Mexiko | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Mit dem Rücken zur Wand

In Chiapas trifft das organisierte Verbrechen auf historische Konflikte

In Chiapas wie in ganz Mexiko nimmt die Gewalt in den vergangenen Jahren immer mehr zu. Dabei spielt die organisierte Kriminalität in Form der Kartelle eine große Rolle. Das beeinträchtigt das Leben der Bevölkerung, rebellierende Bewegungen wie die Zapatistas, sowie die Menschenrechtsarbeit.

Von Anne Haas
„Frieden für Comalapa!“ Hier soll eine dritte Kaserne gebaut werden – Sicherheit wird sie kaum bringen (Foto: Gabriela Sanabria)

„Es gibt keine Aggressionen“, antwortet Ende Juni der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf die Frage, wer hinter den jüngsten Attacken gegen die zapatistischen Gemeinden von Moisés y Gandhi im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas stehe. „Generell herrscht Frieden und Ruhe in Chiapas“, beteuert der Präsident. Hin und wieder gebe es Auseinandersetzungen, aber dafür sei die Nationalgarde vor Ort. Außerdem hätten Regierungsprogramme wie Sembrando Vida (dt.: Leben pflanzen) die Armut und Konflikte in der Region verringert.

„Ich weiß nicht von welchem Land AMLO spricht, aber Mexiko ist es nicht“, resümiert kopfschüttelnd Dora Roblero García, Direktorin des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas in Chiapas. Sämtliche Statistiken der mexikanischen Regierung über verschwunden gelassene und ermordete Menschen, sowie die Berichte der vielen Betroffenen bezeugen, dass Chiapas sowie ganz Mexiko aktuell eine neue Welle der Gewalt erlebt. In Mexiko gab es allein im Juni dieses Jahres 2.303 Morde, darunter elf Feminizide pro Tag. Täglich verschwinden 29 Menschen, insgesamt gelten 112.000 Menschen als vermisst. „Das kann auch an AMLO nicht vorbeigegangen sein“, schätzt Roblero die Situation ein. Doch er müsse das sagen, denn die Vorwahlkampagnen für 2024 haben bereits begonnen.

Die Konflikte in Chiapas zeichnen sich durch unterschiedliche Ursachen und Akteure aus. Dort wo sich verschiedene überlagern, ist eine Lösung in weiter Ferne. Die schwersten Auseinandersetzungen zeigen sich an den Orten der seit 2021 öffentlich ausgetragenen Territorialkämpfe von Ablegern zweier mächtiger Kartelle aus den nördlicheren Bundesstaaten Sinaloa und Jalisco. Dabei dreht es sich nicht nur um Drogenschmuggel, wie Fernsehserien suggerieren, sondern gehandelt wird, wofür es einen Markt gibt: Holz, Öl, Edelmetalle, Waffen, Organe, Frauen oder Migrant*innen. Besonders betroffen ist die Grenzregion um Frontera Comalapa, Chicomuselo und La Trinitaria. Hier finden sich ganze Gemeinden und Landstriche, die von den Kartellen dominiert werden. Ein normales Leben, das in dieser heißen Region normalerweise auf der Straße stattfindet, ist hier nicht mehr möglich. Viele Geschäfte schließen, weil sie zum Beispiel kaum an Ware kommen oder das Schutzgeld hoch ist. Andere Läden öffnen aus Sicherheitsgründen nicht mehr regelmäßig. „Da ist ständig die Unsicherheit, dass sie wiederkommen und es erneut Schießereien gibt“, berichtet S., eine Umweltaktivistin aus der Region, die selbst in einem deutschen Medium nicht ihren Namen nennen möchte.

