierte Handlungen dargestellt, welche in unkontrollierten, intensiv emotionalen Momenten erfolgen würden. Zur Beschreibung der Morde finden sich in den Medien immer wieder Adjektive wie „eifersüchtig“, „unkontrolliert“ oder sogar „leidenschaftlich“, welche Feminizide als „Mord aus Liebe“ charakterisieren sollen. Die Typisierung solcher Verbrechen als Feminizid ist daher von großer Bedeutung. Denn auch häusliche und familiäre Gewalt ist kein privates, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in dem strukturellen Machismo wurzelt, der tief in der brasilianischen Gesellschaft verankert ist.

Das 2006 in Brasilien erlassene Gesetz Maria da Penha (Nr. 11.340) soll Frauen genau vor dieser Art von Gewalt schützen, indem es unter anderem Kontakt- und Zutrittsverbote für Gewalttäter und verschiedene Formen der Unterstützung fördert. Dazu gehören auch auf häusliche Gewalt spezialisierte Polizeiwachen und Gerichte sowie die Einrichtung von Frauenhäusern. Das Gesetz wurde nach Maria da Penha benannt, einer Frau, die selbst sechs Jahre lang von ihrem Ehemann brutal misshandelt wurde, der zwei Mordversuche an ihr verübte, die sie querschnittsgelähmt zurückließen. Der Prozess wurde von der brasilianischen Justiz 18 Jahre lang verschleppt. Doch Maria da Penha setzte sich beharrlich für ihre Rechte ein: Nach einem langen zähen Kampf konnte sie letztendlich erreichen, dass ihr Ex-Mann zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde.

GEWALT UND GESETZ: BOLIVIEN

Selbstbewusst und selbtbestimmt In einer Welt, die uns zur Scham erzieht, ist der Stolz eine politische Antwort (llustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Seit 2013, als Feminizid als juristisches Werkzeug in Bolivien eingeführt wurde, wurden 678 Frauenmorde offiziell registriert – es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die wahre Zahl weitaus höher liegt. Im Jahr 2019 gab es 117 Feminizide, 2018 waren es 128. Das Land steht damit im lateinamerikanischen Vergleich an fünfter Stelle.

Das Gesetz Nr. 348 aus dem Jahr 2013 definiert unter dem Titel Integrales Gesetz, um Frauen ein Leben ohne Gewalt zu garantieren, 16 verschiedene Formen von Gewalt an Frauen, darunter auch erstmals explizit Feminizid mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Gefängnis. Das Gesetz wurde als Meilenstein gefeiert. Es ist dem unermüdlichen Bemühen der bolivianischen Feminist*innen zu verdanken, dass das Gesetz nach sechsjähriger Debatte verabschiedet wurde und dass Gewalt an Frauen als solche definiert wird. Sowohl auf landesweiter als auch städtischer Ebene wurden spezifische Instanzen geschaffen, die im Kampf gegen die Gewalt an Frauen sowohl Prävention als auch Betreuung für Gewaltopfer bieten sollen.

Der Zugang zum Justizsystem ist jedoch sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum sehr schwierig. Von den 113.269 Strafanzeigen wegen Gewalt an Frauen, bei denen das Gesetz Nr. 348 zur Anwendung kam, und die in den Jahren 2015 bis 2018 registriert wurden, führten lediglich 1.284, also 1,13 Prozent zu einer Verurteilung des Straftäters. Die Straflosigkeit von mehr als 98 Prozent der Straftaten ist erschreckend.

Die Gesetzeslage ist zwar im internationalen Vergleich vorbildlich, ihre Umsetzung ist jedoch sehr kritikwürdig. Zahlreiche Studien belegen die Mängel sowohl auf individueller als auch systematischer Ebene. Die Interpretation der Fälle hängt von der persönlichen Einschätzung der Richter*innen, politischen und finanziellen Einflüssen, Sensibilisierung hinsichtlich der Problematik und vielen weiteren Faktoren ab.

Angesichts eines weit verbreiteten Misstrauens und der Korruption im Justizsystem ist die Orientierung und Unterstützung von Frau zu Frau ein wirksames Mittel, um aus einem gewalttätigen Umfeld auszubrechen. Eine wirksame Strategie des Widerstands ist der medienwirksame Einfluss feministischer Gruppen und Netzwerke, die vor allem das patriarchale Justizsystem anprangern, welches den Opfern den Zugang zu Gerechtigkeit systematisch verweigert. Frauenmorde sind lediglich die Spitze des Eisberges – die machistische Kultur und das patriarchale System durchdringen die bolivianische Gesellschaft bis in die Wurzeln. Dekolonisierung und Abschaffung des Patriarchats sind große Schlagwörter sowohl unter den feministischen Organisationen als auch in der politischen Debatte. Die Übergangsregierung erklärte 2020 als Jahr des Kampfes gegen die Gewalt an Frauen und Kindern, doch fehlt es von Seiten der Politik – egal welcher Partei, auch der nun wiedergewählten Bewegung zum Sozialismus (MAS) – an Substanz und echtem Kompromiss, um die feministische Agenda in die Tat umzusetzen.

GEWALT UND GESETZ: ARGENTINIEN

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardila

Im Jahr 2012 wurde der Femizid in Argentinien als erschwerender Straftatbestand zum Mord eingeführt, der die Haftstrafe auf lebenslänglich erhöht. Vor dem Gesetzesprojekt hatten einige gravierende Fälle Schlagzeilen gemacht. So auch der Mord an Wanda Taddei, die 2010 von ihrem Ehemann, dem damaligen Schlagzeuger der bekannten Band Callejeros, verbrannt wurde. In einem ersten Urteil wurde ihm wegen des Umstands der sogenannten emoción violenta („aufbrausendes Gemüt“) Strafmilderung zuteil, die aber in einem zweiten Verfahren aufgehoben wurde.

Unter anderem die Möglichkeit einer solchen Strafmilderung wurde nach der Gesetzesänderung von 2012 in Zusammenhang mit Femiziden gestrichen. Dennoch wurden die Täter in den ersten drei Jahren des Gesetzes nur in 6,3 Prozent der Fälle verurteilt. Schon zuvor hatte es Kritik an der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes 26.485 zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2009 gegeben: So fehlten Gelder und Frauenhäuser, die Abstimmung der verantwortlichen Behörden zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen für Betroffene sexualisierter Gewalt funktionierte nur unzureichend.

Da es bis dato keine öffentlichen Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden gab, wurden diese ab 2008 von nichtstaatlichen Organisationen wie La Casa del Encuentro erhoben. Angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Frauen entstand die feministische Bewegung Ni Una Menos und organisierte am 3. Juni 2015 die ersten Massendemonstrationen in verschiedenen Städten. Seitdem haben sich auf der ganzen Welt Ableger der Bewegung gebildet. In Argentinien erreichten die Proteste unter anderem, dass der Oberste Gerichtshof öffentliche Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden anlegt. Für das Jahr 2019 zählte dieser 327 Fälle – fast alle 27 Stunden wurde eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Es wird angenommen, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt, da nicht alle Femizide rechtlich auch als solche klassifiziert werden.

Nachdem im Jahr 2016 drei Männer die 16-Jährige Lucía Pérez zu Tode vergewaltigten, wurde zum ersten Mal zu einem landesweiten Frauenstreik aufgerufen, der sich nun als Instrument des feministischen Widerstands etabliert hat. Dass die Angeklagten im Fall Lucía in einem Urteil von 2018 voller stereotyper machistischer Vorurteile von der Anklage des Femizids freigesprochen wurden, hat die patriarchalen Strukturen des Justizsystems einmal mehr offenbart. Die mediale Empörung auf das Urteil führte auch zur ausstehenden Verabschiedung des Gesetzes Micaela, das verpflichtende Schulungen für Staatsangestellte auf allen Ebenen vorsieht, um diese in Sachen Gender und geschlechtsspezifischer Gewalt zu sensibilisieren. Der Freispruch im Fall Lucía wurde auf den Druck der Bewegung im August 2020 revidiert, der Fall wird nun neu aufgerollt.

„DIE GEWALT IST ÜBERALL“

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CARLOS GONZÁLEZ GARCÍA
ist Anwalt und gehört der Koordinierungskommission des CNI an. Er ist seit der Gründung des Kongresses im Jahr 1996 durch die inzwischen verstorbene Comandanta Ramona der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in der landesweiten Struktur organisiert.(Foto: Heriberto Paredes)


Jede Woche beklagen indigene Gemeinden, die im CNI organisiert sind, Angriffe und Attacken. Woher kommt diese Gewalt?
Die andauernde Gewalt hat mit dem Raub und der Plünderung zu tun. Nationale und transnationale Unternehmen sind an den Rohstoffvorkommen in den indigenen Territorien interessiert. Raub und Plünderung verstehen wir als Vorgehen, die zur Zerstörung, Vertreibung und Auflösung unserer Strukturen führen, um unsere Territorien neu zu besetzen. Wir verstehen das als kontinuierlichen Krieg, der gegen unsere Gemeinden geführt wird.

