Weißer Rauch: Das Spiel ist aus

Manche halten den destape, die Bekannt­gabe eines neuen PRI-Kandidaten also, für eine der wichtigsten Aufgaben eines am­tierenden Präsidenten. Das verrückte da­bei: Die PRI wartet darauf, daß der Präsi­dent den Kandidaten ernennt, und solange weiß nicht mal der Parteivorsitzende, was passieren wird, aber alle betrügen alle, ge­ben falsche Erkärungen ab und versuchen, die Bürger hinters Licht zu führen. Schö­nes Land, wo der “tapadismo” eine der wichtigsten Werte der politischen Kultur ist.
Aber hier die Gegenbeispiele, die uns zu differenzieren helfen: Vor ein paar Tagen ernannte die PAN (Partido Acción Nacio­nal) in einem demokratischen Parteitag ih­ren Kandidaten, und das gibt ihr viel über­zeugendes politisches Kapital. Und vor einigen Wochen ernannte die PRD (Partido de la Revolución Democrática) ebenso ihren Kandidaten, ohne Spielchen, und obwohl manche sagen, Cuauhtémoc Cárdenas sei schon vorher ausgekungelt, war es ein offener Vorgang.
Zum Glück hat sich in Mexiko einiges ge­ändert und der Kandidat der PRI hat heute kein automatisches Freilos zum Präsi­dentenamt mehr. Es wird zumindest ange­nommen, daß man dorthin mitterweile mit errunge­nen, und nicht mit fabrizierten Wähler­stimmen gelangen muß. Auf wel­che Art auch immer, der nächste Präsident muß aus den Wahlen hervorgehen, legiti­miert durch eine durchsichtige und glaubwür­dige Wahl. Alles andere würde uns sehr teuer zu stehen kommen.
Wir reden viel über die Hinder­nisse für die Demokratie, aber wenig über die eige­nen Beschränkungen unserer poli­tischen Kultur. Obwohl der Kandidat Colosio die Wahlen erst einmal gewinnen muß, wurde ihm am Tag seines desta­pes durch Radio und Fernsehen soviel Raum gegeben, als handle es sich schon um den nächsten Präsidenten. Auch wenn sich langsam eine Kultur des Wahlkampfes ent­wickelt hat, wird die Präsidentennachfolge zwischen einer gespaltenen Opposition (PRD und PAN) und der Staatsmaschine­rie entschie­den werden.
Die wichtigste Forderung bleibt, daß die Wahlen im August sauber verlaufen. Da­für müssen mehrere Bedingungen erfüllt werden: Wir müssen eine zivilisierte De­batte haben, die Spielregeln respektieren und ein Klima schaffen, in dem die Wäh­lerInnen sich ein Urteil bilden und durch ihre Stimmen frei entscheiden können.
Am Tag des destape waren die Medien sehr darum bemüht, den Lebenslauf von Colosio zu verbreiten. Interessanter ist aber, warum er gewählt wurde: Colosio vertritt am besten die Interessen Salinas’. Die anderen Kandidaten, Pedro Aspe (Finanzminister) und Manuel Camcho (Regent Mexiko- Stadts), die ein Projekt mit klarem politischem und ökonomi­schem Profil entworfen hatten, blieben auf der Strecke. So funktioniert unser politi­sches System.
Colosio hat, als er die Kandidatur annahm, zwischen all dem PRI-Geschwätz ein paar interessante Dinge gesagt: Bereitschaft, an einer Debatte mit der Opposition teilzu­nehmen, Offenlegung der Finanzierung des Wahlkampfes, Kontinuität der Wirt­schaftspolitik Salinas’ und eine Sozialre­form. Das Motto scheint zu sein: “Mehr Fortschritt!”, obwohl man ge­nauso hätte sagen können: “Mehr Demo­kratie!”, denn das wird die große Achse der Nachfolge sein. Nur, setzt jeder eben seine Prioritä­ten anders.
Man darf nicht vergessen, daß Colosio eine merkwürdige Kombination darstellt. Obwohl er völlig unter Salinas Fittiche steht, wurde unter seinem Parteivorsitz die erste Länderregierung der Opposition an­erkannt und die Partei 1991 umstruktu­riert. Aber er war auch noch Vorsitzender der PRI während der postelektoralen Kon­flikte in den Bundesstaaten Guana­juato, Michoacán und San Luis Potosí. Später war er als Sozial- und Ummwelt­minister verantwortlich für das ökonomi­sche Soli­daritätsprogramm der Regierung (PRO­NASOL). Auf diese Punkte und beson­ders auf die Organisatoren der Kampagne wird man achten müssen, denn: Sag mir, wer deine Wahlkampfma­nager sind, und ich sage dir, welche Kam­pagne uns er­wartet.
Kann sein, daß die Überlegungen der Re­gierung so lauten: Die Punkte, die mit der Ratifizierung der Freihandelsvertrages und der wirtschaftlichen Anpassung ge­wonnen wurden, reichen aus, um die Wahlen zu gewinnen, denn das Projekt Salinas’ ist langfristig angelegt. Und die Hegemonie der Partei reicht aus, um die reibungslose Nachfolge zu gestatten.
In dieser Strategie gibt es mehrere Schwachstellen, die die Opposition aus­nutzen müßte. All die Hoffnungen, die sich mit dem Freihandelsvertrag ver­binden, werden allenfalls langfristig zum tragen kommen. Derzeit aber haben wir große und alltägliche ökonomische Pro­bleme. Außerdem ist die PRI mitten in ei­ner Übergangsphase: Sie ist nicht mehr die unbesiegbare Maschine, aber ohne die Nabelschnur des Staatsapparates ist sie keine wettbewerbsfähige Partei. Sie ist “die Partei der Revolution”, wie ihr Kan­didat sagte, aber in einem Land, wo “re­vo­lutionär sein” irgendetwas oder gar nichts heißen kann.
Als Abschluß sei an die Wahlen am 28. November in Yucatán erinnert. Ob­wohl durch den destape die Blicke abge­lenkt wurden, verliefen sie nicht sauber, und die Opposition der PAN beginnt schon, ihren Protest zu organisieren. Es scheint, daß den Wahlfabrikanten der PRI mal wieder Öl übergelaufen ist. Vielleicht ist Yucatán nur eine Panne, vielleicht ein Omen, wir wissen es nicht.

