IN SCHÖNHEIT GETAUCHTE REVOLUTION


Bild: S. Fischer Verlag

Der Zuspruch für „Un violador en tu camino“ war und ist überwältigend, sowohl in Chile als auch international. Doch die breite Rezeption der Performance brachte auch unerwünschte Nebeneffekte mit sich. Unter anderem um diese geht es in dem zum 8. März in deutscher Übersetzung veröffentlichten feministischen Manifest des Kollektivs: Verbrennt eure Angst. Neben leidigen Selbstläufern wie Drohungen von Rechten und aus Kreisen selbsternannter „Lebensschützer*innen“, die ein striktes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordern, wurden LasTesis von den chilenischen Carabineros, der nationalen Polizei, wegen mutmaßlicher „Erzeugung von Feindseligkeit gegenüber staatlichen Institutionen“ verklagt. Die Klage wurde kürzlich wieder fallengelassen, doch auch von Seiten der „Macholinken“, wie LasTesis sie nennen, wurden die Künstlerinnen massiv diffamiert – bis hin zu Verschwörungstheorien, die CIA würden das Kollektiv finanzieren, um so von sozial relevanten Themen wie Rente und Gesundheitsversorgung in Chile abzulenken.

Die hinter solchen Angriffen stehenden Mechanismen thematisieren LasTesis in ihrem Manifest aus einer kollektiven Position heraus: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.“ Dieser erste Satz des Prologs deutet bereits an, warum LasTesis Schwesternschaft als die mächtigste Antwort auf die Vereinzelung und Individualisierung durch Kapitalismus und Patriarchat begreifen. Konsequenterweise ist der gesamte Text in der ersten Person Plural verfasst, die proklamierte Schwesternschaft vollzieht sich im Manifest auch performativ.

Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats

So wird in Verbrennt eure Angst deutlich, dass LasTesis Kollektivität als Motor für eine gerechtere, von diversen Personen gestaltete Gesellschaft verstehen, die Mechanismen intersektionaler Diskriminierung durch künstlerische Aktion bekämpft. Die Übersetzung von Theorie in Kunst – eines ihrer erklärten Ziele –, aber auch die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes, der verschiedene Kunstformen in einer Aktion miteinander vereint, sind dabei Eckpfeiler ihrer Ästhetik und Strategie zugleich, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Das Kapitel, das sich dem Transformationspotenzial der Performancekunst widmet, ist das stärkste des Manifests. Denn hier zeigen LasTesis eindrucksvoll, welche Überzeugungen hinter ihrem künstlerischen Schaffen stehen, und wie sie feministische Theorie in die Praxis übersetzen: Indem sie aus der Hegemonie des geschriebenen Wortes ausbrechen und es in Aktion übersetzen. Der Kollektivanspruch, in der Aktion selbst und in ihrer Rezeption, steht dabei immer im Vordergrund.

Die bevorzugte Form der Umsetzung ist die Collage, eine nicht hierarchische Anordnungstechnik, die es den Zuschauer*innen ermöglicht, die einzelnen Elemente des Kunstwerks selbst immer wieder neu zusammenzusetzen. Genau diesem ästhetischen Prinzip folgt auch das Manifest. Die einzelnen Kapitel verweisen dabei implizit aufeinander, wobei einzelne Aspekte mehrfach aufgegriffen werden. Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats. Das Motto: Alles beseitigen, was uns schadet. Um dieses spinnen sich zahlreiche persönliche Anekdoten, Querverweise und historische und aktuelle Beispiele patriarchaler Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika. So springt der Text von aktuellen Themen wie der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Kernfamilie als Ausdruck männlicher Dominanz hin zu einer cis-heteronormativen Justiz, die Betroffene reviktimisiere, und zu Unschuldsvermutungen zugunsten von Tätern, die andere Wahrheiten „niedermähen“.

