BLICK IN DEN SPIEGEL

Zumindest der juristische Weg in den weiteren Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) scheint gesichert. Mit der Zustimmung des Verfassungsgerichts kann nun der Kongress durch das Fast-Track Verfahren das Friedensabkommen umsetzen. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmegenehmigung, welche die nötigen juristischen Reformen beschleunigt und dadurch die Anerkennung des Friedensabkommens als Gesamtwerk ermöglicht.

Da im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen, ist die schnelle Umsetzung des Abkommens, insbesondere für die FARC, entscheidend.  Statt zwei Jahre wird der legislative Prozess nur etwa sechs Monate in Anspruch nehmen. Gleichzeitig garantiert dies, dass zukünftige Präsidenten den Inhalt des Friedensabkommens entsprechend der aktuellen Formulierungen umsetzen müssen. Bestimmte Gesetze wie etwa das Amnestiegesetz, das nun bereits Ende Dezember vom Parlament verabschiedet wurde, sind für den weiteren Verlauf des Prozesses von entscheidender Bedeutung – denn sie legen die Grundlage für die (Re-)Integration der Kämpfer*innen in die Gesellschaft.

In der Mehrheit der Übergangszonen sind noch keine Unterkünfte vorhanden.

Entsprechend dem 180-Tage-Plan, der als Teil des Abkommens im November verabschiedet wurde, müssten sich die Ex-Guerrillerxs seit Mitte Dezember in den sogenannten Übergangszonen befinden. In diesen Sondergebieten sollen die Kämpfer*innen entwaffnet und resozialisiert werden, um im Anschluss in die Gesellschaft (re-)integriert werden zu können. Allerdings verzögerte sich die Errichtung der Sammelzentren von Beginn an: In der Mehrheit der 23 Übergangszonen sind immer noch keine Unterkünfte und Zugangswege vorhanden. Daher befinden sich die meisten FARC-Kämpfer*innen nach wie vor in den temporalen Lagern, in denen sie nach dem verlorenen Referendum gesammelt wurden.

Solange die Guerrillerxs nicht in den endgültigen Übergangszonen sind, befinden sie sich jedoch noch in einer gesetzlichen Grauzone. Es ist beispielsweise unklar, wer für die Ernährung und gesundheitliche Versorgung der Ex-Kämpfer*innen zuständig ist. Julián Suárez, Cousin des 2010 getöteten FARC-Anführers Luis Suárez alias „Mono Jojoy“, beschreibt im Interview mit der Tageszeitung El Espectador seine Sorgen: „Als wir noch im Krieg waren, gab man uns Schuhe, Kleidung, Essen; es gab einen Arzt oder zumindest Krankenpfleger. Aber wenn jemand hier in der Zone krank wird, muss derjenige zum Camp des Prüf- und Auswertungsmechanismus (MMV) – aber offenbar ist dort niemand auf solche Fälle vorbereitet.“ Er erklärte zudem, dass ihnen nur wenige, teilweise bereits verdorbene Lebensmittel zur Verfügung ständen.

Da viele der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen keine gültigen Ausweise besitzen, ist ihnen der Zugang zum normalen Gesundheitssystem verwehrt. Die unklare Situation sorgt bei vielen Guerrillerxs für Frustration. Dazu kommt die schwelende Angst, der Massenmord an der Union Patriótica (UP) Ende der 1980er Jahre könne sich wiederholen. Mindestens 5000 Mitglieder der Partei, die als eine Art politischer Arm der FARC gegründet worden war, wurden damals  innerhalb weniger Jahre ermordet – darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.

Diese Angst wird verstärkt durch die enorme Zunahme der Gewalt gegen Menschenrechts- und Friedensaktivist*innen (siehe Kasten). Allein die linke Basisorganisation Marcha Patriótica beklagt die Ermordung von mindestens 127 ihrer Mitglieder im vergangenen Jahr. Dazu kommt, dass viele FARC-Kämpfer*innen durchaus von dem lukrativen Drogenhandel profitieren und nicht bereit sind, diese Einnahmen für eine ungewisse Zukunft aufzugeben.