Die Rechtlosen

“Die Revolution ist ein Orkan, und derjenige, der sich ihr hingibt, ist kein Mensch mehr, sondern ein verdorrtes Blatt, das vom Sturm weggefegt wird…”. Gewaltige Metaphern fallen, wenn die Rebellen von ihrem Kampf sprechen. Es geht um die Mexikanische Revolution und um einfache Bergbauern, die als Opfer der rücksichtslosen Bodenpolitik des Diktators Díaz schon am Rande des Existenzminimums leben. Die Willkürherrschaft des Putschdiktators Victoriano Huerta läßt sie mit der einfachen und unideologischen Losung “Tierra y Liberdad” – Boden und Freiheit – in die Kämpfe eingreifen.
Diese historische Situation bildet den Hintergrund des nun neu übersetzten Romans “Die Rechtlosen” (Los de abajo) von Mariano Azuela.
Azuelas Roman schildert das Schicksal des Campesinos Demetrio Marcías, der in die Revolutionswirren schlittert und Anführer einer Gruppe Gleichgestellter wird, die sich mit den historischen Bauerngenerälen Julían Medina und Pancho Villa verbündet. Demetrio und seine Truppe machen sich bald einen Namen als tapfere Kämpfer. Trotzdem erzählt das Werk “Die Rechtlosen” alles andere als eine Heldenvita.
Das Faszinierende an diesem Roman liegt fast 80 Jahre nach seiner Niederschrift weder in der Handlung noch in dem für den heutigen Geschmack schon komisch wirkenden pathetischen Stil. Was den Roman über den historischen Bezug hinaus interessant macht, ist die virtuos dargestellte Eigendynamik des revolutionären Geschehens.
Zwar erlangt Demetrio den Rang eines Generals, doch dieser Aufstieg ist mit der völligen moralischen Entwurzelung seiner Truppe verbunden. Azuela führt Szenen vor, in denen Männer sich wie Schulbuben an der Jahrmarktsschießbude gebärden und begeistert ihre Gegner abknallen. Die Lust an den vor Todesangst starren Augen eines Gefangenen, dem sie die Pistole an die Stirn drücken, Plünderungen aus Freude an der Zerstörung und Morde wegen fragwürdiger Ehrbegriffe werden sehr eindringlich geschildert. Sex und Liebe fehlen nicht. Die Bräute rauben die Männer aus Dörfern. Ihre eifersüchtigen Konkubinen spinnen Intrigen und stechen ihre Konkurrentinnen einfach ab. Den ursprünglichen Grund ihres Kampfes haben die Männer längst vergessen. Sie geraten in den Sog der Gewalt, kämpfen um des Kampfes willen. Die Spirale von Plündern, Brandschatzen und blindwütigem Abschlachten dreht sich immer schneller, bis Demetrio und seine Bande beinahe vorsätzlich in einen tödlichen Hinterhalt geraten.
Die Revolution und ihre zerstörerische Kraft ist das eigentliche Thema des Romans. Azuela spart nicht mit mystifizierenden Bildern, um zu veranschaulichen, wie die Revolution ihre Kinder frißt. Er vergleicht sie mit einem Stein, der – einmal losgetreten – unaufhaltsam in den Abgrund stürzt. Die Revolution führe anstatt zu einer Blumenwiese in einen Sumpf, läßt der Autor eine Figur sagen. Azuela schreckt auch nicht davor zurück, den Ruf des berühmten Bauerngenerals Pancho Villa anzukratzen: Sein Ruhm beruhe auf Legende, die die armen Bauern schmiedeten.
Kritik an der blutrünstigen Mexikanischen Revolution ist nicht neu. Jeder zehnte Mexikaner, insgesamt eine Million Menschen, kam um. Aber im Gegensatz zu Autoren wie Juan Rulfo und Carlos Fuentes, die ebenfalls ein negatives Bild von der Revolution entwarfen, veröffentlichte Azuela sein Werk bereits 1916 mit dem Untertitel “Bilder und Szenen der gegenwärtigen Revolution” in einer Zeitung. Damit hielt er seinen revolutionären Landsleuten einen Spiegel vor.
Vermutlich gehen die beschriebenen Szenen auf Azuelas eigene Erfahrungen mit der Revolution zurück: Als Stabsarzt begleitete er die Truppe des mit Villa verbündeten Bauerngenerals Julían Medina und nahm so an den Siegen und Niederlagen der villinistischen Bewegung teil, bis er sich 1916 zur Niederschrift des Romans in Texas absetzte.
Die Gänsehaut des Bürgers Azuela bei der Beobachtung der Eßgewohnheiten und des Erscheinungsbildes dieser Rechtlosen ist in der Beschreibung spürbar. Barbarisch und kulturbedrohend werden sie skizziert. Bei ihren Plünderungen zerfleddern sie Dantes Göttliche Komödie, weil ihnen die “Nackedeis so gut gefallen”. Die Botschaft ist einfach: Diese barbarische Horde ließe mangels Bildung besser die Finger von der Revolution und bliebe bei ihrer Scholle.
Aber auch mit dem bürgerlichen Revolutionär rechnet Mario Azuelas ab. Aus politischer Überzeugung schließt er sich der Truppe an und steht als ideologisches Alter Ego dem Anführer Demetrio zur Seite. Aber auch er kann dem Sog der Gewalt nicht widerstehen. Keinem der beiden, weder dem Bürgerlichen noch dem Bauern, wünscht man die Macht.
Mit den unterschiedlichen Schicksalen von Luis Cervantes und Demetrio Macías gelingt dem Autor eine zynische Prognose für den Ausgang der Revolution. Während sich der junge Mediziner rechtzeitig nach Texas absetzt und seine Beute in eine zukunftsträchtige Promotion investiert, bleibt Demetrio nur das Pathos des Schlußsatzes: “Am Fuße einer riesigen, prächtigen Felsspalte, die dem Portal einer alten Kathedrale ähnelt, hat Demetrio Macías noch immer den Gewehrlauf angelegt. Sein Blick ist nun für immer starr.”
Mario Azuelas begründete mit diesem Werk das Genre des Revolutionsromans, das sich seither wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte Mexikos zieht.
Trotz des virtuosen Abgesangs auf die Revolution wurde dieses Buch als vielgelobter Klassiker mehrfach verfilmt und steht in den mexikanischen Schulen noch heute auf der Liste der Pflichtlektüren.
Weil der Autor für seine Zeigenossen schrieb, setzte er die damaligen Verhältnisse in Mexiko als bekannt voraus. Für den heutigen Leser empfiehlt es sich daher, ausnahmsweise das Nachwort vorher zu lesen. Verfaßt wurde es von Klaus Jetz, der die historische und literaturgeschichtliche Bedeutung des Romans prägnant zusammenfaßt. Seiner Arbeit ist es auch zu verdanken, daß das Buch, das 1930 unter dem Titel “Die Rotte” in einem Berliner Verlag erschien und schnell vergriffen war, wieder neu aufgelegt wurde und damit ein Stück mexikanischer Kultur bereit hält, das das Verständnis des heutigen Mexiko erleichtert. Denn aus der Revolution ging die Regierungspartei PRI hervor, die vielfach für die weitverbreitete Schicksalsergebenheit der Mexikaner, für Lethargie und Entpolitisierung verantwortlich gemacht wird. Und vor diesem Hintergrund versteht man auch Octavio Paz besser, wenn er sagt: “Das mexikanische Volk glaubt, nach mehr als zwei Jahrhunderten voller Experimente und Niederlagen, nur noch an die Jungfrau von Guadalupe und an die Nationallotterie.”

