GEGEN DAS REPRESSIVE VERGESSEN

„Das Lied ist eine Waffe“, sagte Víctor Jara 1971 der chilenischen Zeitung La Nación. Sein gemeinsam mit Mitgliedern der Folklore-Gruppe Inti-Illimani geschriebenes „Venceremos“ (Wir werden siegen) begleitete Salvador Allende auf dem Weg zum Wahlerfolg. Als dann der Putsch die Errungenschaften Allendes Regierungszeit zunichtemachte, versuchten die Militärs mit aller Kraft, auch die Musik zu zerstören: Inti-Illimani wurden ins Exil gezwungen, Víctor Jara im Estadio Chile, welches heute seinen Namen trägt, ermordet. In der als Apagón Cultural (etwa: kulturelles Blackout) bekannten Zeit wurden nicht nur Aufnahmen konfisziert und vernichtet, sondern sogar traditionelle Musikinstrumente wie Quena (Flöte), Bombo (Trommel) und Charango (ein zwölfseitiges Saiteninstrument, der Korpus bestand ursprünglich aus dem Panzer eines Gürteltiers) verboten. Damit endete die Blütezeit der Bewegung der nueva canción chilena. Diese war ein Jahrzehnt zuvor aus Violeta Parras Bemühungen, Lieder der Folklore aus den ländlichen Gebieten nach Santiago zu bringen, entstanden. Das Einbeziehen lokaler Folklore war prägend für damalige politische Lieder – und heute sampeln Rapperinnen wie die chilenische Musikerin Ana Tijoux in Chile oder die guatemaltekische Rapperin Rebeca Lane Folklore-Elemente für ihre Tracks.

Aus den finsteren Jahren der Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern schrieben Bands wie die Rockgruppe Los Prisioneros in Chile, deren „El baile de los que sobran“ eine der Hymnen der Revolte von 2019 und des Paro Nacional 2021 in Kolumbien wurde, oder die Punkband Los Violadores in Argentinien über die Perspektivlosigkeit ihrer Generation und die Allgegenwärtigkeit der Repression. Charly García, einer der bekanntesten Vertreter des rock nacional in Argentinien, sang 1983 in „Los Dinosaurios“ über die Möglichkeit, jederzeit verschwunden gelassen zu werden, aber auch darüber, dass die als Dinosaurier bezeichneten Militärs gestürzt werden können.

„Das Lied ist eine Waffe“

Zu Beginn der Revolte im Oktober 2019 in Chile wurde Jaras „El derecho de vivir en paz“, ursprünglich in Solidarität mit Vietnam geschrieben, in einer gemeinsamen Aktion von zahlreichen bekannten Musiker*innen aus Chile ein neuer, auf die aktuelle Situation im Land angepasster Text verliehen. Im Dezember des Jahres spielten Inti-Illimani selbst vor einem riesigen Demonstrationszug auf der Plaza de la Dignidad in Santiago „El pueblo unido“ von Quilapayún und Jaras Ode an das Recht, in Frieden leben zu dürfen. Auch von der Marcha más grande de Chile (die größte Demonstration Chiles) einen Monat zuvor kursieren Aufnahmen, in denen das Lied von Tausenden Demonstrierenden gemeinsam gesungen wird.

Das Protestlied als Genre im spanischsprachigen Raum fand seinen Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren. In einer Erklärung zum ersten Treffen des Protestlieds, welches 1967 in Varadero auf Kuba stattfand, hieß es: „Das Lied muss eine Waffe im Dienst der Völker sein, kein Konsumprodukt des Kapitalismus, um sie weiter zu spalten“. Die Überzeugung, für die Arbeiterklasse zu singen, ihr selbst anzugehören, gehörte damals dazu.