Indessen plant die Regierung eine weitere Militärbasis bei Comalapa. S. fragt sich, „wofür die ganzen Kasernen? Wir haben hier schon drei. Sicherheit haben sie bisher keine gebracht.“ Mit dem Militär kommt oft neue Gewalt in Form von Drogenkonsum und Zwangsprostitution in die Region. „Mein Sohn ist 18, ich habe große Angst, wenn er unterwegs ist. Da ist dieses Gerücht, dass die Kartelle junge Männer zwangsrekrutieren.“ Auch viele Frauen verschwinden. Einige kehren nach einer Entführung traumatisiert zurück, doch es ist ihnen unter Androhung ihres oder des Todes ihrer Familien untersagt zu erzählen, was ihnen angetan wurde. Man spricht von 3.000 geflüchteten Familien, genaue Zahlen gibt es nicht. Dora Roblero beschreibt, warum die Arbeit in diesen zonas de silencio, Regionen des Schweigens, eine ständige Gratwanderung ist: „Als Menschenrechtszentrum dokumentieren wir eigentlich vor Ort die Taten und deren physische und psychische Auswirkungen. Abgesehen davon, dass wir uns selbst in Gefahr bringen und nur unter erhöhtem Sicherheits- und damit Zeitaufwand in die Konfliktgebiete fahren können, gibt es quasi nichts zu dokumentieren. Denn wo die Angst regiert, erzählen die Menschen nicht. Wir oder auch Journalist*innen könnten diese Zeugenberichte auch nicht veröffentlichen, ohne die Menschen erneut in Gefahr zu bringen.“ Selbst juristisches Vorgehen ist problematisch, weil Namen und Adressen in die falschen Hände geraten können.

„Zivilgesellschaftliche Organisation oder Aktivismus sind in diesen Regionen nur noch schwer möglich“, berichtet S. Gemeinsam mit organisierten Gemeinden konnten sie nach vielen Jahren erkämpfen, dass die größte Mine der Region geschlossen wurde und sich der Landkreis Chicomuselo „frei von Minen“ erklärte. Doch solche Erfolge sind dem organisierten Verbrechen gleich. So wurde im Landkreis eine neue Mine zum Abbau von Baryt erschlossen, das unter anderem in der Automobilindustrie, Zementproduktion und für Farbstoffe benötigt wird. Der zuständige Bürgermeister wurde bestochen und die widerständige Dorfversammlung mit Waffen bedroht. Die Menschen riefen die staatliche Umweltschutzbehörde zur Hilfe, doch deren Beamt*innen wurden von bewaffneten Männern des organisierten Verbrechens unter Morddrohungen vertrieben. Während die Lokalpresse regelmäßig berichtet, dass Militär und Nationalgarde von den Kartellen vertrieben wurden, oder für eine der beiden Seiten arbeiteten, ist laut offizieller Erklärung alles unter Kontrolle.

Die Präsenz der großen Kartelle führt zu einer Verschärfung der Gewalt auf vielen Ebenen. Kleinere lokale Gruppen des organisierten Verbrechens, die seit jeher untereinander im Wettstreit um lokale Dominanz stehen, gehen Allianzen mit den großen Kartellen ein. So entwickeln sich lokale Konflikte, wie beispielsweise über die Kontrolle der städtischen Märkte in San Cristóbal de Las Casas. Hier entstehen Orte des Terrors, der die Stadt manchmal für Stunden den Atem anhalten lässt. Bilder wie der Einsatz von Maschinengewehren, Präsenz von sicarios, Auftragskillern in voller Montur an verschiedenen Punkten der Stadt, und Machtdemonstrationen mit Fahrzeugkonvois voller vermummter und bewaffneter junger Männer durch die Innenstadt, sind neu für Chiapas. Mexiko kennt sie jedoch bereits aus den Bundesstaaten des Nordens.

Diese für Chiapas neue violencia generalizada, verallgemeinerte Gewalt, beeinflusst den Alltag und das Sicherheitsempfinden der gesamten Bevölkerung und trifft in diesem Bundesstaat auf diverse historische Konfliktlinien. Allen voran der bis heute ungelöste interne Konflikt aus 1994 durch die vom Staat ins Leben gerufenen Aufstandsbekämpfungsstrategien gegen die zapatistische Bewegung und indigene Gemeinden insgesamt. In den 1990er Jahren kennzeichnete diese Strategie die Gründung von paramilitärischen Gruppen. Vom mexikanischen Militär ausgebildet, bewaffnet und unter dessen Kommando terrorisierten sie ganze Landstriche, ließen Menschen verschwinden. Beispielhaft steht dafür der aktuell vor dem Interamerikanischen Gerichtshof verhandelte Fall des indigenen Aktivisten und Zapatisten Antonio González Méndez, der 1999 gewaltsam verschwand, aber auch verübte Massaker. Bis heute herrscht Strafffreiheit in fast all diesen Fällen.