Mario Azuela: Die Rechtlosen
Roman aus dem Spanischen von K. Jetz; Dipa-Verlag, Frankfurt am Main 1992. ISBN 3-7638-0180-4; 144 S.; 32.- DM

“Weniger Staat – mehr Gerechtigkeit”

Salinas nähert sich der Halbzeit seiner Amtszeit, und schon jetzt ist deutlich geworden, daß selten zuvor ein mexikanischer Präsident so viele Weichen für tiefgreifende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Sektoren gestellt hat wie er. Mit der Privatisierung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft (Banken, Telekommunikation und rentable Unternehmen, wie z.B. der Kupfermine Cananea) sowie die weitere Öffnung der Tore für ausländische Investoren bzw. Investitionen (einschließlich in der Erdölindustrie), werden radikale Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen vorgenommen. All diese Schritte bedeuten eine klare Abwendung von der bisherigen mexikanischen Politik, in der der Staat oder seine Institutionen einerseits die Kontrolle über die Schlüsselsektoren hatten und andererseits die wirtschaftliche Entwicklung mitbestimmten. Erklärtes Ziel dieser Politik ist erstens die Vereinheitlichung der Strukturen mit denen der US-amerikanischen Wirtschaft. Dies ist für Salinas einer der entscheidenden Schritte, um sein historisches Projekt, die Bildung einer Freihandeiszone mit den USA bzw. Kanada, zu verwirklichen. Zweitens soll das Vertrauen der ausländischen und mexikanischen Privatwirtschaft in das Land verstärkt werden. Mexiko hat inzwischen Brasilien von Platz 1 auf der Liste der lateinamerikanischen Länder mit den höchsten ausländischen Investitionen verdrängt. Und drittens soll die Privatisierung der staatlichen Unternehmen die materielle Basis der alten PRI-Bürokratie treffen, die einen Teil ihrer Existenz auf die Nutznießung dieser Unter- nehmen baute. Mit der Schwächung der alten Garde der Partei (die “Dinosaurier”) sollen vor allem die traditionellen Gewerkschaften innerhalb der PRI getroffen werden. Hier befinden sich auch die meisten GegnerInnen der Privatisierungspolitik von Salinas, nicht zuletzt weil diese von einer Reform der PRI begleitet wird. Der letzte Parteikongreß Ende letzten Jahres verabschiedete denn auch eine Reform der Partei. Diese schränkt die Möglichkeiten der drei Volkssektoren innerhalb der PRI (Gewerkschaften. BauerInnen und Volksorganisationen) bei der KandidatenInnenaufstellung für die Gemeinde und Gouverneurswahlen ein. Die Hegemonie der neuen Führungsgruppe (Technokraten) innerhalb der PRI, die schon unter de la Madrid deutlich wurde, wird dann nicht mehr gestärkt sein.
Salinas’ Modernisierungs- bzw. Privatisierungspläne schaffen nicht nur innerhalb der Partei GegnerInnen, sondern ebenso bei einem Großteil der Bevölkerung. Einerseits konnte die Inflation unter Kontrolle gebracht werden (1990 lag sie bei 30% und 1989 bei 19,7%) und 1990 erzielte die mexikanische Wirtschaft ihre größte Wachstumsrate (3,9%) seit 9 Jahren. Andererseits liegt des Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 14% unter dem von 1981 und 8,4% unter dem von 1983. Fast die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Diese Pläne werden nämlich von einer Politik des Einkommens- und Lohnver- falls begleitet, die die Abwertung der mexikanischen Arbeitskraft fortsetzen wird. In Mexiko liegt der Mindestlohn mit 1/57 US$ pro Tag unter dem von Korea, Singapur, Hongkong und Taiwan.

Seit 1940 die Erdölindustrie verstaatlicht wurde und dies als ein Akt von nationaler Souveränität in die Geschichte Mexikos einging, hat kein mexikanischer Präsident es gewagt, die Verstaatlichung rückgängig zu machen. Jüngst, vor allem im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA, stellte die mexikanische Presse die Frage, ob auch die Privatisierung von PEMEX am Verhandlungstisch behandelt werde. Der mexikanische Präsident hat dies bisweilen vehement verneint. Inzwischen soll er auf diese von JournalistInnen gestellte Frage schon allergisch reagieren. Diesem Präsidenten traut man/frau inzwischen alles zu. Der politische Preis könnte jedoch zu hoch sein. So ließ sich Salinas etwas einfallen womit er die mexikanische Verfassung unterlaufen konnte. Dort ist die Verstaatlichung der PEMEX festgeschrieben.
Daran soll zwar nichts verändert werden, doch hat die mexikanische Regierung die Tore für ausländische Investitionen in diesem Sektor weit geöffnet. Das “schwarze Gold” selbst soll mexikanisch bleiben, während die Förderung durch- aus mit Hilfe von US-Firmen realisiert werden soll. So hat die mexikanische Regierung einen US-Kredit in Höhe von 5,6 Mrd US$ von der Eximbank erhalten, mit deren Hilfe technische Mittel aus den USA angeschafft werden und die Erdölförderung mit US-Hilfe realisiert werden soll. Damit werden die ausländischen Investoren ihren Einfluß auf PEMEX verstärken können. Daß auch dieser Schritt äußerst gewagt war, zeigt die Tatsache, daß dieses Vorhaben der Öffentlichkeit möglichst verschwiegen werden sollte. Anfang Februar wurde der stellvertretende Energieminister Escofet Artigas gefeuert, weil er das Vorhaben der Regierung, PEMEX für ausländische Investitionen und Investoren zu öffnen, publik machte.
Im Zusammenhang mit der Öffnung der Tore von PEMEX für das ausländische Kapital sollte nicht vergessen werden, daß eines der ersten Schritte in der Regierungszeit von Salinas die Verhaftung des Vorsitzenden der Erdölarbeitergewerkschaft (STPRM) La Quina war. Seine kritische Haltung gegenüber Salinas und seine Sympathie für den Oppositionsführer Cárdenas hätten eine zu große Bedrohung für Salinas’ Politik darstellen können.