Ein persönliches Manifest

Die Struktur des Manifests orientiert sich an unterschiedlichen Performances des Kollektivs, deren Texte den einzelnen Abschnitten voran-*gestellt sind. Einer der Abschnitte ist dem laut LasTesis „fatalen Bündnis“ aus Patriarchat und Kapitalismus gewidmet. Während die bereits erwähnte „Macholinke“ die feministische Bewegung diskreditiere und ihre Anliegen als zweitrangig markiere – ganz nach der Prämisse Klassenkampf zuerst, Feminismus später – zeigen LasTesis auf, wie konstruiert und gefährlich diese Trennung ist. Das fatale Bündnis thematisierte das Kollektiv bereits 2018 in ihrer ersten Performance „Patriarcado y capitalismo – Alianza Criminal“ („Patriarchat und Kapital, dieses Bündnis ist fatal“), die auf Grundlage der Schriften der italienischen Feministin Silvia Federici entstand. Diese argumentiert in ihrer Studie Caliban und die Hexe, dass der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus maßgeblich über die Ausbeutung und Zerstörung widerständiger, femininer Körper gelingen konnte. Denn wenn sich Frauen nicht ihrer vorgesehenen Rolle als Mutter und Hausfrau fügten, wurden sie als Hexen verfolgt und verbrannt. In ihren zahlreichen Referenzen auf die chilenische Geschichte machen LasTesis aber auch deutlich, dass patriarchale Gewalt in allen Gesellschaftssystemen tief verankert ist. So seien auch unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes Lesben, trans, inter und nonbinäre Personen nicht erwünscht gewesen.

Weibliche und dissidente Körper, das betonen LasTesis in ihrem Manifest, sind damals und heute Ort der Ausbeutung und des Widerstands zugleich. Für sie sind es diese vielgestaltigen Körper, die das Patriarchat Tag für Tag herausfordern. Das Patriarchat ist für sie Brutalität und Konkurrenzkampf. Beides Konzepte, die sie gänzlich aus der Gesellschaft entfernen wollen.
Trotz aller theoretischer Unterfütterung ist Verbrennt eure Angst keineswegs ein theoretisches Manifest, sondern ein sehr persönliches. Bisweilen ist es nicht ganz einfach, den damit verbundenen inhaltlichen Sprüngen zu folgen. Doch wer sich auf die fragmentierte Struktur einlässt, erkennt schnell die Zusammenhänge. Die Wut auf das Patriarchat und die kollektiven Reaktionen auf diese Wut sind jederzeit im Fokus.

Antworten darauf, wie eine postpatriarchale Gesellschaft konkret aussehen könnte, hat das Kollektiv noch keine – und das machen sie auch transparent. Aber LasTesis zeigen auch in ihrem Manifest wieder einmal, wie produktiv Wut sein kann. Und so endet der Prolog von Verbrennt eure Angst passenderweise mit einem Aufruf, queerfeministische Kunst ständig und überall zum Einsatz zu bringen: „Subversion, in Schönheit getaucht, ist Revolution.“

 

„DER VERGEWALTIGER BIST DU!“


Foto: Germán Andrés Rojo Arce

Worum geht es bei eurer aktuellen Performance?
Paula Cometa:
„Un violador en tu camino“ ist unsere zweite Performance, basierend auf Thesen der argentinischen Feministin Rita Segato, die auf die Verantwortung staatlicher Institutionen an der systematischen Verletzung der Rechte von Frauen und Minderheiten aufmerksam machen. Eigentlich ist das ganze Teil einer längeren Intervention, deren Erstaufführung aber der aktuellen Proteste wegen verschoben werden musste. Vor gut drei Wochen baten uns die Organisatoren von fuego barricadas, acciones en cemento (kreative Protestaktionen im Format einer Straßensperre in Valparaiso, Anm. der Redaktion) um einen kurzen Beitrag.

Daffne Valdés: Daraufhin haben wir unsere aktuelle Arbeit auf den Punkt gebracht, Frauen und Minderheiten eingeladen, mitzuwirken und den Text an die derzeitigen Verhältnisse angepasst. Deshalb enthält der aktuelle Text ein Zitat der Hymne der Polizei, in dem sie schwören, den seligen Schlaf des unschuldigen Mädchens zu beschützen, und das im Angesicht der sexualisierten Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen der letzten Wochen zynisch anmutet.

Eure Performance wurde inzwischen von Feministinnen auf allen fünf Kontinenten interpretiert, täglich machen neue Videos die Runde. Was gibt euch das für ein Gefühl?
Daffne:
Wir sind vollkommen überrascht und überwältigt. Aber klar, es macht auch Sinn, denn auf der ganzen Welt gibt es Frauen, die sich mit der Botschaft identifizieren. Es betrifft uns alle auf irgendeine Art und Weise und zeigt, dass unabhängig von den nationalen Grenzen in vielen Ländern die Rechte der Frauen nicht institutionell garantiert werden.