Was Sie beschreiben, ist gewaltvoll und kriminell. Müssen Unternehmen nicht gesetzeskonform handeln?
In vielen Fällen beobachten wir, dass sich die kriminellen Interessen der Kartelle mit denen der Unternehmen überschneiden: entweder durch direkte Verbindungen oder ein zufälliges Überlappen der Interessen, die wiederum mit denen unterschiedlicher Regierungsebenen verbunden sind.

Was heißt das konkret?
Konkret geht es um die polizeilichen und militärischen Strukturen, die sich am Vorgehen der Kartelle beteiligen. Sei es direkt oder weil sie deren Agieren nicht unterbinden. Am deutlichsten ist der Fall Ostula, eine kleine indigene Gemeinde an der Pazifikküste des Bundesstaates Michoacán. Dort entbrannte ein Kampf um das Territorium mit der Firma Ternium, eine der größten Eisenfirmen der Welt (siehe LN 543/544). Das Kartell der Tempelritter konnte dort seine Präsenz just in dem Moment verfestigen, als die Marine sich entlang der Küste neu aufstellte. Mit der Neupositionierung wuchs auch die logistische und militärische Kapazität der Kriminellen. Ein anderes Beispiel ist der Bundesstaat Morelos. Die alte und aktuelle Regierung haben wesentlich dazu beigetragen, dass dort das Proyecto Integral Morelos (ein Megaprojekt zur Energieerzeugung durch Erdgas, das regionalen bäuerlichen und indigenen Widerstand hervorgerufen hat, Anm. d. Red.) umgesetzt werden konnte. Mit dem Projekt erstarkte auch das organisierte Verbrechen. Es muss nicht zwangsläufig ein gemeinsames Handeln oder Absprachen zwischen Kartellen und Regierung gegeben haben, aber wir sehen sehr wohl eine Gleichzeitigkeit.

Im Februar 2019 wurde Samir Flores Soberanes, CNI-Mitglied und zentrale Figur einer regionalen Protestbewegung gegen das Proyecto Integral Morelos, erschossen…
Samir war Gründer und Teil des lokalen indigenen Radiosenders. Ich kannte ihn persönlich. Er war einer, der motivieren konnte. Wir wissen nicht, wer ihn ermordet hat. Wir wissen aber sehr wohl, dass er wegen seines Kampfes erschossen wurde. Nach seiner Ermordung ging der Widerstand weiter. Der Kampf ist immer der einer ganzen Gemeinde. Selbstverständlich haben einzelne Personen ein Gewicht, aber die Gemeinde und das Kollektiv gehen vor. Es gibt Angst und Verunsicherung, aber der Kampf geht weiter.

Inzwischen wurde die Verfassung geändert und die umstrittene Nationalgarde geschaffen (siehe LN 539). Spielt der neue Militärkörper bei den genannten Projekten eine Rolle?
Bis jetzt sehen wir keine Bestätigung dafür, dass die Nationalgarde direkt an der Umsetzung der Projekte beteiligt war. Aber sie ist genau dort am stärksten präsent, wo das Interesse an Megaprojekten wie dem Abbau von Gas und Erdöl oder dem Ausbau von Infrastruktur am größten ist. Anders ist es im Bundesstaat Chiapas, wo sich die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) befindet. Das Problem der organisierten Kriminalität ist dort sekundär und dennoch sind in Chiapas die meisten Soldaten der Nationalgarde stationiert. Ein Beleg dafür, dass das Militär eingesetzt wird, um Großprojekte auf Biegen und Brechen durchzuführen.

Warum schafft es die Regierung nicht, die Attacken gegen indigene Gemeinden zu beenden?
Die Gewalt richtet sich nicht allein gegen Indigene. Sie ist überall. In ländlichen Gebieten, in der Stadt, in allen Regionen. Die Situation ist außer Kontrolle. Die Regierung ist nicht in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten. Sowohl das Militär als auch die Justiz sind aufs tiefste von der organisierten Kriminalität durchdrungen.

Der CNI hat sich vor über drei Jahren dagegen entschieden, sich der heutigen Regierungspartei MORENA anzuschließen, wie es die EZLN vorgeschlagen hatte. War das ein Fehler?
Der CNI folgt keiner Parteilinie. Er ist ein Ort der indigenen Gemeinschaften, in dem verschiedene Meinungen Platz haben, sogar die von parteinahen Personen. Es gibt aber Prinzipien, die uns von Parteien fernhalten. Es wäre nicht schlüssig gewesen, wegen temporären Gemeinsamkeiten Wahlallianzen zu schließen. Die Bündnisse, die López Obrador für den Wahlsieg eingegangen ist, sehen wir sehr kritisch, etwa den Pakt mit der evangelikalen Partei der Sozialen Begegnung (PES). Genauso kritisieren wir weite Teile des Regierungsprogramms, zum Beispiel die Megaprojekte oder die Energiepolitik.

Wie wird die Antwort des CNI auf die Angriffe ausfallen?
Die Angriffe werden weitergehen, denn das Problem ist global. Der Kapitalismus reproduziert sich über Kriege, der Krieg gegen die kurdische Bewegung ist ein Beispiel dafür. Es liegt nicht in der Macht der Regierungen oder Nationalstaaten, die Gewalt zu stoppen, denn es sind die Unternehmen, die die globale Wirtschaft kontrollieren. Uns bleibt nichts übrig, als unseren Weg zu gehen, Autonomien auszubauen und neue kulturelle und ökonomische Räume zu schaffen, die mit Organisationen verknüpft sind, die gegen den Kapitalismus kämpfen.

NOCH LANGE NICHT VORBEI

Nicht lang gefackelt Die verfassungsgebende Versammlung wird mit Nachdruck gefordert Foto: Diego Reyes Vielma

Wie jeden Freitag versammeln sich die Menschen auch am 17. Januar wieder am von ihnen umbenannten „Platz der Würde“ im Zentrum von Santiago. Diesmal aber, am Tag vor dem vierteljährigen Bestehen der Proteste, füllt sich der Platz schneller als in den vorangegangenen Wochen. Unter tosendem Jubel zieht die reparierte, riesige schwarze Pappfigur des Hundes Matapacos, langjähriges Symbol der Proteste gegen das neoliberale System in Chile, durch die Menge zurück auf ihren ursprünglichen Platz – eine Woche zuvor hatten Unbekannte die Figur dort wieder einmal beschädigt. Tausende Demonstrierende verfolgen Livemusik – ein Rage Against The Machine-Protestcover der Band Arauco Rock – und die Tanzperformance des feministischen Kollektivs Capuchas Salvajes. Nachrichten über Demonstrationen in anderen Städten des Landes wie Concepción und Antofagasta machen die Runde. „Ich bin zur Demo gekommen, weil ich all das, was im Land passiert, unterstützen möchte“, erzählt die gerade einmal 12-jährige Matilde.

Seit drei Monaten versammeln sich jüngere wie ältere Menschen zu Demonstrationen, klopfen auf ihre Töpfe, tanzen, machen Musik, rufen und schwenken ihre Forderungen nach tiefgreifendem Wandel auf riesigen Transparenten durch die Städte. Ihre Forderungen sind seit dem sogenannten estallido social, dem „gesellschaftlichen Knall“ Mitte Oktober (siehe LN 546) präsent. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen in Santiago. Jeden Freitag ist auch die primera línea („erste Reihe“) da, schützt die Demonstration so gut wie möglich vor der Repression der Carabineros und setzt sich dabei Wasserwerfern, (Tränen-) Gas, Gummigeschossen, Tritten und Schlägen aus.

Während sich die Proteste seit einigen Wochen vor allem in Santiago abspielten, sorgten die Schüler*innen Anfang des Jahres für ein neues landesweites Anfachen der Proteste: In 160 Schulen boykottierten sie die Zulassungstests für die Universitäten (kurz PSU), besetzten Schulen, blockierten die Eingänge mit Demonstrationen, verbreiteten Fotos der Prüfungspapiere über soziale Netzwerke oder stellten ihre Klassenzimmer während der Prüfungen auf den Kopf. Am 6. und 7. Januar hätten 300.000 Schüler*innen die Tests ablegen sollen. Diese sind umstritten, weil sie, so die Begründung der Koordinierenden Versammlung der Sekundarschüler*innen (ACES), die bestehenden Ungerechtigkeiten des chilenischen Bildungssystems noch verschärfen: Wessen Familie Geld hat und sich die entsprechende Schulbildung leisten kann, besteht und kann studieren; wer dagegen eine öffentliche Schule besucht, meist nicht. ACES ruft auch für die Wiederholungstermine der PSU Ende Januar zu Demonstrationen auf und fordert von der Regierung die Entwicklung einer Ersatzlösung, die sich den Dynamiken des privatisierten Bildungssystems entgegenstellt. Solche Forderungen werden von Regierungsseite bislang mit Anklagen gegen die Schüler*innen beantwortet. Myrna Villegas, Anwältin und Professorin für Strafrecht an der Universidad de Chile, zeigt sich insbesondere über die „Kriminalisierung von Jugendlichen, die die Durchführung der PSU unterbrochen oder blockiert haben, durch die Anwendung des Gesetzes über die Sicherheit des Staates“ besorgt – ein Gesetz, dessen Strafmaße in Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet maßgeblich verschärft worden sind.