Vollzogen wurde im Februar diesen Jahres die Privatisierung der mexikanischen Telefongesellschaft (TELMEX). Dieser Schritt zeigt die Entschlossenheit und das politischen Geschick, mit der Salinas seine Politik umsetzt. Gerade bei Telmex stellt sich die Frage, wieso auch höchstrentable staatliche Unternehmen verkauft werden. TELMEX war nach PEMEX das wichtigste und größte staatliche Unternehmen. Es stand 1990 auf Platz 31 auf der Liste der größten Unternehmen Lateinamerikas. Somit zeigt sich, daß vor allem die Privatwirtschaft weiter gestärkt und ausländische Investoren angelockt werden sollten. Die Mehrheitsanteile der TELMEX wurden unter das mexikanische Konsortium “Grupo Carso”, an die “Southwestern Bell Co. aus den USA und an die “Telecom” aus Frankreich aufgeteilt. Die Privatisierung von TELMEX hatte außerdem noch einen wohlüberlegten Nebeneffekt. Sie stärkte nämlich die Position der Telefonarbeitergewerkschaft (STRM). Sie gehört dem Dachverband der dem öffentlichen Sektor angehörenden Gewerkschaften FESEBES (Federación de Sindicatos de Empresas de Bienes y Servicios) an. Dieser wurde gegen den Willen von dem Führer des mexikanischen Gewerkschaftsverbandes (CTM), Fidel Velázquez, und mit Unterstützung von Salinas in den Arbeiterkongreß (CT) aufgenommen. Die Strategie der FESEBES, ist es die Notwendigkeit einer Modernisierung und Flexibilisierung der Industrieproduktion anzuerkennen, gleichzeitig eigene qualitative Politikkonzepte für eine Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsbeteiligung zu entwickeln, sowie die Beziehung zur Staatspartei PRI zu lockern, ohne jedoch den Rahmen staatlich vermittelter Sozialpakete zu verlassen.

“Der Golf ist weit weg, aber den Weltpolizisten haben wir auf der anderen Seite der Grenze!”

Der mexikanische Präsident Salinas hält eine Rede an die Nation. Er stellt seine Anstrengungen für eine Verhandlungslösung heraus. Und mit sanfter Stimme versichert er den MexikanerInnen, sie hätten allen Grund, Ruhe zu bewahren. Mexiko als Ölproduzent werde keine unmittelbaren Auswirkungen spüren. Die Versorgung mit Treibstoffen und Nahrungsmitteln sei gesichert. Damit spricht er die Hauptsorge der MexikanerInnen an. “Die Leute haben Angst, daß die Preise steigen,” erzählt mir ein Straßenverkäufer der populären Schlagzeilen-Zeitungen. Die erste größere Unruhe habe er gespürt, als die Ölpreise fielen. Das war, als die CNN allen Anschein erweckte, als ob die USA den Krieg schnell gewinnen würden.
Mit den Angriffen des Irak auf Israel ändert sich die Stimmung. Die Nachrichtenbombardierung von CNN verfehlte die vorgesehene Wirkung, verbale Angriffe gegen die USA wurden nun häufiger. “Ein ganzer Kerl ist der Saddam”. “Die Yankees haben Abschußrampen aus Pappe bombardiert”. Mit Schadenfreude und einem Schuß Machismo werden die Angriffe Iraks auf Israel kommentiert. Auch der Unmut über die “Desinformation” wächst. Besonders die offensichtliche Lüge der Medien, die berichten,. im Irak seien bisher zwanzig Menschen umgekommen, erregt die Gemüter. Über die ständigen Demonstrationen vor der US-Botschaft in Mexiko informieren die großen Radiosender nur indirekt. Sie warnen vor Staus und Verzögerungen in der Gegend um die Botschaft und empfehlen, sie weiträumig zu umfahren. Diese gegen die US-Regierung gerichteten Demonstrationen hatten einige Tage vor Ablauf des Ultimatums begonnen. Spontan versammelten sich dort die Leute, denen plötzlich die Gefahr eines Krieges bewußt wurde -eine winzige Minderheit.

‘Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!’
Die erste große Demonstration in Mexiko-Stadt fand erst neun Tage nach Beginn des Krieges statt. 40.000 Menschen folgten dem Aufruf der Parteien: “Alle vereint für den Frieden”. Es war abgemacht, daß keine Parteifahnen getragen werden sollten. Daraus ergab sich das seltsame Bild von offensichtlich organisierten Blöcken, die mensch aber nicht zuordnen konnte. Die weißen Fahnen und die Friedenstauben konnten keine Einheit herstellen. Die beiden großen Oppositionsparteien rechts und links von der regierenden “Partei der institutionalisierten Revolution” (PRI) hatten ihre Mitglieder erst nach heftigen internen Auseinandersetzungen dazu aufgerufen, gemeinsam mit der PRI zu demonstrieren. Doch im Laufe der Demonstration ließ sich der vorgesehene Pazifismus nicht durchhalten, die DemonstrantInnen gingen zu antiimperialistischen Parolen über. Überall waren Plakate zu sehen, auf denen der Abzug der USA aus Panama gefordert wurde. Und sogar die PRI-Blöcke wechselten zu Sprechchören im Stil von “Hussein, seguro, al yanqui dale duro!” über (“Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!”).
Am Tag darauf fand ein nationales Treffen der mexikanischen Solidaritätsgruppen (mit Zentralamerika und Haiti) statt. Dort wurde die Unfähigkeit der Bewegung beklagt, sich in spontane Mobilisationen wie die vor der US-Botschaft einzugliedern. Die PRI dagegen habe es wieder einmal verstanden, die Friedensdemonstration unter ihrer Schirmherrschaft stattfinden zu lassen und politisch zu nutzen. Die Diskussion der Soli-Gruppen über den Golfkrieg begann sich schnell um die Frage zu drehen: Ist es besser für uns, wenn die USA gewinnen, oder wenn sie verlieren? Ein Vertreter der salvadorenischen Guerilla, der FMLN, stellte klar: “Wenn die USA schnell gewinnen, und gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen, wird der ganze Kontinent unter dieser Militärmacht zu leiden haben. In dem Maße, in dem der Krieg andauert und die USA schwächt, wird auch ihr Interesse an einem Ende des Krieges in E1 Salvador wachsen”. Bei der Diskussion mit ihm forderten die Soligruppen, die Rolle der UNO bei den Verhandlungen in E1 Salvador neu zu bewerten. Es habe sich gezeigt, daß die UNO keine Organisation für den Frieden ist, sondern daß sie dem Weißen Haus als Vorzimmer gedient und den Krieg unterstützt hat.
Die Soli-Bewegten warfen außerdem die Frage auf, ob es überhaupt richtig sei,
für Hussein Partei zu ergreifen, für einen Mann, der Ausrottungskampagnen
gegen die KurdInnen geführt habe, und von dem man nicht wüßte, ob er das
irakische Volk unterdrücke. Diese Diskussion erinnerte viele an die Auseinandersetzungen während des Malvinen-Krieges, als darum gestritten wurde, ob
eine Stellungnahme gegen die Briten die argentinische Militärdiktatur aufwerten
würde. Ergebnis der Diskussion: Jede imperialistische Unterdrückung macht es
einem Volk noch schwerer, sich gegen die nationalen Herrschaftsstrukturen , aufzulehnen.
Reisende aus den rnittelamerikanischen Ländern beschreiben die Stimmung dort als ganz anders als in Mexiko-Stadt. Die Abhängigkeit dieser Länder von Energie-Importen hat die Regierungen schon zu Sparmaßnahmen greifen lassen und bei der Bevölkerung eine viel größere Unsicherheit ausgelöst als in Mexiko. In Guatemala-Stadt beispielsweise sollen Hamsterkäufe getätigt worden sein. In E1 Salvador zeigt sich deutlich, daß jeder noch so schwachsinnigen Nachricht, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Golf-Krieg steht, eine größere Bedeutung zugemessen wird als den wirklich wichtigen Informationen. Während E1 Salvadors Präsident Cristiani einen Tag lang in den Nachrichten auftauchte, weil er die “alliierten Truppen am Golf einen Monat lang mit Kaffee versorgen” will, fand das Massaker an 15 Bauern.. und Bäuerinnen am 22.Januar nicht die angemessene Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit.
Obwohl der Krieg am Golf weit weg ist, gibt es auch hier Menschen, die ihn als eine unmittelbare Bedrohung empfinden. In der mexikanischen Region Chilapa beispielsweise treffen sich christlichen Basisgemeinden jeden Abend, um gemeinsam zu beten.
Die GuatemaltekInnen, die im Süden Mexikos in Flüchtlingslagern leben, verfolgten die Ereignisse seit August aufmerksam. Als sich das Ultimatum vom
15. Januar näherte, besorgten sich viele von ihnen Kurzwellenradios, melden die “Witnesses for Peace”. In den Lagern in den Bundesstaaten Chiapas, Campeche und Quintana Roo, in denen ungefähr 43.000 guatemaltekische Flüchtlinge leben, sei der Beginn des Krieges mit Entsetzen aufgenommen worden, “Den Führern sind all die armen Leute, die sterben werden, egal”, sagte eine Flüchtlingsfrau. “Sie sorgen sich nur um ihr Geschäft und ihre Profite.” Ein älterer Mann meinte: ‘Wenn es doch so viele arme Menschen in den USA gibt, warum schickt die US- Regierung dann soviel Geld ins Ausland, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Leute versorgen kann?” Als eine Gruppe von Jungen aufgeregt ihr Wissen über die High-Tech-Flugzeuge und die Bombardierungen austauschte, sagte ein Vater traurig: “Diese Kinder wissen nicht, worüber sie reden. Sie waren klein, als wir (vor dem Militär; d.Red) aus Guatemala fliehen mußten. Aber wir erinnern uns genau daran, was Krieg bedeutet und darum sind wir so traurig und besorgt über diesen Krieg.”