Paula: Es ist die Angst vor der Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, die überall existiert. In all den Ländern, in denen die Performance interpretiert wurde, haben die Nationalstaaten bestimmte Herrschaftsformen, staatliche Akteure und Institutionen, die die Unterdrückung festigen. Gleichzeitig war auch der Sinn, dass die Performance nicht nur nachgeahmt, sondern interpretiert und an den jeweiligen Kontext angepasst werden sollte. Das ist absolut gelungen und stellt eine große Bereicherung unserer Arbeit dar.

Valparaiso hat zwar viele Ausbildungsangebote für Künstler*innen, aber wenig Aufführungsorte. Wie geht ihr damit um?
Daffne:
Um mit unserer Botschaft ein möglichst breites Publikum zu erreichen, konzipieren wir unsere Stücke interdisziplinär, damit wir sie an verschiedene Orte und Gegebenheiten anpassen können. Dann führen wir sie dort auf, wo wir eingeladen werden, und manchmal laden wir uns auch selbst ein. Das kann auf Partys sein, auf der Strasse, auf Märkten, auf Konferenzen, die sich thematisch anschließen. Unser erstes Stück, das auf Thesen Silvia Federicis (marxistisch-feministische Theoretikerin, Anm. d. Red.) beruht, hatte letztes Jahr seine Uraufführung beim Theaterfestival der Frauen hier in Valparaiso.

„Un violador en tu camino” Performance von LasTesis in Antofagasta (Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Die aktuellen Proteste sind vom Protagonismus der Jugend und v.a. der jungen Frauen geprägt. Welche Rolle spielt die feministische Bewegung in den Protesten?
Daffne: Die Forderungen, die momentan auftauchen, haben viel mit den Forderungen der feministischen Bewegung zu tun. Bei der Protestwelle letztes Jahr im Mai wurden sie bereits auf den Tisch gebracht und auch in den Vorjahren.

Paula: Die aktuelle Krise basiert auf dem patriarchalen und kapitalistischen System, hier in Chile auf den Auswirkungen des Neoliberalismus. Genau diese Strukturen kritisiert der Feminismus. Bis zu unserer Performance schien die feministische Bewegung zu schlafen, aber das ist ein Trugschluss. Der Feminismus schließt lückenlos an die Forderungen der aktuellen Proteste an. Deshalb ist es auch ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten und die nach einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus zielt auf einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens ab. Auf einen Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen, darauf, wie wir uns als soziale Wesen zueinander in Beziehung setzen, und auch auf die Herrschaft des Staates über unsere Körper:

Wie schätzt ihr die Bedeutung der Kunst für die aktuellen Proteste ein?
Paula:
Die Künste erlauben es dir, auf kreative Art und Weise eine Botschaft kundzutun. Diese Botschaft kann erhört werden oder nicht, kann vom Publikum angeeignet werden, so wie es in diesem Fall geschehen ist. In Krisenzeiten gibt es viel mehr Raum und Aufmerksamkeit für solche kreativen Botschaften. Deshalb ist die Rolle der verschiedenen Künste in solchen Momenten grundlegend.

Daffne: Derzeit denke ich, dass die Kunst, die kreativen Protestformen, uns dabei helfen, uns nicht so allein zu fühlen. Viele Frauen haben sich durch die Performance ermutigt gefühlt, Missbrauch und Gewalt gegen sie anzuzeigen. Denn auf eine bestimmte Art und Weise haben sie erkannt, dass die Gewalt viele betrifft, vielleicht sogar uns alle. Sie haben das Gefühl bekommen, sich auf dieses Kollektiv stützen zu können, dass es uns Schutz gibt und dass wir zusammenhalten.

Paula: Alle, die sich keiner Partei zugehörig fühlen, aber trotzdem organisiert sind und protestieren, Künstler, Musiker und natürlich viele andere Menschen, sind Teil dieses Kollektivs. Zusammen stellen wir vieles auf die Beine.