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Polizei hatte sich im Umgang mit den teils noch minderjährigen Schüler*innen ähnlich brutal gezeigt wie mit dem Rest der Protestierenden im Land. Auch den Demonstrationen an den Schulen trat sie mit Schlagstöcken, Tränengaskartuschen und Wasserwerfern entgegen. In den Tagen der PSU erregte außerdem ein Video landesweit Aufmerksamkeit. Es zeigt, wie ein Schüler bei einer Demonstration in Santiagos Stadtteil Pudahuel von einer Polizeistreife überfahren wird. Das Chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) stellte eine Strafanzeige gegen Angehörige des 55. Polizeikommissariats. In Pudahuel protestierten auch noch Tage später Anwohner*innen, die Carabineros antworteten mit dem übermäßigen Einsatz von Tränen- und weiteren Gasen in Wohnvierteln. „Die Gassen hier sind so eng, dass das Gas nicht abzieht. […] Ich habe einen 28-jährigen Nachbarn, der ständig mit Sauerstoff versorgt werden muss und sein ganzes Leben schon darunter leidet. Er und seine Mutter haben sehr gelitten und hatten Angst, zu ersticken. Eine andere Nachbarin hat ein dreimonatiges Baby zu Hause. Sie musste für einige Zeit in einen anderen Stadtteil ziehen, weil man hier nicht mehr atmen kann“, schildert die Anwohnerin Anaís Labarca (22) die Situation gegenüber der Zeitung El Desconcierto.

Das Maß der Gewalt, das die Carabineros zur Unterdrückung der Proteste anwenden, hat auch trotz internationaler Aufmerksamkeit und Kritik von Menschenrechtsorganisationen (siehe LN 547) nicht abgenommen. Ende Dezember bewiesen Untersuchungen der Berufsvereinigungen der Ärzt*innen und pharmazeutischen Chemiker*innen sowie der Bewegung Gesundheit im Widerstand (MSR) Ätznatron sowie unzulässige Mengen von Pfefferspray im gelb gefärbten Wasser eines Wasserwerfers.Dani Paredes, 35-jähriger Einzelhändler aus Santiago, drückte es gegenüber der Zeitung El Comercio so aus: „Dieser Tage ist die Repression furchtbar. Die Menge an Chemikalien, die sie benutzen, um uns zu schaden ist enorm.“ 253 Menschen seien laut einer Veröffentlichung des Chilenischen Menschenrechtsinstituts (INDH) zwischen Mitte Oktober und Mitte Januar allein durch Tränengas verletzt worden, hinzu kommen Verletzungen durch weitere Gase (siehe LN 547) sowie die Chemikalien in den Wasserwerfern.

Das INDH berichtet außerdem von mehr als 2.000 Menschen, die von Geschossen der Carabineros getroffen worden sind. Die Dunkelziffer mag allerdings deutlich höher liegen, denn manche Demonstrierende haben jegliches Vertrauen in die Institutionen und somit auch in die Krankenhäuser verloren. Über 400 Personen haben durch die sogenannten Gummigeschosse Verletzungen an den Augen erlitten. In 1.445 Fällen berichtet das Institut von Menschenrechtsverletzungen in Polizeirevieren, darunter fast 200 Fälle sexualisierter Gewalt, über 400 Fälle von Folter und über 800 von exzessiver Gewaltanwendung gegenüber Gefangengenommenen. In 1.080 Fällen hat das Menschenrechtsinstitut rechtliche Schritte eingeleitet und Anzeige erstattet: die meisten wegen Folter und exzessiven Gewalteinsatzes, aber auch 17 wegen versuchten Mordes und fünf wegen Mordes. Bei solchen Zahlen ist es kaum verwunderlich, wenn Menschen aus Angst zu Hause bleiben und die Demonstrationen nicht mehr die gleiche Kraft haben wie Mitte Oktober.

Foto: Diego Reyes Vielma

Foto: Diego Reyes Vielma

Demonstrierende beobachten immer wieder heftige Fälle von Polizeigewalt: Zahlreiche Videos dokumentieren, wie ein jugendlicher Demonstrant am 21. Dezember auf der Plaza de la Dignidad aus voller Fahrt zwischen zwei zorrillos, den gepanzerten Fahrzeugen der Carabineros, eingequetscht wurde. Einige Stunden zuvor hatte der Bürgermeister von Santiago, Felipe Guevara von der rechtskonservativen Partei Renovación Nacional, ein Nulltoleranzvorgehen gegen ungenehmigte Demonstrationen angekündigt. „Nur durch ein Wunder ist er noch am Leben! Diese Barbarei […] muss aufhören!“, twitterte Marta Cortez, die Mutter des Jugendlichen, der einen Beckenbruch erlitt. Neben internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte haben auch mehrere europäische Abgeordnete inzwischen die Gewalt der Carabineros kritisiert. In einer mündlichen Anfrage an die Bundesregierung kritisiert die Abgeordnete der Linksfraktion Heike Hänsel insbesondere die Zusammenarbeit der deutschen Polizei mit den Carabineros: Seit Dezember sind deutsche Polizist*innen auf Anfrage der chilenischen Regierung zu Aus- und Fortbildungszwecken in Chile.

Obwohl internationale wie landesweite Medien die Proteste und das Ausmaß der Repression im Allgemeinen herunterspielen, schwindet die Unzufriedenheit der Menschen nicht. Laut Umfragen von Pulso Ciudadano befürworten nur 4,6 Prozent der Bevölkerung die Arbeit der Regierung. Im jüngsten Bericht des Zentrums für Öffentliche Studien (CEP), eine von chilenischen Medien vielzitierte Institution, kommt die Regierung Piñera auf gerade einmal sechs Prozent Zustimmung – ein historisches Tief seit der Rückkehr zur Demokratie. Außerdem fühlen sich immer weniger Menschen überhaupt von den politischen Parteien repräsentiert: Nur noch ein Siebtel der Befragten gab an, sich mit einer Partei identifizieren zu können.

Die Versammlungsfreiheit wird durch neue Gesetze eingeschränkt

Die Unzufriedenheit mag auch an den jüngsten Gesetzesvorhaben der Regierung liegen. Am 13. Januar hat sie mit Unterstützung der Oppositionsparteien Partido por la Democracia, der christdemokratischen DC sowie der sozialistischen PS das sogenannte Anti-Plünderungs- und Barrikadengesetz verabschiedet, welches Gefängnisstrafen von bis zu eineinhalb Jahren für Blockaden des Straßenverkehrs, Barrikadenbau, das Werfen von Steinen und weiteren Vergehen sowie Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für Plünderungen vorsieht. Jan Jarab vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisierte, das Gesetz mache die allgemein geltende Versammlungsfreiheit „zu einem Privileg“ und verstoße deswegen nicht nur gegen die chilenische Verfassung, sondern auch gegen internationales Recht.

Präsident Piñera verfolgt mit derartigen Vorstößen weiterhin den Diskurs von Recht, Ordnung und sozialem Frieden, versucht, die Protestierenden gegeneinander auszuspielen und mit scheinbaren Zugeständnissen wie den jüngst angekündigten Gesundheits- und Rentenreformen zu beschwichtigen.Durch eine angekündigte Reform der staatlichen Gesundheitskasse Fonasa sollen die für eine Reihe von Diagnosen garantierten maximalen Wartezeiten nun für alle Behandlungen gelten, zudem sollen die Preise für Medikamente sinken. Die Finanzierung der Reform und damit die Ernsthaftigkeit der Vorschläge sind aber unklar, zudem soll das System der privaten Krankenversicherungen nicht angetastet werden.
Auf dem Gebiet der Rentenpolitik soll es einen strukturellen Wandel geben, angekündigt sind Anhebungen der Renten für Männer um 20 Prozent, die der Frauen um 32 Prozent. Gleichzeitig sollen die Rentenbeiträge für Arbeitnehmer*innen um sechs Prozent steigen, die fortan von einer neu geschaffenen Institution verwaltet werden und je zur Hälfte an die Beitragszahlenden und einen kollektiven Rentenfond gehen sollen. Damit würde das bisherige, von der Protestbewegung kritisierte AFP-Modell zumindest angerührt, die parlamentarische Opposition bezweifelt jedoch eine grundsätzliche Veränderung des Rentensystems durch die Reform.

Dass es der Protestbewegung aber genau um diese grundsätzlichen Veränderungen geht, hat Mitte Dezember die Bürger*innenbefragung bewiesen: Zweieinhalb Millionen Menschen hatten abgestimmt, 92 Prozent von ihnen sprachen sich dabei deutlich für eine neue Verfassung aus. Fast drei Viertel stimmten außerdem für eine verfassungsgebende Versammlung bestehend aus eigens dafür gewählten Bürger*innen.