Polizei und Menschenrechte – Traurige Realität Mexikos

Die Anklage konkretisiert sich: “Beamten aller Einheiten der Sicherheitskräfte werden der Folter und willkürlicher Verhaftungen angeklagt. Insbesondere die Bundes-Justizpolizei (Policia Judicial) ist Gegenstand schwerster Anklagen. Deren Agenten genießen eine enorme Autonomie und Straffreiheit, trotz der Ungesetzlichkeit ihrer Aktionen.”(Proceso, 20.8.90) Dies ist die Erkenntnis eines US-Menschenrechtskomitees von Rechtsanwälten im Juli dieses Jahres.
In Mexiko herrscht ein Klima der “öffentlichen Unsicherheit”. Tagtäglich berich­ten die Zeitungen über Zwischenfälle, über politisch motivierte Morde, Klagen gegen Folter oder Übergriffe von PolizistInnen auf PassantInnen und Autofahre­rInnen. JedeR weiß, daß die größte Gefahr, überfallen zu werden, von PolizistInnen ausgeht, die bis in die untersten Ränge so korrupt sind, daß sie nach Belieben Leute auf der Straße ausrauben können, ohne mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen zu müssen.
Das Menschenrechtszentrum “Fray Francisco de Victoria” O.P vom Dominika­nerorden hat eine chronologische Dokumentation aller angezeigten Menschen­rechtsverletzungen der letzten zwei Jahre erstellt, deren Veröffentlichung im Time-Magazin der Organisation unangenehme offizielle Proteste einbrachte. 1.200 Fälle werden dort aufgezählt, und die Dunkelziffer ist kaum abzuschätzen.
Die Anlässe der Übergriffe reichen von simplen Verbrechen über gewalttätige Verbrechensbekämpfung, meist in Zusammenhang mit Rauschgifthandel, bis zu politischer Repression im Zuge von Wahlauseinandersetzungen oder Landbesetz­ungen. Hauptangeklagte sind die Bundespolizei, Staatspolizei und die regionale Polizei. Danach kommen, nach Einschätzung eines Berichtes von “Americas Watch”, die Kaziken (inoffizielle regionale Machthaber), Solda­ten, bezahlte Killer und paramilitärische Gruppen. Besonders pro­blematisch ist die Lage auf dem Land, wo Bäuerinnen und Bauern sowie Indigenas schutzlos jeder Art von Aggression ausgesetzt sind. Sogar das staatliche “Instituto Nacional Indigenista (INI) schätzt die Zahl der unrechtmäßig verhafteten BäuerInnen auf über 5000.

Menschenrechtskommission oder Imageaufbesserung ?

Auf Weisung von Salinas de Gortari wurde am 6.Juni dieses Jahres eine Men­schenrechtskommission ins Leben gerufen. Ihre RepräsentantInnen haben einen guten Ruf, neben dem Ex-Rektor der UNAM, Jorge Carpizo und dem Sozialwis­senschaftler Rodolfo Stavenhagen verpflichtete sich auch der Schriftsteller Carlos Fuentes. Dennoch ist die Skepsis groß. Hierarchisch ist die Nationale Menschen­rechtskommission (CNDH) dem Innenministerium untergeordnet, wodurch trotz gegenteiliger Versicherungen deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Außerdem stehen ihr kaum wirksame Instrumente zur Verfügung, um zu inter­venieren – lediglich Gesetze und moralische Autorität. Schon bei den ersten Aus­einandersetzungen mit der Staatsanwaltschaft zeigte sich, daß die Appelle der CNDH bezüglich der Behandlung von Festgenommenen kaum ernstgenommen werden.
Andererseits bewirkt die Kommission, daß die Diskussion um die Menschen­rechtsfrage intensiver geführt wird, und sogar die Generalstaatsanwaltschaft sah sich gezwungen, Weisungen gegen Folter als Vernehmungsmethode auszugeben, womit sie solche Praktiken innerhalb der Justiz indirekt bestätigt. Da die Kom­mission bisher kaum Erfolge zu verzeichnen hat, wenden sich die Betroffenen weiterhin an andere Organisationen, die seit langem versuchen, in Sachen Men­schenrechte Druck auszuüben. Immer häufiger werden die Anklagen im Ausland erhoben, da dort eine breitere Öffentlichkeit erreicht wird und sich der interna­tionale Druck langsam erhöht. Vor kurzem reiste Rosario Ibarra de Piedra vom Komitee zur Verteidigung der Verfolgten und Verschwundenen (Eureka) nach Kalifornien und Kuba und berichtete , daß die Fälle von 556 Verschwundenen immer noch ungeklärt sind. Zwölf dieser Fälle ereigneten sich in den ersten zwei Regierungsjahren von Salinas. Auch die Tatsache, daß die CNDH wenige Tage vor dem Besuch von Salinas in den USA gegründet wurde, verleitet zur Annahme, daß die Sorge um das internationale Ansehen Mexikos die Regierung zu dieser Initiative bewog. In der Praxis macht die PRI (Institutionalisierte ‘Revolutions’partei) keinerlei Anstalten, neue Gesetze zu erlassen oder effektiv gegen die Korruption in Justiz und Polizei vorzugehen.