Was kann die feministische Theorie und Praxis zu den Lösungen der aktuellen sozialpolitischen Krise beitragen?
Paula:
Der Feminismus kann einen konkreten Beitrag zur Überwindung der alltäglichen Gewalt leisten, zur Entmystifizierung des Vergewaltigers. Feminismus hilft, die alltägliche Gewalt gegen die Körper, die Subjekte, die Kinder zu erkennen. Der Staat verbietet es uns, abzutreiben, über unsere eigenen Körper zu entscheiden. Durch die feministische Analyse können wir die Unterdrückung durch bestimmte Strukturen und Institutionen erkennen und bestenfalls überwinden, denn diese Institutionen lassen uns nicht leben. Der Feminismus öffnet den Menschen die Augen, um diese Realitäten zu sehen, wahrzunehmen. Realitäten, die durch patriarchale Strukturen geschützt und versteckt sind.

Und was bringt sie im Hinblick auf eine mögliche neue Verfassung?
Paula:
Der Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung der Frauen, der Arbeitskraft, der Sexualität und der Reproduktion. Dieses System ist nicht mehr tragbar, definiert aber die staatliche Politik. In der Bildung brauchen wir beispielsweise sexuelle Früherziehung, die nicht sexistisch geprägt ist und für LGBTI sensibilisiert. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir Parität, gerechte Gehälter und Renten. Im Gesundheitsbereich müsste über Gewalt während der Schwangerschaft und der Geburt aufgeklärt und selbige verhindert werden. Insgesamt ist es eine Bandbreite an Bereichen, in denen das feministische Gedankengut Wurzeln schlagen sollte. Das macht den Männern, den Regierungen, Angst. Bei der Diskussion um eine neue Verfassung haben wir große Schritte vor uns.

HOLZLÖFFEL GEGEN VAMPIRBULLEN


„La primera línea resiste“ Der erste Block leistet Widerstand (Foto: Grafika Diablo Rojo)

Als am 25. Oktober hunderttausende Menschen anlässlich der Demonstration La marcha más grande de Chile (die größte Demonstration Chiles) in Santiago zusammenkommen, stehen am Rande des Demonstrationszuges unzählige Musiker*innen vor der Nationalbibliothek. In einem ergreifenden Moment spielen sie das Lied „El derecho de vivir en Paz“ von Victor Jara, während tausende Demonstrierende diese Ode an das Recht, in Frieden zu leben, mitsingen. Jara, neben der Folklore-Musikerin Violeta Parra der wichtigste Vertreter der Liedform des nueva canción chilena, wurde wenige Tage nach dem Putsch 1973 brutal von den Militärs ermordet. Er schrieb das Lied 1969 in Solidarität mit dem vietnamesischen Kommunist*innenführer Ho Chi Minh. Fünfzig Jahre später veröffentlichen rund dreißig namhafte chilenische Musiker*innen eine Neuinterpretation des Liedes, in der die Anspielungen an den Vietnamkrieg auf die aktuelle Situation umgedeutet werden. So heißt es nun: „Das Recht zu leben, ohne Angst in unserem Land, bewusst und vereint, mit der ganzen Menschheit. Für einen neuen Sozialvertrag, Würde und Bildung, damit es keine Ungleichheit mehr gibt“. Auch das emblematische „El pueblo unido jamás será vencido“ („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“), 1973 von Sergio Ortega Alvarado geschrieben und gemeinsam mit seiner Band Quilapayún aufgenommen, wird wieder gespielt. Ein weiteres oft gesungenes Lied ist der Klassiker „El baile de los que sobran“ (Der Tanz derer, die übrig bleiben) der Rockgruppe Los Prisioneros. Der 1986, noch zu Zeiten der Diktatur veröffentlichte Song, thematisiert die gesellschaftlichen Ungleichheiten und die Chancenlosigkeit eines großen Teiles der Bevölkerung – also genau das, was 33 Jahre später die Menschen wieder auf die Straße treibt.

„Brenne, wache auf, tritt zurück Piñera“

Ana Tijoux, in Frankreich aufgewachsene Tochter exilierter Widerstandskämpfer*innen, schreibt den Protesten in Chile von Paris aus eine Hymne. Der Beat des Hip-Hop Tracks namens „Cacerolazo“, der in drei Minuten die wesentlichen Forderungen der Bewegung auf den Punkt bringt, ist eben das erwähnte rhythmische Schlagen der Holzlöffel auf die Kochtöpfe. Am 21. Oktober veröffentlicht sie eine Kurz-Version, sechs Tage später dann den kompletten Track. „Brenne, wache auf, tritt zurück Piñera“, rappt Tijoux, „es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“. Das über anderthalb Millionen Mal angesehene Video zu dem Lied zeigt brutale Repression durch Polizei und Militär, aber auch die kraftvollen, kreativen Proteste, und wird am Ende um Animationen von Aliens ergänzt – eine Anspielung auf die geleakte und in dem Lied gesampelte Äußerung von Cecila Morel, der Frau des Präsidenten Piñera, die die Proteste als „eine Invasion Außerirdischer“ bezeichnete. Bereits 2011 schrieb Tijoux, die in den sozialen Medien pausenlos Beiträge zur Lage in Chile teilt, den Studierendenprotesten mit „Shock“ einen Song.