So haben sich in den vergangenen Monaten einige FARC-Kommandos aus den Reihen der Guerilla gelöst. Anfang Januar kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen desertierenden Gruppen und den FARC: In der Region Caquetá lieferten sich Dissident*innen der 14. Front und Kämpfer*innen des Kommandos „Teófilo Forero“ blutige Kämpfe, bei denen mindestens zwei Menschen getötet wurden. Die Auseinandersetzung fand nahe der Stadt San Vicente del Caguán statt – dem Austragungsort der gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Andrés Pastrana und der damaligen FARC-Führung. Der Ort hat somit einen besonderen symbolischen Wert für die Moral der Kämpfer*innen.

Bereits kurz nach den Kämpfen erklärte das kolumbianische Militär in einer offiziellen Verlautbarung die Vorfälle für nicht tolerierbar: „Wenn die FARC ihre Waffen benutzen – und sei es gegen ihre eigenen Dissident*innen – brechen sie damit den Waffenstillstand. Es ist die Pflicht des Militärs, solche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen“. Die FARC hingegen erläuterten, dass es sich bei diesen Akten um eine „zielgerichtete Sabotage des Friedensprozesses“ handele: Die desertierenden Gruppen würden Bauern und Bäuerinnen mit Gewalt zwingen, den Frieden mit allen Mitteln zu boykottieren.

Menschenrechtsaktivist*innen fürchten, dass es – ähnlich wie nach dem Friedensprozess mit den paramilitärischen Gruppen Anfang der 2000er Jahre – zu einer Aufspaltung in bewaffnete Gruppierungen kommen könne, die nicht zu kontrollieren und nicht an einem Frieden interessiert seien.

Der Friedensprozess steht auf wackligen Füßen.

Weitere Angriffe dissidierter FARC-Kämpfer*innen scheinen ihnen Recht zu geben: So sollen Guerrillerxs die Bürgermeisterin der Siedlung La Paz, wo sich eine der Übergangszonen befindet, massiv mit Waffen bedroht haben.Auch für die Ermordung der Aktivistin Emilsen Mayoma und ihres Ehemanns am 17. Januar war laut Aussagen der FARC-Führung ein Dissident verantwortlich. Dabei handele es sich um den Bruder Emilsens, der die Reihen der Guerrilla im Dezember 2016 schwer bewaffnet verlassen hatte und dafür von seiner Schwester stark kritisiert worden war.

Während der Friedensprozess mit den FARC in den vergangenen Monaten ins Laufen kam, verzögerten sich parallel die Verhandlungen mit der zweitgrößten Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN). Die Vorgespräche waren ins Stocken geraten, nachdem die Guerilla im April Odín Sanchéz entführt hatte. Der Politiker hatte sich gegen seinen Bruder Patrocinio Sanchéz austauschen lassen, der sich drei Jahre in den Händen der ELN befand und während dieser Zeit schwer erkrankt war.

Nachdem die Guerilla sich zunächst monatelang mit Verweis auf Sanchéz’ paramilitärische Verbindungen und Korruptionsskandale weigerte, den Politiker freizulassen, scheint die Vorbereitungskommission nun eine Einigung erzielt zu haben. Beide Parteien verkündeten, dass Sanchéz am 2. Februar freigelassen werde. Gleichzeitig sollen die offiziellen Friedensverhandlungen in Quito am 7. Februar endgültig beginnen. Überschattet wird diese neue Phase des Friedensprozesses von einigen blutigen Attentaten, die die ELN in den vergangenen Monaten verübte. Zudem erhielt die Guerilla laut eigenen Aussagen ein stattliches Lösegeld für die Freilassung Sanchéz.