Über ein halbes Jahrhundert später gibt es auf dem vom Neoliberalismus und Konservatismus gebeutelten Kontinent immer noch mehr als genug Gründe, sich gegen die herrschenden Ungerechtigkeiten musikalisch aufzulehnen. Die Zahl derer, die mit der Gitarre in der Hand ihrer Wut Ausdruck verleihen, mag abnehmen, – aber es gibt sie noch, die kolumbianische Liedermacherin La Muchacha ist ein herausragendes Beispiel. Ihr „No Azara” entstand im Rahmen des Generalstreiks in Kolumbien: „Ihre Grausamkeit bringt mich nicht zum Schweigen. Wir haben die Power der Minga”. Der Begriff Minga bezeichnete eigentlich einen kollektiven Arbeitseinsatz, wird aber synonym für politische Versammlungen verwendet.

Die Lieder überschreiten unzählige Generationen und Grenzen

Soziale Medien haben dabei die Art beeinflusst, wie Musik entsteht und verbreitet wird. Die in sozialen Netzwerken verbreiteten kurzen Aufnahmen von Demonstrationen sind oft von Musik unterlegt und Musiker*innen wiederum nutzen dort aufgenommene Tonsequenzen, Sprechchöre oder das charakteristische Schlagen der Kochlöffel auf den leeren Töpfen beim Cacerolazo für ihre Lieder und Aufnahmen von Demonstrationen für Musikvideos.

Im alternativen kolumbianischen Musikmagazin Shock versucht Juan Carlos Escobar Campus anhand von Daten des Musikstreamingdienstes Spotify zu untersuchen, wie sich die Hörgewohnheiten junger Menschen rund um den Beginn des Paro Nacional verändert haben. Dabei fällt ihm auf, dass etwas weniger Reggaeton gehört wird. Escobar Campus mutmaßt, dass dies an der fehlenden politischen Positionierung der bekanntesten Vertreter*innen dieser Musikrichtung liegen könnte. Stattdessen erhöhen sich die Wiedergabezahlen von Liedern von Calle 13 und lokalen Künstler*innen, wie beispielsweise des Liedes „¿Quién Los Mató?“ von dem Sänger Junior Jein und drei weiteren Schwarzen Künstler*innen, das zum Genre des Salsa Choke (Mischung aus Salsa und urbanen Klängen) gehört. Das Lied erinnert an ein Massaker an fünf Schwarzen Jugendlichen in einem Zuckerrohrfeld bei Cali. Jein wurde am 14. Juni 2021 selbst von Auftragsmördern erschossen (siehe LN 565/566). Auch die älteren politischen Lieder, wie „El pueblo unido“, wurden wieder viel öfter gehört. Und natürlich sind die Proteste in Kolumbien immer musikalisch: Schon zum Generalstreik 2019 spielten 300 Musiker*innen verschiedener Konservatorien zu einem „Cacerolazo sinfónico“ in Bogotá auf. Andere tourten als „Un canto por Colombia” durch das Land. Und bei vielen Demos laufen lokale Percussiongruppen mit, um die Sprechchöre schlagkräftig zu unterstützen.

Zusätzlich zu eher länderspezifischen Protestbewegungen bringen kontinentübergreifende Kämpfe, wie etwa die der feministischen Bewegungen für das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung und gegen Feminizide, ihre Lieder hervor: Das hymnische „Canción sin Miedo“ (Lied ohne Angst) der mexikanischen Sängerin Vivir Quintana oder das, wie die 2015 in Argentinien entstandene Bewegung benannte, „Ni una menos“ der queeren Reggaetonera Chocolate Remix. Im bedrückenden Panorama der Unterdrückung sexueller Vielfalt und reproduktiver Rechte in Mittelamerika schafft Rebeca Lane gemeinsam mit Audry Funk aus Mexiko und Nakury aus Costa Rica mit Somos Guerreras ein ermutigendes Projekt (siehe LN 541/542).