Auch dem Lied „Paco vampiro“ (Vampirbulle) des chilenischen Popmusikers Alex Anwandter steuerte Tijoux ein paar Zeilen hinzu. „Paco vampiro“ thematisiert vor allem die brutale Repression der carabineros, der chilenischen Polizei. Die Zeile „Es kommt immer ein Feind“ nimmt Bezug auf deren früheren Werbeslogan: „Un amigo siempre“ („Immer ein Freund“). Doch ein Freund waren die carabineros für den Großteil der Bevölkerung eben nie – sondern eher, wie es in dem Lied heißt, „Vampirbullen“, denen es „nach Blut dürstet“. Am Ende des Liedes klagt Tijoux an: „Wie kannst du Frieden verlangen, wenn du folterst, wie kannst du Frieden verlangen, wenn du tötest?“ Das Video zum Lied zeigt thematisch passend drastische Aufnahmen von Polizeigewalt.

Mit vollem Einsatz, ansonsten: warum überhaupt?

Einen ruhigen, eindringlichen Song schrieb Folklore-Sänger Nano Stern mit „Regalé mis ojos“ („Ich habe meine Augen gegeben“). Damit greift er ein Zitat des 21-jährigen Psychologiestudenten Gustavo Gatica auf, der am 8. November durch Schrotgeschosse der carabineros das Augenlicht verlor. Tief beeindruckt von dieser Nachricht nahm Stern, zu dem Zeitpunkt in Australien auf Tour, das Lied im Hotel auf. „Ich singe für Gustavo und all die Tage, die er nicht sehen wird“, um in der zweiten Strophe fortzufahren „Ich singe (…), bin wütend ob der Ungleichheit, ich singe, denn der Vers ist meine Waffe in dieser Gesellschaft“.

Auch die momentan erfolgreichste chilenische Musikerin, die Sängerin Mon Laferte, nahm, ebenfalls spontan im Hotel und gegen den Widerstand ihrer Plattenfirma ein von den Protesten inspiriertes Lied auf. „Plata Ta Tá“ heißt der Reggaeton, auf dem auch der puerto-ricanische Sänger Guaynaa zu hören ist. Der lautmalerische Titel bezieht sich sowohl auf das Geräusch des cacerolazo, als auch auf die im Song angeprangerte Geldgier der Machthabenden. Bei der Verleihung der Latin-Grammys am 15. November in Las Vegas verlas Laferte ein Gedicht der chilenischen Liedermacherin La Chinganera und enthüllte auf dem roten Teppich die auf ihre Brust geschriebene Nachricht „In Chile foltern, vergewaltigen und töten sie“. Den Vorwürfen, es sei ihr nur um einen Skandal gegangen, um ihren Song zu vermarkten, stimmte sie in einem auf Instagram veröffentlichten Video zu: Sie wolle mit „Plata Ta Tá“ maximale Reichweite erzielen, um so viele Menschen wie möglich auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Deshalb auch die Wahl des populären Reggaeton-Rhythmus. Die in Mexiko lebende Laferte reiste spontan nach Chile, um auf Demonstrationen und im Frauengefängnis von Valparaíso Konzerte zu geben, unter anderem mit Liedern von Violeta Parra.

Die größte Reichweite, nicht nur im Internet, sondern im öffentlichen Raum weltweit, erreichte die Performance „Un violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) des feministischen Kollektivs LasTesis aus Valparaíso (siehe Interview LN 547).

Zu den hier aufgeführten Werken reiht sich ein unüberschaubares und immer reicher werdendes Panorama an vom Protest inspirierten – und diesen wiederum inspirierenden – künstlerischen Ausdrucksformen. Um mit den letzten Zeilen aus „Plata Ta Tá“ zu schließen: „Con todo, si no ¿pa’ que?“ Mit vollem Einsatz, ansonsten: warum überhaupt?

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