Justizpolizei und Staatsanwaltschaft

Die Verbindungen von Polizei und Staatsanwaltschaft veranschaulichen, daß Gewalttätigkeiten der Exekutive weder kontrolliert noch legal verhindert werden können. Die Justizpolizei, die der Staatsanwaltschaft als Untersuchungsinstru­ment dient, steht theoretisch unter deren Kontrolle. In der Praxis jedoch agieren deren BeamtInnen ohne jegliche Einschränkung. Mit oder ohne das Wissen ihrer Vorgesetzten begehen sie jede Art von Verbrechen. In einer Dokumentation berichtet die US-Menschenrechtskommission von RechtsanwältInnen über wei­tere Details dieses Unrechtsapparates. Als wichtigste Instanz der Staatsanwalt­schaft ist die Justizpolizei auch mit der Aufklärung der von ihr begangenen Ver­brechen betraut. Kein Wunder, daß diese Untersuchungen langsam vorangehen und nie zu einer Aufklärung führen. Besonders berüchtigt sind die zivilen Be­amtInnen der Justizpolizei, deren Namen nirgends auftauchen und die unter dem Schutz ihrer Behörde bzw. in deren Auftrag Verbrechen begehen. Sie sind allgemein als “madrinas” bekannt. Ihre einzige Untersuchungsmethode ist die Folter. Auch dienen sie als InformantInnen und SpionInnen. Als rechte Hand der Justizpolizei sind sie schwer bewaffnet, bekommen Autos und Hotelzimmer zur Verfügung gestellt und viele vermeintliche Delikte werden von ihnen definitiv “geklärt”, bevor andere Instanzen überhaupt davon erfahren. Vielen von ihnen wird außerdem nachgesagt, im Drogengeschäft mitzumischen.
Andere Klagen richten sich gegen die mexikanische Armee und gegen die Anti-Drogenpolizei. Im Namen des Kampfes gegen die Drogen verhaften, foltern und morden AgentInnen beider Institutionen, vor allem auf dem Land, wo BäuerIn­nen des illegalen Anbaus bezichtigt werden. Illegale Festnahmen und Folter werden in Mexiko inzwischen als reguläre Untersuchungsmethoden bezeichnet. Viele RichterInnen berichten, daß die Angeklagten in den Prozessen offensichtli­che Folterspuren aufweisen. Das Schlimme ist, daß jegliche Aussage, egal unter welchen Umständen zustande gekommen, vor Gericht als definitiv gilt. So ent­scheiden die ersten Stunden nach der Festnahme über das Schicksal des/der Betroffenen und diese Zeit verbringt sie/er in den Händen eines korrupten und gewalttätigen Polizeiapparates.

Kasten:

Anlaß dieses Artikels ist die Beschreibung der Bedrohung und politischen Verfolgung einer Familie in Mexiko, die den LN mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt wurde. Die Betroffenen bitten darum, Telegramme an die mexikanische Regierung zu schicken, in denen die Freiheit und ein Lebensbeweis für die folgenden Personen verlangt werden: Ana Vera Smith, Luis Escala Rabadan, Victoria Osona Tapia de Rocha, Esther Dolores Tapia Garcia de Osona, Esther Osona Tapia.

Modernisierung von oben oder Organisierung von unten?

Die neue PRI-Politik unter Salinas de Gortari

Die Macht der Partei der Institutionellen Revolution (PRI – Partido de la Re­volución Institucional) war 1988 erstmals konkret in Frage gestellt worden; nur mit hauchdünner absoluter Mehrheit gewann sie die Präsidentschaftswah­len, und niemand zweifelt daran, daß sie ohne Wahlfälschungen von der Oppo­sition überrundet worden wäre. So steht das Projekt von Salinas, gegen Korruption, Vetternwirtschaft und zentrale Wirt­schaftsverwaltung durch die traditionelle “Politische Familie” vorzugehen, un­ter nicht gerade de­mokratischen Vorzeichen.
Dennoch kann Salinas anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt beachtliche Er­folge vorweisen. Kaum im Amt, ließ er den Chef der starken ErdölarbeiterIn­nengewerkschaft La Quina festnehmen und legte sich mit der gesamten Ge­werkschaftshierarchie an. Auch scheute Salinas nicht den Streit mit den Unter­nehmern, als er im Frühjahr 1989 Eduardo Legorreta, Börsenmana­ger und Mit­glied einer der einflußreichsten Familien im Norden Mexikos, wegen Betruges hinter Gitter brachte. Seinem Ruf als ersten Präsi­denten Mexikos, der der Korruption die Stirn bietet, wollte er noch einen demokratischen Anstrich geben, indem er erstmals einer Oppositionspartei den Sieg bei einer Gouver­neurswahl zubilligte – der rechten PAN (Partido Acción Nacional) in Baja Cali­fornia. Wurde Präsident Salinas de Gortari noch verher­gesagt, er werde seine sechsjährige Regierungszeit nicht ungeschoren überste­hen, sitzt er jetzt fest im Sattel und scheint sogar die Krise der PRI über­wunden zu haben.
Es herrscht jedoch keine Ruhe im Land. Im Gegenteil, gerade an den Stellen, an denen er mit den traditionellen Politikmustern der PRI gebrochen hat, entstehen Brüche, die sein Demokratisierungsprojekt als ein künstliches, in Mexiko kaum realisierbares entlarven. Zu nennen sind hierbei in erster Linie die Modernisie­rung der mexikanischen Wirtschaft und die zunehmende Gewalt in den politi­schen Auseinandersetzungen (vgl. LN Nr. 192).
Kehrseite der in volkswirtschaftlichen Kategorien recht erfolgreichen Wirt­schaftspolitik ist neben der prekären sozialen Lage im Land die Aufgabe der für die MexikanerInnen so wichtigen nationalen Souveränität. Politik der Mo­dernisierung bedeudet für Salinas die Orientierung an den Vorstellungen der USA, umgesetzt durch die Privatisierung vieler Staatsbetriebe, Auslandsbetei­ligungen in Schlüsselindustrien, Lockerung der Zollpolitik im Rahmen des GATT-Abkommens und die konsequente Bedienung des Schuldendienstes. Nächster Schritt ist die Schaffung eines gemeinsamen Nordamerikanischen Maktes mit den USA und Kanada, der faktisch schon beschlossen ist, doch von mexikani­scher Seite nicht als solcher bezeichnet wird, da dies in Mexiko als Auf­gabe der politischen und wirtschaftlichen Souveränität gewertet werden würde. Zwei wichtige Klammern des PRI-Diskur­ses, die Betonung der nationalen- gegenüber den US-Interessen und die for­melle Bevorzugung von Gewerkschafts- gegenüber Unternehmerinteressen, werden offiziell fallengelassen, wodurch die Integrationskraft des Systems ge­schwächt wird.
Die in allen Bereichen zurückgehende Integrationskraft der PRI muß auch als Ur­sache für die massive Gewaltanwendung in politischen wie sozialen Auseinan­dersetzungen gesehen werden. Während es bisher immer gelang, aufstrebende oppositionelle Kräfte, sei es in Gewerkschaften, Basisbewegungen oder Parteien, durch Kooptation der führenden Köpfe und geringfügige Reformen in die PRI-Politik zu integrieren, zeigte sich im vergangenen Jahr, daß die PRI keine Alter­native mehr zum Einsatz massiver Gewalt sah. Seitdem schwelen monate­lange Arbeitskämpfe in verschiedenen Landesteilen, und der erstmalige Einsatz des Militärs nach den Wahlen in Michoacán und Guerrero forderte schon über 50 Todesopfer (s. LN Nr. 192).
Noch ist nicht abzusehen, welchen Ausgang Salinas’ Projekt einer Demokrati­sierung durch Modernisierung von Wirtschaft und Politik nimmt. Seine Position ist ausreichend gefestigt, um den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, doch je weiter er kommt, umso fraglicher wird, was dieser Weg mit Demokratie zu tun hat.