Der Friedensprozess steht demnach nach wie vor auf wackligen Füßen. Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis wirklich überall im Land Frieden herrscht – solange die paramilitärischen Strukturen nicht ausgelöscht und ein Friedensabkommen mit den restlichen Guerillas geschlossen wird, wird die Situation wahrscheinlich zunächst eher schlimmer als besser. Auch die wirtschaftliche Lage wird laut lokalen Beobachter*innen die nächsten Monate für soziale Unruhen sorgen. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass nun der Weg frei ist für die Beschäftigung mit den realen Problemen der kolumbianischen Gesellschaft. So betonte auch Frank Pearl, Mitglied der Regierungsdelegation in den Friedensverhandlungen mit den FARC: „Der bewaffnete Konflikt mit den FARC hat jahrzehntelang als Ausrede gedient, um die Abwesenheit des Staates in weiten Teilen Kolumbiens zu verstecken. Das ist eine Realität, die nun mit dem Friedensabkommen geändert werden muss“, erklärte er bei einer Konferenz in Santiago de Chile. „Der interne bewaffnete Konflikt war eine Ausrede dafür, dass es keinen Staat, kein Gesundheitssystem, keine Bildung und keine Gerechtigkeit gab. Jetzt ist diese Ausrede weg und wir müssen endlich unser Spiegelbild betrachten.“ Bleibt zu hoffen, dass die Regierung bereit ist, sich mit diesem Spiegelbild auseinanderzusetzen.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