In seinem Buch El canto de la tribu bezeichnet der mexikanische Musiker Jorge Velsaco Bewegungen wie die nueva canción chilena als Möglichkeit, historische Momente von unten zu erzählen und sich gegen das von politisch Machthabenden angestrebte repressive Vergessen zu wehren. Dass das gelingt, zeigt sich darin, wie die erwähnten Lieder unzählige Generationen und Grenzen überschreiten. Ob sie nun als Protestlied gedacht waren oder nicht: Sie verbinden Kämpfe und Menschen, sind Ausdruck von Selbstermächtigung und der ermutigenden Gewissheit, dass es immer weiter geht.

HOLZLÖFFEL GEGEN VAMPIRBULLEN


„La primera línea resiste“ Der erste Block leistet Widerstand (Foto: Grafika Diablo Rojo)

Als am 25. Oktober hunderttausende Menschen anlässlich der Demonstration La marcha más grande de Chile (die größte Demonstration Chiles) in Santiago zusammenkommen, stehen am Rande des Demonstrationszuges unzählige Musiker*innen vor der Nationalbibliothek. In einem ergreifenden Moment spielen sie das Lied „El derecho de vivir en Paz“ von Victor Jara, während tausende Demonstrierende diese Ode an das Recht, in Frieden zu leben, mitsingen. Jara, neben der Folklore-Musikerin Violeta Parra der wichtigste Vertreter der Liedform des nueva canción chilena, wurde wenige Tage nach dem Putsch 1973 brutal von den Militärs ermordet. Er schrieb das Lied 1969 in Solidarität mit dem vietnamesischen Kommunist*innenführer Ho Chi Minh. Fünfzig Jahre später veröffentlichen rund dreißig namhafte chilenische Musiker*innen eine Neuinterpretation des Liedes, in der die Anspielungen an den Vietnamkrieg auf die aktuelle Situation umgedeutet werden. So heißt es nun: „Das Recht zu leben, ohne Angst in unserem Land, bewusst und vereint, mit der ganzen Menschheit. Für einen neuen Sozialvertrag, Würde und Bildung, damit es keine Ungleichheit mehr gibt“. Auch das emblematische „El pueblo unido jamás será vencido“ („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“), 1973 von Sergio Ortega Alvarado geschrieben und gemeinsam mit seiner Band Quilapayún aufgenommen, wird wieder gespielt. Ein weiteres oft gesungenes Lied ist der Klassiker „El baile de los que sobran“ (Der Tanz derer, die übrig bleiben) der Rockgruppe Los Prisioneros. Der 1986, noch zu Zeiten der Diktatur veröffentlichte Song, thematisiert die gesellschaftlichen Ungleichheiten und die Chancenlosigkeit eines großen Teiles der Bevölkerung – also genau das, was 33 Jahre später die Menschen wieder auf die Straße treibt.

„Brenne, wache auf, tritt zurück Piñera“

Ana Tijoux, in Frankreich aufgewachsene Tochter exilierter Widerstandskämpfer*innen, schreibt den Protesten in Chile von Paris aus eine Hymne. Der Beat des Hip-Hop Tracks namens „Cacerolazo“, der in drei Minuten die wesentlichen Forderungen der Bewegung auf den Punkt bringt, ist eben das erwähnte rhythmische Schlagen der Holzlöffel auf die Kochtöpfe. Am 21. Oktober veröffentlicht sie eine Kurz-Version, sechs Tage später dann den kompletten Track. „Brenne, wache auf, tritt zurück Piñera“, rappt Tijoux, „es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“. Das über anderthalb Millionen Mal angesehene Video zu dem Lied zeigt brutale Repression durch Polizei und Militär, aber auch die kraftvollen, kreativen Proteste, und wird am Ende um Animationen von Aliens ergänzt – eine Anspielung auf die geleakte und in dem Lied gesampelte Äußerung von Cecila Morel, der Frau des Präsidenten Piñera, die die Proteste als „eine Invasion Außerirdischer“ bezeichnete. Bereits 2011 schrieb Tijoux, die in den sozialen Medien pausenlos Beiträge zur Lage in Chile teilt, den Studierendenprotesten mit „Shock“ einen Song.