Auf parlamentarischer Ebene hat das Abgeordnetenhaus Mitte Januar wesentliche Aspekte des verfassungsgebenden Prozesses wie die Geschlechterparität, Listen für Unabhängige sowie für Indigene reservierte Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. Am 21. Januar wurden diese Aspekte auch vom Senat angenommen – einstimmig. Wie die Geschlechterparität und die Mitbestimmung von Unabhängigen sowie Indigenen erreicht werden kann, wird im Detail aber erst in den kommenden Wochen zwischen den Kammern ausgehandelt werden. Darüber dürfte es in den Parteien zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen geben.

Viele Befürchtungen der Protestbewegung haben sich also bestätigt: Während ihre Versammlungsfreiheit durch neue Gesetze immer weiter eingeschränkt wird und sich wegen der massiven Polizeigewalt immer weniger Menschen überhaupt auf die Straße trauen, werden ihre Forderungen von der Regierung – wenn überhaupt – nur symbolpolitisch behandelt. Nach drei Monaten des Protests und der brutalen Repression verlieren mehr und mehr Menschen das Vertrauen in die politischen Parteien, die der Regierung ebenso wie die der Opposition. Dass echter Wandel nur durch eine neue Verfassung zu erreichen ist, darin ist sich der Großteil der Menschen in Chile einig. Die langsamen Fortschritte der Politik in der Aushandlung des verfassungsgebenden Prozesses machen nur wenig Hoffnung, zeigen aber vor allem, dass die Protestierenden weiter ausharren und ihren Forderungen nach einem grundlegenden Wandel Ausdruck verleihen müssen. Nicht nur bis zum Referendum am 26. April, das der aktuellen CEP-Umfrage zufolge eine große Mehrheitvon 67 Prozent für eine neue Verfassung ergeben wird, sondern gerade auch, wenn aller Voraussicht nach im Oktober die Verfassungsversammlung zusammentritt und für alle Beschlüsse eine 2/3-Mehrheit nötig sein wird, was den rechten Parteien Möglichkeiten zur Blockade eröffnet.

„DER VERGEWALTIGER BIST DU!“


Foto: Germán Andrés Rojo Arce

Worum geht es bei eurer aktuellen Performance?
Paula Cometa:
„Un violador en tu camino“ ist unsere zweite Performance, basierend auf Thesen der argentinischen Feministin Rita Segato, die auf die Verantwortung staatlicher Institutionen an der systematischen Verletzung der Rechte von Frauen und Minderheiten aufmerksam machen. Eigentlich ist das ganze Teil einer längeren Intervention, deren Erstaufführung aber der aktuellen Proteste wegen verschoben werden musste. Vor gut drei Wochen baten uns die Organisatoren von fuego barricadas, acciones en cemento (kreative Protestaktionen im Format einer Straßensperre in Valparaiso, Anm. der Redaktion) um einen kurzen Beitrag.

Daffne Valdés: Daraufhin haben wir unsere aktuelle Arbeit auf den Punkt gebracht, Frauen und Minderheiten eingeladen, mitzuwirken und den Text an die derzeitigen Verhältnisse angepasst. Deshalb enthält der aktuelle Text ein Zitat der Hymne der Polizei, in dem sie schwören, den seligen Schlaf des unschuldigen Mädchens zu beschützen, und das im Angesicht der sexualisierten Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen der letzten Wochen zynisch anmutet.

Eure Performance wurde inzwischen von Feministinnen auf allen fünf Kontinenten interpretiert, täglich machen neue Videos die Runde. Was gibt euch das für ein Gefühl?
Daffne:
Wir sind vollkommen überrascht und überwältigt. Aber klar, es macht auch Sinn, denn auf der ganzen Welt gibt es Frauen, die sich mit der Botschaft identifizieren. Es betrifft uns alle auf irgendeine Art und Weise und zeigt, dass unabhängig von den nationalen Grenzen in vielen Ländern die Rechte der Frauen nicht institutionell garantiert werden.

Paula: Es ist die Angst vor der Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, die überall existiert. In all den Ländern, in denen die Performance interpretiert wurde, haben die Nationalstaaten bestimmte Herrschaftsformen, staatliche Akteure und Institutionen, die die Unterdrückung festigen. Gleichzeitig war auch der Sinn, dass die Performance nicht nur nachgeahmt, sondern interpretiert und an den jeweiligen Kontext angepasst werden sollte. Das ist absolut gelungen und stellt eine große Bereicherung unserer Arbeit dar.

Valparaiso hat zwar viele Ausbildungsangebote für Künstler*innen, aber wenig Aufführungsorte. Wie geht ihr damit um?
Daffne:
Um mit unserer Botschaft ein möglichst breites Publikum zu erreichen, konzipieren wir unsere Stücke interdisziplinär, damit wir sie an verschiedene Orte und Gegebenheiten anpassen können. Dann führen wir sie dort auf, wo wir eingeladen werden, und manchmal laden wir uns auch selbst ein. Das kann auf Partys sein, auf der Strasse, auf Märkten, auf Konferenzen, die sich thematisch anschließen. Unser erstes Stück, das auf Thesen Silvia Federicis (marxistisch-feministische Theoretikerin, Anm. d. Red.) beruht, hatte letztes Jahr seine Uraufführung beim Theaterfestival der Frauen hier in Valparaiso.

„Un violador en tu camino” Performance von LasTesis in Antofagasta (Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Die aktuellen Proteste sind vom Protagonismus der Jugend und v.a. der jungen Frauen geprägt. Welche Rolle spielt die feministische Bewegung in den Protesten?
Daffne: Die Forderungen, die momentan auftauchen, haben viel mit den Forderungen der feministischen Bewegung zu tun. Bei der Protestwelle letztes Jahr im Mai wurden sie bereits auf den Tisch gebracht und auch in den Vorjahren.

Paula: Die aktuelle Krise basiert auf dem patriarchalen und kapitalistischen System, hier in Chile auf den Auswirkungen des Neoliberalismus. Genau diese Strukturen kritisiert der Feminismus. Bis zu unserer Performance schien die feministische Bewegung zu schlafen, aber das ist ein Trugschluss. Der Feminismus schließt lückenlos an die Forderungen der aktuellen Proteste an. Deshalb ist es auch ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten und die nach einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus zielt auf einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens ab. Auf einen Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen, darauf, wie wir uns als soziale Wesen zueinander in Beziehung setzen, und auch auf die Herrschaft des Staates über unsere Körper:

Wie schätzt ihr die Bedeutung der Kunst für die aktuellen Proteste ein?
Paula:
Die Künste erlauben es dir, auf kreative Art und Weise eine Botschaft kundzutun. Diese Botschaft kann erhört werden oder nicht, kann vom Publikum angeeignet werden, so wie es in diesem Fall geschehen ist. In Krisenzeiten gibt es viel mehr Raum und Aufmerksamkeit für solche kreativen Botschaften. Deshalb ist die Rolle der verschiedenen Künste in solchen Momenten grundlegend.

Daffne: Derzeit denke ich, dass die Kunst, die kreativen Protestformen, uns dabei helfen, uns nicht so allein zu fühlen. Viele Frauen haben sich durch die Performance ermutigt gefühlt, Missbrauch und Gewalt gegen sie anzuzeigen. Denn auf eine bestimmte Art und Weise haben sie erkannt, dass die Gewalt viele betrifft, vielleicht sogar uns alle. Sie haben das Gefühl bekommen, sich auf dieses Kollektiv stützen zu können, dass es uns Schutz gibt und dass wir zusammenhalten.

Paula: Alle, die sich keiner Partei zugehörig fühlen, aber trotzdem organisiert sind und protestieren, Künstler, Musiker und natürlich viele andere Menschen, sind Teil dieses Kollektivs. Zusammen stellen wir vieles auf die Beine.

Was kann die feministische Theorie und Praxis zu den Lösungen der aktuellen sozialpolitischen Krise beitragen?
Paula:
Der Feminismus kann einen konkreten Beitrag zur Überwindung der alltäglichen Gewalt leisten, zur Entmystifizierung des Vergewaltigers. Feminismus hilft, die alltägliche Gewalt gegen die Körper, die Subjekte, die Kinder zu erkennen. Der Staat verbietet es uns, abzutreiben, über unsere eigenen Körper zu entscheiden. Durch die feministische Analyse können wir die Unterdrückung durch bestimmte Strukturen und Institutionen erkennen und bestenfalls überwinden, denn diese Institutionen lassen uns nicht leben. Der Feminismus öffnet den Menschen die Augen, um diese Realitäten zu sehen, wahrzunehmen. Realitäten, die durch patriarchale Strukturen geschützt und versteckt sind.