Auch bei den aktuellen Konflikten wie gegen die zapatistischen Unterstützungsbasen in den Gemeinden von Moisés y Gandhi ist immer wieder von Paramilitärs die Rede, deren Gewalt immer wieder neue Formen annimmt. Seit den 2000er Jahren setzten die Regierungen verstärkt darauf, die Menschen durch finanzielle oder materielle Unterstützungsprogramme an sich zu binden – und somit von den sozialen Bewegungen wie den Zapatistas oder anderen zu fern zu halten. Diese Praxis führte zu einer Spaltung und Zerrüttung sozialer Gefüge in vielen Gemeinden.

AMLOs neues Regierungsprogramm Sembrando Vida treibt diese Problematik auf einen neuen Höhepunkt. Die Zuschüsse bemessen sich an der Fläche von Ackerland, die eine Familie oder Organisation besitzen. Dafür zahlt die Regierung umgerechnet monatlich einen Betrag, der dem städtischen Mindestlohn entspricht. Auf dem Land ist das sehr viel Geld, mehr Land zu haben lohnt sich also. Konflikte um Land sind damit programmiert. Besonders in Chiapas, wo seit 1994 über 100.000 Hektar Land im Zuge des zapatistischen Aufstandes „rückerobert“ wurden. Obwohl diese Ländereien weitgehend staatlich anerkannt sind und die ehemaligen Großgrundbesitzer großzügig vom mexikanischen Staat entschädigt wurden, ist dieses Land dank Sembrando Vida erneut Anlass für Auseinandersetzungen. An zahlreichen Orten besetzen regierungsnahe Gruppen zapatistisches Land, zerstören die dortige Infrastruktur, brechen mit der ökologischen Nutzung, fällen Bäume und versuchen die Bewohner*innen mal mit purer Gewalt, mal durch langwieriges Zermürben, von ihrem Zuhause zu vertreiben. Leisten die Familien Widerstand, besteht die Gefahr, dass jene regierungsnahen Gruppen für Waffen oder Unterstützung Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen eingehen. Das verschärft die Sicherheitslage extrem.

In Moisés y Gandhi erscheint der Konflikt um Land ähnlich. Hier hat die EZLN es mit einer Bäuer*innenorganisation, der ORCAO (Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo), zu tun, welche 1994 an deren Seite kämpfte. Durch Regierungsprogramme korrumpiert haben sie sich von der EZLN entfernt und sich zu einer Art paramilitärischen Gruppe entwickelt, die jedoch ohne Unterstützung des mexikanischen Militärs auskommt – und dennoch zum Vorteil der Regierung agiert. Nicht ohne Grund stellen sie den Vizepräsidenten des Landkreises und werden für ihre nachgewiesenen bewaffneten Attacken gegen Wohnhäuser der Zapatistas, Geiselnahme von Mitgliedern der autonomen zapatistischen Räte, Folter und Mordversuche nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: AMLO verschleiert die Angriffe als interne Konflikte der EZLN. Das ist brandgefährlich und kann als Freifahrtschein für die ORCAO gelesen werden.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass neben den schwer bewaffneten Akteuren wie dem mexikanischen Militär und dem organisierten Verbrechen auch die EZLN eine bewaffnete Organisation ist. Sollte diese sich nach 30 Jahren Waffenruhe dazu entscheiden, die Verteidigung ihrer Gemeinden wieder selbst in die Hand zu nehmen, ist eine Eskalation wahrscheinlich. So stehen alle Akteure auf verschiedene Weise mit dem Rücken zu Wand.

Dora Roblero wagt keine Vorhersage für die Zukunft: „Irgendetwas wird passieren. Was? Wir werden sehen. Währenddessen sind wir weiterhin präsent und machen unsere Arbeit. Was bleibt uns sonst?“

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