Das Charisma von Cuauthémoc Cárdenas

Krise und die geleugnete Wahlniederlage der Regierungspartei sind nicht nur hausgemacht. In der traditionell zersplitterten mexikanischen Linken hat 1988 ein Einigungsprozeß stattgefunden, der genauso einmalig in deren Geschichte wie riskant in seiner Ausrichtung ist. Die Vereinigung ist auf die Person von Cuauthémoc Cárdenas zugespitzt, Sohn des allseits beliebten Präsidenten von 1934-1940, Lázaro Cárdenas.
Nachdem sein Reformprojekt innerhalb der PRI mißglückt war, lief er mit Be­ginn des Wahlkampfes 1988 mitsamt seiner Corriente Democrática del PRI (Demokratische Strömung in der PRI) zur Opposition über und gründete die FDN (Demokratisch Nationale Front), der sich Zug um Zug fast alle linken Par­teien und Gruppierungen anschlossen. Damit existierte erstmals eine Oppo­sitionskoalition, die real die Machtfrage stellen konnte und dies auch tat. Obwohl die Wahlniederlage der PRI politisch nicht durchgesetzt werden konnte, hat die
Kampagne und landesweite Mobilisierungsfähigkeit unter Cárdenas zu einer Po­litisierung geführt, die auch die eher passiven Sektoren der mexika­nischen Be­völkerung erreicht hat.
Doch der Schlüssel zum Erfolg ist zugleich eine große Gefahr für die Linke. Der mexikanische Sozialwissenschaftler Enrique Semo schreibt ein Jahr nach der Wahl: “Die Linke, die sich der Neocardenistischen Bewegung anschloß, be­wahrte ihre Präsenz in der Massenbewegung unter Inkaufnahme eines schweren Identi­tätsverlust. Das heißt: Die sozialistische Linke hat heute eine Anhän­gerschaft, die sie (noch) nie erreichen konnte, hat aber die Fähigkeit verlo­ren, sie mit eigener Stimme zu leiten. Die Volksrebellion folgte dem Ruf von Cárdenas. Die Linke nimmt an ihr Teil, führt sie aber nicht.” (Enrique Semo, Veinte Años Después, Juni 1989, Mexico D.F.) Wie so häufig steht und fällt eine Bewegung mit ihrem charismatischen Führer und ist zudem an dessen politische Ausrichtung gebun­den.
Nachfolgerin der FDN wurde die PRD (Partido de la Revolución Demócrata – Partei der Demokratischen Revolution), die zu ihrer Gründung die offizielle Re­gistrierung der sozialistischen PMS übernahm und nun unter Cárdenas die Poli­tik der Parteilinken bestimmt. In dem Versuch, den erneuten Vormarsch der PRI aufzuhalten, konzentriert sich die PRD auf die anstehenden regionalen Wahlen und profiliert sich hauptsächlich bei den Auseinandersetzungen um Wahlfäl­schungen in ihren Hochburgen – was vielen Mitgliedern das Leben kostete.
In einem Rückblick auf das erste Jahr der PRD zeigt die linke Tageszeitung “La Jornada” am 15.5.90 die Schwachstellen dieser Partei auf:
Nach außen: viele Tote und Verhaftete, Hetzkampagne der Medien, Anfeindung von Regierung und Wirtschaftsverbänden.
Nach Innen: Alte Politikmuster, Intrigen, keine gemeinsame Linie der einzelnen vorher existierenden Gruppierungen, Streit zwischen “Revolutionären” und “Reformisten”, schwerfälliger Apparat und autoritäre Führung.

Programmatik: Überholte Ökonomievorstellungen und fehlende Klarheit bei politischen Aussagen.

Angetreten ist Cárdenas mit dem Anspruch, die Politikstruktur Mexikos zu de­mokratisieren – zuerst innerhalb der PRI, und als dies scheiterte, gegen die PRI. Seine Erfolge haben zum einen die PRI gezwungen, sensibler mit den Er­wartungen und Forderungen der Bevölkerung umzugehen, soweit ihre eigene Machtposition nicht gefährdet war. Zum anderen entwickelte sich das Bewußt­sein, daß auch gegen die Regierungspartei Politik zu machen ist, was seinen Ausdruck in oppositionellen Aktivitäten in fast allen Lebensbereichen findet. Je­doch steht zu befürchten, daß nach dem Kulminationspunkt Präsidentschafts­wahlen 1988 die Parteilinke wieder in den alten Trott verfällt und nicht in der Lage sein wird, die errungenen Positionen auszubauen.
Noch vor dem Auftreten von Cárdenas führte 1985 das verheerende Erdbeben in Mexiko-Stadt zu einer breiten Mobilisierung der Basisbewegungen, deren Ent­wicklung parallel zum Neocardenismus eine steile Aufwärtstendenz zeigt. Vor allem in der Hauptstadt führte die Untätigkeit der Regierung nach dem Erd­
beben dazu, daß eine Vielzahl von Selbsthilfeorganisationen entstand, die bald in eine aktive Stadtteilbewegung, unterstützt von unabhängigen Gewerkschaf­ten, mündete.