Und was bringt sie im Hinblick auf eine mögliche neue Verfassung?
Paula:
Der Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung der Frauen, der Arbeitskraft, der Sexualität und der Reproduktion. Dieses System ist nicht mehr tragbar, definiert aber die staatliche Politik. In der Bildung brauchen wir beispielsweise sexuelle Früherziehung, die nicht sexistisch geprägt ist und für LGBTI sensibilisiert. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir Parität, gerechte Gehälter und Renten. Im Gesundheitsbereich müsste über Gewalt während der Schwangerschaft und der Geburt aufgeklärt und selbige verhindert werden. Insgesamt ist es eine Bandbreite an Bereichen, in denen das feministische Gedankengut Wurzeln schlagen sollte. Das macht den Männern, den Regierungen, Angst. Bei der Diskussion um eine neue Verfassung haben wir große Schritte vor uns.

DIE BEWEGUNG DER FRAUEN

(Foto: Robert Swoboda)

MARCELA TURATI ist unabhängige Journalistin und beschäftigt sich seit langem intensiv mit Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Einzelne und die mexikanische Gesellschaft. Sie ist Mitgründerin des Netzwerkes Periodistas de a Pie (Journalisten auf den Beinen), einer Organisation welche die Qualitätsverbesserung des Journalismus in Mexiko zum Ziel hat. Für ihre Arbeit wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Auf der Internetseite www.adondevanlosdesaparecidos.org gibt es eine interaktive Karte zu Fundorten von Verschwundenen, welche Frau Turati auf der Konferenz vorstellte.


Seit über einem Jahrzehnt berichten Sie über das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko, dabei betonen Sie die besondere Rolle von Frauen bei der Suche nach ihren Angehörigen. Was sind Ihre Erfahrungen als Journalistin?
Als ich im Jahr 2008 anfing mich mit der Gewalt in Mexiko zu beschäftigen, fiel mir auf, dass es immer Frauen waren, die sich organisierten, die auf die Straße gingen für die Ermordeten und heute auch für die 40.180 Verschwundenen. Wir Journalistinnen sind heute ebenfalls organisiert. Die Männer sind eingeladen, machen aber nicht mit oder sind in traditionellen Organisationen engagiert. In den neuen Kollektiven sind vor allem Frauen. Wir arbeiten zusammen mit Anthropologinnen, Psychologinnen, Anwältinnen und begleiten die Kollektive von Müttern auf der Suche nach ihren Angehörigen, wenn sie demonstrieren, Veranstaltungen organisieren oder wenn sie versuchen Gesetze zu ändern und die UNO oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Überall sind es Frauen. Für mich war das sehr beeindruckend, ich war bis dahin überhaupt keine Feministin.

Warum nehmen die Männer nicht teil?
Es gibt Männer. Als sich die Bewegung das erste Mal zeigte, war an der Spitze ein Mann, der Dichter Javier Sicilia (im Jahr 2011, Anm. d. Red.). Er hat einige weibliche Attribute. Es gibt auch ein paar Ausnahmen, aber die Frauen sind beständig da und organisieren sich.
Doch wir stellen uns die gleiche Frage. Was ich oft gehört und gesehen habe, ist, dass der Mann sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, damit die teure Suche nach Verschwundenen finanziert werden kann. Er geht zur Arbeit und unterstützt sie damit. Für viele Frauen ist die Suche selbst zur Arbeit geworden. Ein anderer Zusammenhang ist der, dass Männer insgesamt häufiger Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen und Morden sind. Eine Mutter kann einem Auftragsmörder gegenüber treten oder um Erlaubnis bitten ein Gebiet zu betreten ohne derartiges zu provozieren. Mit der Anwesenheit eines Mannes stellt sich dagegen die Frage, wer die Kontrolle hat. Bei den regelmäßigen Treffen der Bewegungen gibt es eine sehr weibliche Dynamik, es wird auch geweint, dieser Teil fällt den Männern sehr schwer. Auf die ein oder andere Art nehmen sie also teil, aber nicht bei der regelmäßigen kollektiven Organisierung.

Wie schaut die mexikanische Gesellschaft auf die Frauenkollektive, welche nach ihren Angehörigen suchen?
Teil der Gewalt ist eine Stigmatisierung. Ob Mord oder Verschwindenlassen, ob Journalist oder wer auch immer, wenn sie dich umbringen oder dich verschwinden lassen, dann weil du etwas gemacht hast. Das ist es, was die Menschen glauben wollen und was die Regierung unterstützt: Die Bösen morden nur untereinander, also macht euch keine Sorgen.
Klar begann man zu sehen, dass es so nicht ist. Bei vielen Opfern ist das „Warum?“ ungeklärt. Und es gibt keine Justiz, die diese Frage stellt. Die Straflosigkeit in Mexiko liegt bei 98 Prozent, die Verbrechen werden von niemandem aufgeklärt. Deshalb hat das Narrativ auch lange funktioniert, bis heute. Obwohl es so viele Verschwundene gibt und es sehr wahrscheinlich ist, dass du jemanden davon kennst. Die Menschen beginnen zu sehen, dass das jedem passieren kann. Sie können dich verschwinden lassen für das Tragen eines Tattoos, weil sie denken du bist in einem Kartell. Das kann passieren, wenn jemand in einer anderen Region unterwegs ist, zum Beispiel in Sinaloa aber aus Michoacán stammt und dann angenommen wird, dass derjenige vom dortigen Kartell ist. Oder wenn eine Gruppe von Männern, Migranten oder Touristen mit einem gemieteten Truck unterwegs ist, die dann verdächtigt wird, zu einem verfeindeten Kartell zu gehören. Das haben wir sehr viel erlebt, bei Studenten oder Bauern und anderen. Es gibt also viele Möglichkeiten, dass etwas passiert. Jeder kann verschwinden.
Ich sehe, dass es Menschen gibt die darauf reagieren. Und ich würde gerne sagen, dass die mexikanische Gesellschaft sich dessen bewusst ist. Aber ich glaube es nicht. Es scheint eine gefährliche Normalisierung einzutreten. Wir erleben ständig diese Momente des Horrors und mir scheint, die Menschen sind jedes Mal etwas mehr daran gewöhnt: ‘Das passiert nun mal in Mexiko, es ist außer Kontrolle’. Ich sehe die Solidarität nicht, dass Menschen die Mütter auf der Suche nach ihren Verschwundenen unterstützen, mit ihnen auf die Straße gehen.

Im Jahr 2011 gab es die große Bewegung mit Javier Sicilia.
Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Als die Menschen das erste Mal im Fernsehen davon erfuhren und sahen, dass Präsident Calderón sich mit der Bewegung traf, wurde ihnen bewusst dass es überhaupt Verschwundene gibt. Mit Ayotzinapa (43 im Jahr 2014 verschwundene Student*innen, Anm. d. Red.) wurden sie wieder daran erinnert, weil die Bewegung sehr stark war. Es scheint mir aber, dass dies nicht zu den Prioritäten der Leute gehört.
Ähnlich ist es mit den ermordeten Journalisten. Diejenigen, die sich der Rolle des Journalismus bewusst sind, sorgen sich. Die Mehrheit ist jedoch weder solidarisch noch denkt sie darüber nach, es wird zur Normalität.

Welche Maßnahmen ergreifen Journalist*innen um sich zu schützen?
Das kommt darauf an, in welcher Region du arbeitest und was du recherchierst. Einige Dinge haben sich geändert, zum Beispiel wie wir an die Informationen der Polizei kommen. Früher sind wir zum Tatort gefahren, haben uns einfach Notizen gemacht und mit der Polizei gesprochen. In den Regionen wo es heute gefährlich ist, geht niemand mehr allein zum Tatort. Es gibt ein Netzwerk von Beobachtern, die darauf achten, dass alle zusammen rein und wieder raus gehen. Manchmal kann die Nachricht nicht veröffentlicht werden, weil Anrufer ihnen das sagen oder die Journalisten das so einschätzen. Für manche Zonen erstellen wir Sicherheitsprotokolle, eins ist dafür da, sich in regelmäßigen Zeitabständen zu melden, bleibt der Anruf aus, wird nach der Person gesucht. Es gibt vieles. Wir informieren uns über die neuesten Apps und so weiter.

Gibt es Hilfe von der Regierung und hat die neue Regierung von López Obrador etwas geändert?
Ich denke es ist noch zu früh dazu etwas zu sagen. Seit Obrador Präsident ist, ist die Zahl der ermordeten Journalisten exponentiell gestiegen. Es gibt zwei verschiedene Register, eins sagt es wären 17, das andere 9 ermordete Journalisten. Das hängt von der Methode der Erhebung ab, wir haben darüber eine interne Diskussion. Manche sagen, es sollten nur die gezählt werden, die wegen ihrer Arbeit umgebracht werden.
Die Regierung sagt, sie würde sich um die Presse kümmern, aber wir sehen verschiedene Dinge, die uns Sorgen machen. Zum Beispiel hält Obrador jeden Morgen eine Pressekonferenz ab und alle paar Tage spricht er dabei von der Presse als dem Feind. Er spricht von einigen bestimmten Medien, aber er verspottet sie. Wenn sie eine Frage stellen, sagt er, sie würden lügen. Er leugnet die Informationen, die ihm nicht passen, streitet sich mit den Journalisten, die er nicht mag oder droht ihnen. Es ist sehr schlecht in einem Land, in dem so viele Journalisten umgebracht werden, den Präsidenten dabei im Fernsehen zu sehen, wie er sie beschimpft. Das ist wie eine Einladung für andere Politiker, uns zu beschimpfen. Obrador mochte die Presse noch nie, vor allem die, die er konservativ nennt, betrachtet er als Feinde. Er erkennt die Arbeit der Medien nicht an und fühlt sich angegriffen. Obrador befasst sich mehr mit Baseball als mit dem Schutz von Jounalisten.