IMMER DIE GLEICHEN FEHLER

Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)
Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Zahlen sind erschreckend: Mit durchschnittlich 41 Morden pro 100.000 Einwohner*innen jährlich liegt die Mordrate in Zentralamerika doppelt so hoch wie in Zentralafrika und sieben Mal höher als in Südostasien. Vier der sechs Länder und drei der sechs Städte, in denen weltweit die meisten Gewalttaten verzeichnet werden, befinden sich in Zentralamerika. In San Pedro Sula, Honduras, erreichte die Mordrate 2015 pro 100.000 Einwohner*innen 141 Morde – und war damit viel höher als in Acapulco, Culiacán, Ciudad Juárez oder Tijuana, die in den Medien weitaus präsenter sind. Wie lassen sich diese Extreme erklären? Welche konkrete Rolle spielt dabei der Drogenhandel?
Durch seine geographische Lage erfüllt Zentral- amerika für den Drogenhandel die Funktion einer Brücke. Ein bedeutender Anteil des Kokains, das aus Kolumbien in die Vereinigten Staaten eingeführt wird, wird durch die zentralamerikanischen Staaten geschleust. Dabei hat diese Route durchaus ihre Tücken. So ist die Region Darién zwischen Kolumbien und Panama ein Streifen dicht bewachsenen Urwaldgebiets, das den Transport zu Lande behindert. Doch die Drogenhändler*innen haben Wege gefunden, indem sie ihr Gut auf kleinen Schiffen entlang der Nordküste Panamas und der Südküste Costa Ricas befördern. Weiter gelangt es dann über Landstraßen bis nach Guatemala. Von dort wiederum wird die Ware auf verschiedenen Wegen nach Nordmexiko gebracht, in den meisten Fällen über Straßen nahe des Pazifiks, um sie bis ans Ziel, auf den weltweit größten Drogenmarkt, zu schaffen: in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dass der Drogenhandel kriminelle Aktivitäten befördert, daran dürfte kaum jemand zweifeln. Der Mechanismus ist schnell erklärt: Da den Drogenhändler*innen keine legalen Mittel zur Konfliktlösung zur Verfügung stehen, greifen sie auf die Gewalt als Mittel zurück, um bei Konflikten untereinander eine Entscheidung herbeizuführen. Auf illegalen Märkten herrscht also deshalb stets mehr Gewalt als auf legalen, weil es weder Gesetze noch Richter*innen gibt – was natürlich nicht heißen soll, dass diese keinen Einfluss darauf ausüben, wie die illegalen Märlte in ihrer Produktions- und Handelslogik funktionieren. Dennoch ist die Verbindung zwischen Drogen und Gewalt komplex und weniger zwangsläufig, als es auf den ersten Blick scheint.
Am Fall Zentralamerikas ist zu sehen, dass sich das Gewaltausmaß nicht auf den Drogenhandel an sich, sondern auf die Stärke oder Schwäche des jeweiligen Staates zurückführen lässt. Zum Beispiel Nicaragua: Obwohl das Land beim Transport von Kokain in die USA eine Schlüsselrolle einnimmt, sind die Mordraten niedriger als in den Nachbarländern. Genauso verhält es sich mit Costa Rica, wo die aus Kolumbien angelieferten Drogen zum ersten Mal an Kontaktleute für den Weitertransport übergeben werden und gleichzeitig die Ziffern für Gewalttaten ähnlich niedrig sind wie in westeuropäischen Ländern.
Die Höhe der Einnahmen aus dem illegalen Drogenhandel kann die Zu- oder Abnahme von Gewalt nicht erklären. Die Menge produzierter und gehandelter Drogen ist zum Beispiel in Südostasien eben so hoch wie in Lateinamerika. Trotzdem verzeichnen Länder wie Thailand, Vietnam und Indonesien fünfmal niedrigere Mordraten als die Region Zentralamerika. Wie lässt sich das erklären? Mit der Stärke oder Schwäche staatlicher Strukturen und der Fähigkeit der jeweiligen Staaten dem Drogenhandel entgegenzutreten: Länder wie Guatemala oder El Salvador, die jahrzehntelang unter Bürgerkriegen zu leiden hatten, sind offensichtlich nicht in der Lage, den Drogenhandel effektiv zu bekämpfen. Immer wenn ihre Regierungen US-amerikanische „Finanzhilfen“ aus verschiedenen zwischenstaatlichen und staatenübergreifenden Programmen zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels erhalten, akzeptieren sie rundheraus die Strategien des sogenannten Drogenkriegs; nämlich mit Bestrafung und Verbot gegen den Drogenhandel und -konsum vorzugehen. Dadurch lösen sie einen Teufelskreis aus, der die staatlichen Strukturen nur noch weiter schwächt. Denn das Verbot des Drogenhandels ermöglicht ein parasitäres Beziehungsgeflecht zwischen dem Staat und kriminellen Gruppierungen. Der Drogenhandel dringt in die politischen Institutionen ein und bringt die demokratische Stabilität in Gefahr. Da die politischen Institutionen es nicht schaffen, die Einhaltung der Gesetze abzusichern, wächst das Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden. Das verringert wiederum die Legitimität der staatlichen Institutionen und macht das Regieren noch schwieriger.
Es wird eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der die Staaten immer weniger Einfluss auf die Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Region nehmen können. Ihre Politik funktioniert nicht mehr. Daneben werden andere Faktoren wichtiger: In El Salvador zum Beispiel reduzierte sich die Zahl von Gewalttaten von 2012 auf 2013 drastisch, nachdem sich die beiden wichtigsten kriminellen Banden, Mara Salavatrucha 13 und Mara 18, auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten. Die salvadorianischen Institutionen  blieben bei der Aushandlung dieses neuen Gleichgewichts ausgeschlossen. Die Brückenfunktion Zentralamerikas hat sich im Drogenhandel seit den 1980er Jahren kaum verändert. Aber warum nimmt die Gewalt in Ländern wie Guatemala, Honduras und Mexiko noch weiter zu?
Als ihre Bürgerkriege zu Ende waren, verkleinerten Länder wie El Salvador und Guatemala ihre Armeen und Geheimdienste. Eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Polizist*innen, Kämpfer*innen und Soldat*innen fanden jedoch keine anständig bezahlte Arbeit oder Aufnahme in eine der aufstrebenden politischen Parteien. Stattdessen versuchten sie sich im Drogenhandel. Der Überschuss an Waffen aus den Kriegen verschlimmerte die Situation umso mehr.
Eine weitere Konsequenz der Bürgerkriege waren die Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsmigrant*innen,
die sich Ende der achtziger Jahre in Richtung der Vereinigten Staaten auf den Weg machten. Unzureichende Integrationsprogramme, Armut und enttäuschte Erwartungen trieben tausende Jugendliche, die in den Großstädten der USA aufwuchsen, dazu, kriminelle Banden zu gründen, allen voran in Los Angeles. Konservative Politiker*innen forderten daraufhin strengere Gesetze für Migrant*innen oder Kinder von Migrant*innen mit