Auch dem Lied „Paco vampiro“ (Vampirbulle) des chilenischen Popmusikers Alex Anwandter steuerte Tijoux ein paar Zeilen hinzu. „Paco vampiro“ thematisiert vor allem die brutale Repression der carabineros, der chilenischen Polizei. Die Zeile „Es kommt immer ein Feind“ nimmt Bezug auf deren früheren Werbeslogan: „Un amigo siempre“ („Immer ein Freund“). Doch ein Freund waren die carabineros für den Großteil der Bevölkerung eben nie – sondern eher, wie es in dem Lied heißt, „Vampirbullen“, denen es „nach Blut dürstet“. Am Ende des Liedes klagt Tijoux an: „Wie kannst du Frieden verlangen, wenn du folterst, wie kannst du Frieden verlangen, wenn du tötest?“ Das Video zum Lied zeigt thematisch passend drastische Aufnahmen von Polizeigewalt.

Mit vollem Einsatz, ansonsten: warum überhaupt?

Einen ruhigen, eindringlichen Song schrieb Folklore-Sänger Nano Stern mit „Regalé mis ojos“ („Ich habe meine Augen gegeben“). Damit greift er ein Zitat des 21-jährigen Psychologiestudenten Gustavo Gatica auf, der am 8. November durch Schrotgeschosse der carabineros das Augenlicht verlor. Tief beeindruckt von dieser Nachricht nahm Stern, zu dem Zeitpunkt in Australien auf Tour, das Lied im Hotel auf. „Ich singe für Gustavo und all die Tage, die er nicht sehen wird“, um in der zweiten Strophe fortzufahren „Ich singe (…), bin wütend ob der Ungleichheit, ich singe, denn der Vers ist meine Waffe in dieser Gesellschaft“.

Auch die momentan erfolgreichste chilenische Musikerin, die Sängerin Mon Laferte, nahm, ebenfalls spontan im Hotel und gegen den Widerstand ihrer Plattenfirma ein von den Protesten inspiriertes Lied auf. „Plata Ta Tá“ heißt der Reggaeton, auf dem auch der puerto-ricanische Sänger Guaynaa zu hören ist. Der lautmalerische Titel bezieht sich sowohl auf das Geräusch des cacerolazo, als auch auf die im Song angeprangerte Geldgier der Machthabenden. Bei der Verleihung der Latin-Grammys am 15. November in Las Vegas verlas Laferte ein Gedicht der chilenischen Liedermacherin La Chinganera und enthüllte auf dem roten Teppich die auf ihre Brust geschriebene Nachricht „In Chile foltern, vergewaltigen und töten sie“. Den Vorwürfen, es sei ihr nur um einen Skandal gegangen, um ihren Song zu vermarkten, stimmte sie in einem auf Instagram veröffentlichten Video zu: Sie wolle mit „Plata Ta Tá“ maximale Reichweite erzielen, um so viele Menschen wie möglich auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Deshalb auch die Wahl des populären Reggaeton-Rhythmus. Die in Mexiko lebende Laferte reiste spontan nach Chile, um auf Demonstrationen und im Frauengefängnis von Valparaíso Konzerte zu geben, unter anderem mit Liedern von Violeta Parra.

Die größte Reichweite, nicht nur im Internet, sondern im öffentlichen Raum weltweit, erreichte die Performance „Un violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) des feministischen Kollektivs LasTesis aus Valparaíso (siehe Interview LN 547).

Zu den hier aufgeführten Werken reiht sich ein unüberschaubares und immer reicher werdendes Panorama an vom Protest inspirierten – und diesen wiederum inspirierenden – künstlerischen Ausdrucksformen. Um mit den letzten Zeilen aus „Plata Ta Tá“ zu schließen: „Con todo, si no ¿pa’ que?“ Mit vollem Einsatz, ansonsten: warum überhaupt?

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