Sie schreiben viel über jegliche Art von Gewalt, welche Form der Sprache benutzen Sie?
Manchmal fehlen mir die Worte. Die Perioden der Gewalt wiederholen sich immer wieder. Ich versuche die Sprache der Narcos nicht zu kopieren, das wäre sehr einfach und ist verbreitet unter Journalisten. Wenn die Mafia zum Beispiel einen Platz in der Stadt besetzt, wird das in deren Ausdrücken wiedergegeben, die das verharmlosen oder legal aussehen lassen. Wenn jemand verschwunden gelassen wird, wird stattdessen gesagt, die Mafia habe ihn ‘hochgenommen’. Das nimmt den Taten das Gewicht. Auch die Regierung verwendet bestimmte Begriffe in dem Zusammenhang, wie ‘kollaterale Opfer’ für im Kreuzfeuer erschossene Menschen. Wir diskutieren auch darüber, ob wir das Wort ‘Kartell’ benutzen oder nicht, denn das ist eine Konstruktion der Regierung. Was ist mit den organisierten kriminellen Banden, die sich nicht unter diesen Begriff fassen lassen?
Eine lange Zeit habe ich Zeugenaussagen aufgeschrieben, um zu erzählen was passiert ist, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Familie und die Gemeinde hat, was die Täter und Opfer denken. Heute bin ich damit beschäftigt Daten aus Statistiken auszuwerten und sie mit den Regionen in Verbindung zu bringen. Das hilft mir Zusammenhänge zu verstehen und über die Einzelfälle hinaus zu gehen. So habe ich für meine Berichterstattung verschiedene Untersuchungsmethoden angewendet.

 

NARKOTISIERTE GEWALT

Medien benutzen die Darstellung von Gewalt gerne um Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu bekommen. Sie hingegen beschreiben Gewalt als alltägliche Methode in einem sozialen Krieg. Hinkt hier die öffentliche Wahrnehmung der Realität hinterher?
Ich glaube nicht, dass sie hinterher ist. Es geht nicht um Verständnis, sondern um Verhaltensweisen. Das Problem ist, was machen wir mit dem Wissen darüber was passiert? Nicht nur in Lateinamerika, sondern überhaupt auf der Welt geschieht etwas ähnliches. Die Menschen sind sich bewusst darüber, dass eine große Transformation stattfindet, eine soziale Mutation. Es fehlt nicht die Fähigkeit, das zu verstehen. Es handelt sich eher um eine bewusste Entscheidung Empathie zu vermeiden mit dem, was wir von Medien gezeigt bekommen und was wir täglich auf den Straßen sehen.
Der soziale Krieg, der auf der ganzen Welt stattfindet, hat je nach Region andere Merkmale, gemeinsam ist ihm dabei die soziale Betäubung. Wir wissen, was vor sich geht, ziehen es aber vor uns selbst zu täuschen. Es ist die Umkehrung der Formel vom Fetischismus des Marktes bei Karl Marx: Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Heute wissen wir, aber wir machen weiter. Wir wissen über die Ausbeutung und die obszöne Bereicherung einiger weniger Menschen Bescheid, aber wir ziehen es vor weiter zu machen, als ob es uns nicht angehen würde. Um damit leben zu können, müssen wir Erklärungen konstruieren, mit denen wir uns narkotisieren.

DANIEL INCLÁN ist assoziierter Forscher an der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Geopolitik des Instituts für Wirtschaftsforschung der Universität UNAM in Mexiko-Stadt und gibt dort Master- und Promotionskurse im Rahmen des Postgraduations-Programmes für LateinamerikastudienFoto: R. Swoboda

Wer sind die Akteure in dem sozialen Krieg?
Der Staat ist nicht verschwunden und weiterhin ein großer Akteur, aber er hat sich in einer Art transformiert wie wir es noch nie gesehen haben. Die politische Theorie muss sich in diesem Punkt erneuern. Den Staat verstehen wir als eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte. Heute gibt es gesellschaftliche Kräfte, die früher nicht Teil des Staates waren wie das organisierte Verbrechen in all seinen Varianten. In Mexiko und Kolumbien sind es Drogenhändler, in Brasilien gibt es Mafias, denken wir auch an Russland mit der Mafia oder an Italien. Es gibt also eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte, die es vorher nicht gab. Außerdem müssen wir eine andere Perspektive einnehmen. Wenn wir weiter auf den liberalen Staat des 20. Jahrhunderts schauen, können unsere Analysen nicht zutreffen, weil wir dann den Staat nicht als Korrelation von Kräften begreifen. Es gibt eine wichtige Transformation, die sich durch immer mehr private Interessen kennzeichnet.
Es entstehen gleichzeitig verschiedene Formen von Söldnertruppen. Lateinamerika ist weiterhin ein Laboratorium dafür. Während der Aufstandsbekämpfung (in den 1970er und 1980er Jahren, Anm. d. Red.) entstanden paramilitärische Gruppen, die mit dem Staat verbunden waren, der sie steuerte und bezahlte. Heute sind sie nicht mehr unbedingt mit dem Staat verbunden. Die Formen der Gewalt haben sich ebenfalls privatisiert. Diese Gruppen kontrollieren nicht mehr nur Territorien, sondern auch ökonomische Mechanismen, wie Menschen- und Drogenhandel.
Außerdem gibt es eine Art soziale Gewalt, welche gekennzeichnet ist durch Geschlecht, Herkunft (spanisch: raza, Anm. d. Übers.) und ethnische Zugehörigkeit. Überall auf der Welt gibt es eine zunehmende Gewalt aufgrund von diesen Zugehörigkeiten. Fast alle Menschen reproduzieren das auf die ein oder andere Weise und das macht es noch komplizierter. Die Mechanismen, die noch während des 20. Jahrhunderts funktionierten, um strukturelle Gewalt zu begrenzen, funktionieren heute nicht mehr. Silvia Federici beschreibt in ihrem berühmten Buch Caliban und die Hexe, wie das Einkommen des Patriarchats die machistische Gewalt zähmte. Heute hat das Einkommen seine soziale Funktion verloren und die Form der Gewalt aufgrund von Geschlecht hat sich verändert. Sie nimmt auf der ganzen Welt zu, auch wenn sie in Lateinamerika viel tödlicher ist. Auch die strukturelle Gewalt aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit verschärft sich aufgrund von Migration.
In Mexiko tritt dieses Phänomen häufiger auf, weil die USA die Nordgrenze geschlossen haben. Mexiko ist nun nicht mehr nur ein Transitland, sondern Ort der Ankunft von Migration. Inzwischen kommen Menschen aus der Karibik, das gab es bisher nicht. Und nun zeigt sich die Fremdenfeindlichkeit, der Rassismus ist sehr stark. Das ist verrückt. Mehr als 10 Prozent der mexikanischen Bevölkerung lebt in den USA, das sind 15 Millionen Menschen. Aber wenn die Migranten aus Mittelamerika in das Land kommen, werden sie wie Abfall behandelt.
Schließlich nimmt auch die Diskriminierung der wenigen Sektoren zu, die sich noch mit der Arbeiterklasse identifizieren lassen. Denn die Idee von heute ist es, dein eigener Arbeitgeber zu sein. Wenn heute Streiks oder Demonstrationen von Seiten einer Gewerkschaft stattfinden, dann fühlen wir uns gestört, weil Straßen blockiert, Schulen oder Arztpraxen geschlossen sind, denn wir wollen zur Arbeit kommen, unsere Kinder in der Schule abgeben und unsere Gesundheit versorgt haben. Wir denken nicht darüber nach, dass sie damit eine gesamte Struktur verteidigen.

