Indigene | Mexiko | Nummer 549 - März 2020

„DIE GEWALT IST ÜBERALL“

Interview mit dem Anwalt Carlos González García zur Situation der indigenen Bevölkerung in Mexiko

Für einen Teil der indigenen Bevölkerung hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) nicht viel verbessert. Im Gegenteil: Der Nationale Indigene Kongress (CNI) verzeichnete in den ersten Monaten unter AMLO so viele Morde gegen Mitglieder wie unter keiner Vorgängerregierung. Die LN sprachen darüber mit dem Anwalt Carlos González García.

Interview: Timo Dorsch

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CARLOS GONZÁLEZ GARCÍA
ist Anwalt und gehört der Koordinierungskommission des CNI an. Er ist seit der Gründung des Kongresses im Jahr 1996 durch die inzwischen verstorbene Comandanta Ramona der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in der landesweiten Struktur organisiert.(Foto: Heriberto Paredes)


Jede Woche beklagen indigene Gemeinden, die im CNI organisiert sind, Angriffe und Attacken. Woher kommt diese Gewalt?
Die andauernde Gewalt hat mit dem Raub und der Plünderung zu tun. Nationale und transnationale Unternehmen sind an den Rohstoffvorkommen in den indigenen Territorien interessiert. Raub und Plünderung verstehen wir als Vorgehen, die zur Zerstörung, Vertreibung und Auflösung unserer Strukturen führen, um unsere Territorien neu zu besetzen. Wir verstehen das als kontinuierlichen Krieg, der gegen unsere Gemeinden geführt wird.

Was Sie beschreiben, ist gewaltvoll und kriminell. Müssen Unternehmen nicht gesetzeskonform handeln?
In vielen Fällen beobachten wir, dass sich die kriminellen Interessen der Kartelle mit denen der Unternehmen überschneiden: entweder durch direkte Verbindungen oder ein zufälliges Überlappen der Interessen, die wiederum mit denen unterschiedlicher Regierungsebenen verbunden sind.

Was heißt das konkret?
Konkret geht es um die polizeilichen und militärischen Strukturen, die sich am Vorgehen der Kartelle beteiligen. Sei es direkt oder weil sie deren Agieren nicht unterbinden. Am deutlichsten ist der Fall Ostula, eine kleine indigene Gemeinde an der Pazifikküste des Bundesstaates Michoacán. Dort entbrannte ein Kampf um das Territorium mit der Firma Ternium, eine der größten Eisenfirmen der Welt (siehe LN 543/544). Das Kartell der Tempelritter konnte dort seine Präsenz just in dem Moment verfestigen, als die Marine sich entlang der Küste neu aufstellte. Mit der Neupositionierung wuchs auch die logistische und militärische Kapazität der Kriminellen. Ein anderes Beispiel ist der Bundesstaat Morelos. Die alte und aktuelle Regierung haben wesentlich dazu beigetragen, dass dort das Proyecto Integral Morelos (ein Megaprojekt zur Energieerzeugung durch Erdgas, das regionalen bäuerlichen und indigenen Widerstand hervorgerufen hat, Anm. d. Red.) umgesetzt werden konnte. Mit dem Projekt erstarkte auch das organisierte Verbrechen. Es muss nicht zwangsläufig ein gemeinsames Handeln oder Absprachen zwischen Kartellen und Regierung gegeben haben, aber wir sehen sehr wohl eine Gleichzeitigkeit.

Im Februar 2019 wurde Samir Flores Soberanes, CNI-Mitglied und zentrale Figur einer regionalen Protestbewegung gegen das Proyecto Integral Morelos, erschossen…
Samir war Gründer und Teil des lokalen indigenen Radiosenders. Ich kannte ihn persönlich. Er war einer, der motivieren konnte. Wir wissen nicht, wer ihn ermordet hat. Wir wissen aber sehr wohl, dass er wegen seines Kampfes erschossen wurde. Nach seiner Ermordung ging der Widerstand weiter. Der Kampf ist immer der einer ganzen Gemeinde. Selbstverständlich haben einzelne Personen ein Gewicht, aber die Gemeinde und das Kollektiv gehen vor. Es gibt Angst und Verunsicherung, aber der Kampf geht weiter.

Inzwischen wurde die Verfassung geändert und die umstrittene Nationalgarde geschaffen (siehe LN 539). Spielt der neue Militärkörper bei den genannten Projekten eine Rolle?
Bis jetzt sehen wir keine Bestätigung dafür, dass die Nationalgarde direkt an der Umsetzung der Projekte beteiligt war. Aber sie ist genau dort am stärksten präsent, wo das Interesse an Megaprojekten wie dem Abbau von Gas und Erdöl oder dem Ausbau von Infrastruktur am größten ist. Anders ist es im Bundesstaat Chiapas, wo sich die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) befindet. Das Problem der organisierten Kriminalität ist dort sekundär und dennoch sind in Chiapas die meisten Soldaten der Nationalgarde stationiert. Ein Beleg dafür, dass das Militär eingesetzt wird, um Großprojekte auf Biegen und Brechen durchzuführen.

Warum schafft es die Regierung nicht, die Attacken gegen indigene Gemeinden zu beenden?
Die Gewalt richtet sich nicht allein gegen Indigene. Sie ist überall. In ländlichen Gebieten, in der Stadt, in allen Regionen. Die Situation ist außer Kontrolle. Die Regierung ist nicht in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten. Sowohl das Militär als auch die Justiz sind aufs tiefste von der organisierten Kriminalität durchdrungen.

Der CNI hat sich vor über drei Jahren dagegen entschieden, sich der heutigen Regierungspartei MORENA anzuschließen, wie es die EZLN vorgeschlagen hatte. War das ein Fehler?
Der CNI folgt keiner Parteilinie. Er ist ein Ort der indigenen Gemeinschaften, in dem verschiedene Meinungen Platz haben, sogar die von parteinahen Personen. Es gibt aber Prinzipien, die uns von Parteien fernhalten. Es wäre nicht schlüssig gewesen, wegen temporären Gemeinsamkeiten Wahlallianzen zu schließen. Die Bündnisse, die López Obrador für den Wahlsieg eingegangen ist, sehen wir sehr kritisch, etwa den Pakt mit der evangelikalen Partei der Sozialen Begegnung (PES). Genauso kritisieren wir weite Teile des Regierungsprogramms, zum Beispiel die Megaprojekte oder die Energiepolitik.

Wie wird die Antwort des CNI auf die Angriffe ausfallen?
Die Angriffe werden weitergehen, denn das Problem ist global. Der Kapitalismus reproduziert sich über Kriege, der Krieg gegen die kurdische Bewegung ist ein Beispiel dafür. Es liegt nicht in der Macht der Regierungen oder Nationalstaaten, die Gewalt zu stoppen, denn es sind die Unternehmen, die die globale Wirtschaft kontrollieren. Uns bleibt nichts übrig, als unseren Weg zu gehen, Autonomien auszubauen und neue kulturelle und ökonomische Räume zu schaffen, die mit Organisationen verknüpft sind, die gegen den Kapitalismus kämpfen.

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