US-Staatsbürgerschaft. Schließlich begann die US-Regierung, tausende ehemalige Straffällige und Verdächtige in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken.
Während über die „Hilfsprogramme“ weiterhin viele Millionen US-Dollar an die zentralamerikanischen Regierungen gezahlt wurden, um die Region zu „befrieden“, mussten zwischen 1998 und 2015 über 46.000 Jugendliche zwangsweise nach Zentralamerika – vor allem El Salvador, Guatemala und Honduras – zurückkehren und sprachen dabei weder gut Spanisch, noch hatten sie Verwandte, die sie hätten empfangen können. So gründeten viele von ihnen neue Banden. Eine weitere Absurdität dieser Situation offenbart sich, wenn man bedenkt, dass die zentralamerikanischen Regierungen weiterhin die US-amerikanischen Strategien zur Drogenbekämpfung anwenden, während in einigen Bundesstaaten der USA bestimmte Substanzen bereits legalisiert werden.
In Zentralamerika hingegen tobt der Kampf gegen die Drogenkartelle wie eh und je. Die Organisationsstrukturen der illegalen Drogenwirtschaft entwickeln sich derart, dass Maras und andere am Drogenhandel beteiligte Organisationen quasi arbeitsteilig agieren. In diesem Zusammenhang ist die Ausdehnung der mexikanischen Drogenkartelle auf Zentralamerika – neben den mangelnden Perspektiven für ehemalige Armeeangehörige und aus den USA zurückgeschickte junge Menschen – der dritte Faktor, der sich im letzten Jahrzehnt auf die Verbindung von Drogenhandel und Gewalt  ausgewirkt hat.
Der mexikanische „Drogenkrieg“ nahm im Dezember 2006 seinen Anfang. Während sich Mexiko militarisierte, sahen sich die wichtigsten mexikanischen Drogenbanden dazu veranlasst, sicherere Orte für ihre kriminellen Aktivitäten aufzusuchen. Immer mehr Methamphetamine und andere psychoaktive Substanzen werden seitdem in Zentralamerika hergestellt. In den guatemaltekischen Bergregionen und zum Teil in Belize wird Marihuana angepflanzt. Das führte nicht nur zu internen Kämpfen zwischen den Familien, die dort bislang den Drogentransport dominiert hatten, und den mexikanischen Drogenbanden, sondern – was noch wichtiger ist – auch dazu, dass Zentralamerika inzwischen außer einem Umschlagplatz auch eine Produktionsstätte für Drogen ist.
Die aktuelle Drogenpolitik ist nicht nur schädlich, weil sie indirekt die Gewalt fördert, die Rechte der Konsumierenden verletzt und Gelder verschlingt, die andernfalls in Gesundheits-, Präventions- und Bildungsprogramme fließen könnten; sie bringt darüber hinaus Schwierigkeiten beim Regieren mit sich, die über kurze oder lange Sicht die staatlichen Institutionen schwächen. Auch wenn illegale Märkte dazu tendieren, Gewaltdynamiken auszulösen, ist der Drogenmarkt an sich nicht von vornherein von Gewalt bestimmt: Es sind die schwachen Staaten, in denen sich die Bedingungen herausbilden, die zur vermehrten Gewalt im Drogenhandel führen. Das Drogenverbot schwächt die Institutionen und setzt einen Teufelskreis in Gang. Bei der Herausforderung ihn wieder anzuhalten, müssen die zentralamerikanischen Staaten letztlich aufhören, die „Drecksarbeit“ für die Vereinigten Staaten zu erledigen sowie die Konventionen der Vereinten Nationen zu missachten, und sich stattdessen auf ihre dringendsten Aufgaben konzentrieren: die Ungleichheit bekämpfen, die Gewalt mittels Präventionsprogrammen eindämmen und die Einhaltung der Menschenrechte garantieren.
.

Newsletter abonnieren