Sie beschreiben Gewalt als eines der dringlichsten Probleme unserer Epoche. Gibt es Unterschiede zur Gewalt im 20 Jahrhundert?
Sehr viele. Ich sehe Gewalt im Zusammenhang mit Politik und den Verantwortlichen. Gewalt ist keine Anomalie in modernen Gesellschaften. Sie wird gebraucht, um so hierarchische Gesellschaften zu organisieren, wie wir sie haben. Es gibt viele Hierarchien von Geschlecht, Klasse, Ethnien und so weiter. Im 20. Jahrhundert gab es eine säkulare Transformation unter dem Einfluss der Industrialisierung. Die Eigenart dieser Transformation gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr, Gewalt ist nun ebenso privatisiert, wie auch nahezu vollständig die Produktion. Im 20. Jahrhundert ging Gewalt von Staaten aus, denken wir zum Beispiel an Deutschland und Europa. Heute spielt staatliche Gewalt zwar noch eine Rolle beim Thema Sicherheit, aber es gibt mehr private Akteure auf allen Ebenen. Zur Gewalt gehörte damals eine Logik von Gut und Böse. Staaten kämpften gegen andere Staaten, der Feind war einfach zu benennen. In Lateinamerika folgten aus den Doktrinen der nationalen Sicherheit Diktaturen, woraus wiederum ein Zusammenhalt der Kommunisten, der Subversiven, entstand.
Heute ist das anders, die Denkstruktur ist eine ganz andere. Ich glaube, es gibt so etwas wie einen sozialen Autoritarismus, der nicht durch Regierungen oder Staaten verkörpert wird. Er schafft einen internen Wettbewerb, der durch Individualismus und Privatisierung gestützt wird. Heute kämpfen wir nicht mehr gegen so eindeutige Gegner wie gegen Diktaturen oder Faschismus.

Gewalt steht auch mit ökonomischen Aspekten in Zusammenhang. Sehen Sie Unterschiede in der Ausprägung von Gewalt bei Staaten mit einer starken Wirtschaft, wie Brasilien und Mexiko, und Staaten die weniger ökonomisch entwickelt sind, wie Honduras oder Guatemala?
Es gibt wichtige Unterschiede. Manche sind qualitativ, wie der Grad der Grausamkeit und wie tödlich Gewalt ist. Ich denke, qualitative Merkmale haben damit zu tun, welche Art von Angriffen auf Körper stattfinden und welche Effekte sie dabei auf Territorien haben. Im Fall von Mexiko, Brasilien und auch Kolumbien handelt es sich um die Kontrolle von Territorien durch die Kontrolle von Körpern. Die Kontrolle von Territorien funktioniert für die großen korporativen Geschäfte wie den Bergbau, Infrastrukturprojekte, Tourismus oder illegalen Handel. Entweder werden Menschen dafür von Territorien vertrieben oder auf ihnen kontrolliert. Zum Beispiel sind in diesen Ländern Fälle dokumentiert, in den Gemeinden gezwungen werden für den Drogenanbau zu arbeiten, für Kokain in Kolumbien, für Marihuana und Mohn in Mexiko.
In den Ländern Zentralamerikas ist der Konflikt um Territorien nicht der springende Punkt, weil sie ökonomisch gesehen Leichtgewichte sind. Der wirtschaftliche Zusammenhang mit der Grausamkeit ist dort nicht so offensichtlich. Diese Staaten sind weiterhin komplett von den USA abhängig und inzwischen wirtschaftlich unbedeutend. Sie sind nicht mehr die Bananenrepubliken des 19. Jahrhunderts, welche die Wirtschaft in den USA ankurbeln. Die USA haben inzwischen die bäuerliche Landwirtschaft in Lateinamerika zerstört und verkaufen selbst Lebensmittel dorthin. Sie brauchen die Territorien nicht mehr, um dort zu produzieren. Die Früchte, welche früher in Mittelamerika produziert wurden, werden jetzt in Florida angebaut. Ich habe Mittelamerika nicht bis ins Detail studiert und habe nur eine Hypothese zur sozialen Zersetzung: Das ist ein Fall von verselbstständigter politischer Gewalt, die früher eine ökonomische Basis hatte. Obwohl diese Basis jetzt fehlt, haben die Menschen ein bestimmtes Know-How. Es gibt ein gesellschaftliches Wissen über die Ausübung von Gewalt in all seinen Formen, das fast „automatisch“ und „spontan“ ist. Es steht aber in keinem direkten Zusammenhang mehr zu einer großen Ökonomie, weil sie an Relevanz verloren hat.
Vielleicht wird das auch Mexiko, Kolumbien und Brasilien so gehen, wenn sie ihr ökonomisch-strategisches Gewicht verlieren. Etwas sehr ähnliches ist in Afghanistan oder im Irak passiert. Nachdem die strategischen Knotenpunkte nach langen Kriegen unter Kontrolle gebracht worden waren, hat sich die Gesellschaft zersetzt. Aber mit einem Know-How und mit Technologien von Gewalt, die es davor nicht gegeben hat. Das geschah durch die Lieferung von Waffen und anderer Technologien aufgrund der Bedeutung von Öl, welches die Initialzündung für die Kriege war.
Das Paradox in Zentralamerika ist, dass es lange Bürgerkrieg gab, in dem Generationen aufgewachsen sind. Wenn du damit aufwächst, wird es leicht zu einem sozialen Horizont und du reproduzierst die Gewalt. Ich denke, es gibt eine Verselbstständigung von Gewalt. Die Menschen besitzen Waffen und das Know-How, also benutzen sie sie auch.

 

UNERTRÄGLICH, UNVERZICHTBAR

Die Autorin Fernanda Melchors große Stärke ist es, ihre Fiktion als Testimonialliteratur aufzuziehen. / Foto: privat

Eine immer in schwarz gekleidete Person, die unter den Dorfbewohner*innen nur als La Bruja, die Hexe, bekannt ist, wird ermordet aufgefunden. Schon brodelt in La Matosa, einer Ansammlung von Häusern an einer Landstraße inmitten von Zuckerrohrplantagen, die Gerüchteküche. Saison der Wirbelstürme, Melchors zweiter Roman, erlaubt sich keine Pause, und, nebenbei bemerkt, auch keine Absätze. Die Stimmen der Frauen im Dorf vermischen sich in einem stets nach vorne drängenden, aber nie unverständlichen Crescendo mit denen der Täter, Mittäter und Mit-Mittäter. Diese sind schnell ausgemacht. Unklar ist das Mordmotiv. War es Habgier, hatten die Mörder es auf den vermeintlichen Schatz der Hexe abgesehen? War es Rache dafür, dass eine Beschwörung oder ein Zaubertrank nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatten? Oder gar Eifersucht, ein „Verbrechen aus Leidenschaft“, wie die Zeitungen schreiben?

Fernanda Melchor, geboren 1982 in Veracruz, studierte Journalismus an der Universität Veracruz und Kunst und Ästhetik an der Autonomen Universität Puebla. Als Kind las sie gerne Horrorgeschichten und stöberte in Enzyklopädien. „Wenn ich an meine Jugend denke, erinnere ich mich an das Gefühl der Verzweiflung. Über Gewalt zu schreiben, bedeutet für mich, sie von allen Seiten zu betrachten, ihre Muster zu erkennen, es bedeutet auch, mich an meine Kindheit zu erinnern oder zu schauen, was um mich herum passiert. Wenn ich Fotos von Narcos, Mördern, Vergewaltigern in der Zeitung sehe, frage ich mich: Trennt uns wirklich so viel?“, so Melchor im Gespräch mit den LN. Ihren Stil beschreibt sie in Anspielung auf William Faulkner als tropische Gotik. Die Autorin spielt sowohl in ihren Reportagen als auch in ihren Romanen bewusst mit all jenen Klischees, die sowohl die mexikanische Boulevardpresse als auch Politik und Justiz immer wieder als Mordmotive heranziehen, um einem ganz anderen, tief im System verankerten Problem aus dem Weg zu gehen: der Gewalt an Frauen und Personen, die nicht nach heteronormativen Maßstäben leben. Der 2017 im Original als Temporada de huracanes und 2019 bei Wagenbach in Berlin erschienene Roman stellt dabei den bisherigen Höhepunkt ihres Schaffens dar.

Der Hintergrund: Melchor stößt zufällig auf einen Zeitungsartikel in der Boulevardpresse, in dem es heißt, dass „der Hexer“ eines Dorfes in Veracruz ermordet aufgefunden wurde, und dass einer der Jugendlichen im Dorf, angeblich sein Liebhaber, ihn umgebracht habe. Die Autorin, die sich der Sicherheitslage in Veracruz schmerzhaft bewusst ist, weiß, dass sie nicht einfach in besagtes Dorf fahren kann, um dort für eine Reportage zu recherchieren. 2015, das Jahr in dem Melchor an ihrem zweiten Roman schreibt, steht wie für viele andere Jahre, für Drogenkrieg, Lynchjustiz, anonyme Massengräber und nicht zuletzt Journalist*innenmorde. Melchor beschließt, die Mittel der Fiktion zu nutzen, um die Geschichte zu beschreiben. Aus dem Hexer wird eine Hexe, Melchor will die Problematik des Femizids thematisieren. Sie betont jedoch, dass Hexen in vielen indigenen Religionen unter anderem dafür bekannt sind, dass sie ihr Geschlecht nach Belieben ändern können. Die Gestalt der Hexe steht also auch für den Anspruch, binäre Vorstellungen von Geschlecht aufzubrechen. „Die Auswahl dieser Figur hat es mir erlaubt, sowohl von Frauenmorden als auch von Homo- und Transphobie zu sprechen. Die Hexe funktioniert als Symbol für eine starke, unabhängige Person, auf die die Männer eines Dorfes, stellvertretend für die gesamte Gesellschaft, ihre Ängste projizieren.“

Melchor hat mit Saison der Wirbelstürme einen Roman geschrieben, der vom Setting her „sehr, sehr mexikanisch“ und gleichzeitig universal ist. Dass er neben dem Anna Seghers-Preis nun auch den Internationalen Literaturpreis verliehen bekommen hat – wobei Melchor und ihre Übersetzerin Angelica Ammar sich gegen hochkarätige Konkurrenz wie Hélène Cixous oder Gerald Murnane durchsetzten –, hätte sich die Autorin nie erträumen lassen. „Man könnte denken, dass ein Roman, der so großes Elend beschreibt, nichts für den deutschen Buchmarkt ist. Aber Deutschland ist ein Land mit einer sehr gewalttätigen Geschichte. Auch wenn das Szenario fremd erscheinen mag, so sind Hass, Eifersucht und Intoleranz doch Themen, die uns alle berühren“, so Melchor, deren Urgroßvater selbst aufgrund seiner jüdischen Zugehörigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland nach Mexiko geflohen ist. La Matosa, Dreh- und Angelpunkt von Saison der Wirbelstürme, ist eine Hölle, aus der es kein Entkommen gibt: „Die Fiktion gibt dem Schrecken eine Form, die es uns ermöglicht, ihn besser verstehen zu können.“

Während der Roman Falsa liebre (Falscher Hase) oder die Erzählung Dale un besito (Gib ihm ein Küsschen) sich vor allem auf die Perspektive der Opfer sexualisierter Gewalt konzentrieren, ist die Hexe in Saison der Wirbelstürme nahezu stumm. Wir bekommen keine Chance, sie aus erster Hand kennenzulernen. Die Stille, die La Bruja umgibt, steht im starken Kontrast zu dem rauschenden, sich überschlagenden testimonio der Dorfbewohnerinnen, das fast ohne Punkt und Komma auskommt. Die Leerstellen, die inmitten der hyperrealistischen und brutalen Beschreibung der alltäglichen Gewalt in La Matosa auftreten, sind bewusst so eingesetzt. „In der Literatur ist alles möglich, nichts ist nicht erzählbar. Aber genau wie in der Musik, ist auch die Stille wesentlich“, so Melchor.

Die Unerträglichkeit der Lektüre, die Unmittelbarkeit, mit der Melchors Sprache uns attackiert, ist, was ihr Werk so wichtig und einzigartig macht. „Oft werde ich gefragt: Und was ist mit dem Rechtsstaat, warum taucht der nicht auf? Ganz einfach, der Rechtsstaat existiert nicht, deswegen habe ich das Buch geschrieben.“ Vor diesem Hintergrund sind auch die Darstellungen von Massenvergewaltigungen und Kindesmissbrauch schwerlich, wie es einige Rezensent*innen in deutschsprachigen Medien getan haben, als „pornographische Passagen“ zu bezeichnen. Problematisch, zumal sie ein völlig anderes Ziel verfolgen. Sie sind was sie sind – extrem realistische sexualisierte Gewalt, so detailreich dargestellt wie eine Zeug*innenaussage vor Gericht. Melchors große Stärke ist es, ihre Fiktion als Testimonialliteratur aufzuziehen. Eine, die so überbordend und realistisch ist, dass sie kaum verdaulich ist. Eine, die uns zwingt, hinzusehen, wenn wir die Augen schließen und das Buch an die Wand schleudern möchten. Melchor provoziert Unbehagen, um die brutale Realität spürbar zu machen: „Oft sagt man ja, dass ein Buch dich behutsam an die Hand nimmt und sagt: Komm, wir machen eine Reise. Dieses packt dich am Hals und schmeißt dich ins Wasser.”

ES IST AN DER ZEIT, AUF DEN TISCH ZU HAUEN

Foto: Oscar Navarete

Ich bin gefragt worden, ob Eddy Montes Praslin (der als politischer Gefangener am 16.05.2019 von einem Wachmann im Gefängnis La Modelo erschossen wurde, Anm. d. Ü., siehe auch S. 53) ein Angehöriger von mir war. Sein Nachname Praslin ist derselbe wie der meines Ururgroßvaters, von dem mein neuer Roman handelt. Ich weiß nicht, ob Eddy Montes und ich miteinander blutsverwandt sind. Aber selbst wenn nicht, ist er allein deshalb ein Verwandter von mir, weil er ein Mitbürger war, Nicaraguaner wie ich. Wie ich Opfer der Gewalt der sozialen und politischen Situation unter einem Regime, das uns nicht mehr regiert, sondern nur noch seine Macht zu verteidigen versucht. Die einzige Antwort dieses Regimes auf die Unzufriedenheit und Ablehnung des Volkes ist die Unterdrückung durch die Polizei und die Militarisierung des Staats; ein Regime, das als Bedingung für die Einhaltung schriftlicher Vereinbarungen verlangt, dass Sanktionen gegen seine Familienangehörigen und Angestellten auf- gehoben werden; eine Macht, die entschlossen ist, wegzusperren, zu töten und die Wirklichkeit ihren Interessen entsprechend zu interpretieren; eine Regierung, die ihre Verantwortung andauernd leugnet, die Schuld immer den anderen gibt.
Es ist inzwischen unnötig, darüber zu streiten, was genau am 16. Mai im Gefängnis La Modelo von Tipitapa (Municipio bei Managua, Anm. d. Red.) geschehen ist. Es ist völlig egal, was die Polizei sagt, das Außenministerium, irgendwelche Regierungsvertreter*innen, der Präsident oder seine Frau. Tatsache ist, dass im Gefängnis ein Häftling durch die Kugel eines bewaffneten Vertreters des Regimes getötet wurde. Tatsache ist auch, dass ein bewaffneter Mann auf einen unbewaffneten Gefangenen geschossen hat. Dieses Opfer hätte nie im Gefängnis sein dürfen, ein in den USA eingebürgerter Nicaraguaner, der nach Nicaragua kam, um seine Familie zu besuchen und ungerechterweise verhaftet und verurteilt wurde. Wie Hunderte Frauen und Männer, die ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie gegen die Repression und die schlechte Regierung von Daniel Ortega und Rosario Murillo protestiert haben.

Er hätte nicht im Gefängnis sein dürfen – er kam nach Nicaragua, um seine Familie zu besuchen, und wurde verhaftet und verurteilt.


Das Gefängnis La Modelo ist, wie der Name schon sagt, zu einem Modell und sichtbaren Beispiel geworden, in dem die Diktatur Ortega-Murillo ihre Grausamkeit entfesselt und zur Schau stellt. Die politischen Gefangenen dort sind ein ums andere Mal misshandelt worden. Am 16. Mai, einem Donnerstag, wurden viele von ihnen erneut mit nicht zu akzeptierender Brutalität verprügelt.
Eine Mauer aus Bereitschaftspolizisten war die Antwort auf die Angst der Mütter, die zum Gefängnis gekommen waren, weil sie um das Leben ihrer Kinder fürchteten. Hunderte Bereitschaftspolizisten wurden auch in die Heimatstadt des Getöteten, Matagalpa, geschickt, um zu verhindern, dass die Bevölkerung an seinem Begräbnis teilnahm. Die Fotos und Videos aus der militarisierten Stadt, der von den Repressionskräften besetzten Straßen, sind Belege für die Angst einer Regierung, die für ihren Machterhalt den Terror und die völlig unverhältnismäßige Präsenz seiner bewaffneten Organe benötigt.
Es ist jetzt dringend und unverzichtbar wichtig, dass aktive und pensionierte Angehörige der Armee, die Privatunternehmer*innen mit ihrem Verband COSEP und ihren mächtigen Berater*innen, die öffentlichen Angestellten und die Sandinist*innen, die diese Regierung noch unter- stützen, ihre Stimme erheben und die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um dieses Debakel aufzuhalten. Gefangene zu töten, sie zu verprügeln, sie unwürdigen Bedingungen auszusetzen wie Miguel Mora, Lucía Pineda, Ricardo Baltodano, Medardo Mairena und viele andere, ist ein Angriff auf die Werte unserer Gesellschaft. Eine Familie und eine Stadt daran zu hindern, ihren Toten würdevoll zu bestatten;uns zu militarisieren; uns mit der Verbreitung von Angst und mit Waffengewalt zum Schweigen zu bringen; ist eine Demütigung für unser ganzes Land und lässt uns unsere Würde verlieren.
Diese irrationale Grausamkeit muss gestoppt und diese Regierung gezwungen werden, die Verantwortung für die Schäden zu übernehmen, die sie anrichtet. Eigeninteressen müssen jetzt zurückgestellt und moralischer oder wirtschaftlicher Druck ausgeübt werden, damit diese furchtbare Abfolge von Ereignissen uns nicht weiter in einem Labyrinth der Schande versinken lässt. Es ist dringend notwendig, dass die gesellschaftlichen Gruppen, die jetzt noch schweigen, auf den Tisch hauen und sagen: Es reicht! Und das muss jetzt getan werden.

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