Die Basisbewegung im Aufschwung

Trotz ihres Mißtrauens gegen Parteipolitik gliederten sich fast alle Gruppen der Basisbewegung in die Kampagne von Cárdenas ein, kämpften gegen den Wahl­betrug, forderten eine gerechte Mietpolitik, unterstützten die unabhängi­gen Ge­werkschaften in ihren Lohnforderungen und nahmen schließlich auch an der Kampagne zur Streichung der Auslandsschulden teil. Auch die politischen Or­ganisationen auf dem Land und unabhängige BäuerInnengewerkschaften gewan­nen neue Mitglieder hinzu und unterstüztzen die PRD in den jeweiligen Bun­desstaaten, insbesondere in Guerrero, Michoacán und Oaxaca.
Die wichtigsten Träger dieser neuen sozialen Bewegungen entstanden unmittel­bar in Folge des Erdbebens. Dazu zählt die Näherinnengewerkschaft 19. Sep­tember, die nach der Zerstörung vieler Konfektionsunternehmen durch das Erd­beben eine Organisierung der von Entlassung bedrohten Näherinnen ermög­lichte, Forderungen nach kollektiven Arbeitsverträgen durchsetzte und beim Aufbau von Kooperativen mithalf.
Die Asamblea de Barrios (Stadtteilversammlung) nahm sich der Wohnungs- und Mietpolitik an, indem sie aus der unmittelbaren Selbsthilfe beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben eine politische Organisation der betroffenen Familien auf­baute, die durch konkrete Forderungen und Vorschläge an die Regierung Ein­fluß nahm und durch Besetzungen von Grundstücken und Gebäuden den Woh­nungsnotstand bekämpfte. Führer dieser Bewegung ist “Superbarrio”, der im Ge­gensatz zu Cárdenas kein Caudillo, sondern nur ein Symbol des Widerstandes ist. Er ist Freistilringer (Lucha Libre) und stellt in Schaukämpfen das Gute dar, das über das jeweils Böse, den Miethai, den Schuldeneintreiber, oder über Aids siegt. Da er immer maskiert auftritt, ist er nicht als Person identifi­zierbar, son­dern repräsentiert auf antiautoritäre Weise die Hoffnungen der Bevölkerung in den Stadtteilen. Er taucht auf allen politischen Veranstaltun­gen auf, nimmt an Demonstrationen teil und verhandelt mit Politikern, ohne jemals die Maske ab­zunehmen.
Dachorganisation der Basisbewegung in der Hauptstadt ist die CONAMUP (Coordinación Nacional del Movimiento Urbano Popular – Nationale Koordina­tion der Stadt- und Basisbewegung). Sie vereinigt Gruppen, deren Aktivitäten Öko­logie, Versorgung, Wohnungsprobleme, Bürgerrechte, Gewalt gegen Frauen und vieles mehr umfassen. Unmittelbar zielt die Arbeit der Gruppen auf eine Ver­besserung der Lebensumstände der Bevölkerung ab. Nach eigenen Aussagen will die Bewegung jedoch versuchen, den lokalen Charakter ihrer Aktivitäten zu überwinden, um sich in eine Alternative zur bestehenden Regierung zu verwan­deln (Zeitschrift Barrio Nuevo Nr. 2, Mexico D.F.).
Genau hier liegt das Problem der Basisbewegungen. Sie sind zwar keine “Einpunktbewegungen”, die nur kurze Zeit nach ihrem Auslöser oder während einer Konjunktur wie den Präsidentschaftswahlen existieren, doch fehlt ihnen ein politisches Konzept mit konkreten Alternativen, die über die bestehenden Kon­
flikte hinausgehen. Im Gegensatz zu den Parteien haben sie eine reale, verläßli­che Basis, sie ist aber beschränkt auf das unmittelbare Aktionsgebiet und noch besteht keine Infrastruktur, um die Regionalisierung zu überwinden.

Demokratie ohne Träger oder undemokratische Träger

Wenn es um Demokratie geht, ist es um Mexiko schlecht bestellt. Das korrupte Einparteinsystem, im demokratischen Mantel, ohne militaristische Strukturen und außenpolitisch mit progressivem Image, gab bisher weder Anlaß noch Mög­lichkeiten zu einem demokratischen Wandel. Gleichzeitig verhinderte es effek­tiv eine Organisierung von unten – alle integrierbaren Ansätze wurden koop­tiert, die übrigen verfolgt und aufgerieben.
So ist der Begriff einer “Demokratisierung von oben” in Mexiko schon auf­grund der internen Konstellation in Frage zu stellen. Modernisierung von Wirtschaft und Politik, verbunden mit hohen sozialen Kosten und abgesichert durch for­melle Wahlen nach westlichem Vorbild (kein Wahlbetrug mehr, dafür sinkende Beteiligung und ökonomische Erpressung), birgt weder Garantien für eine Auf­lösung des korrupten Apparates, noch ist zu erwarten, daß der Wandel des bis­herigen Systems reibungslos zu bewerkstelligen ist. Gewalt zur Durch­setzung der Demokratie ist die Realität dieser Alternative.
Und die “Demokratisierung von unten” ist vor allem zeitlich noch nicht in Sicht. Das Manko der linken Oppositionskräfte ist die fehlende Interventions­fähigkeit. Die Basisbewegungen befinden sich erst im Aufbau, haben keine kontinuierliche Tradition vorzuweisen und sind gezwungen, sich auf die sozialen Konflikte und die Abwehr staatlicher Repression zu konzentrieren. Die Ergeb­nisse dieses Wi­derstandes sind allerdings ermutigend. Eher zuviel Tradition weisen demgegen­über die linken Parteien auf, deren heutige Schlagkraft zu großen Teilen der In­tegrationsfigur Cuauthémoc Cárdenas geschuldet ist. Die theoretische Auseinan­dersetzung über ein sozialistisches oder eher an mögli­chen Reformen orientiertes Parteiprogramm ist im vollen Gange und verhindert ein einheitliches Auftreten der PRD (Tageszeitung La Jornada, 17.5.90).
Trotz der guten Zusammenarbeit von PRD und Basisbewegung ist die Linke nicht in der Lage, der Stabilisierung der neuen PRI-Politik entscheidende Hin­dernisse in den Weg zu stellen. So wird Salinas de Gortari weiter auf Mo­dernisierung setzen, und es steht zu befürchten, daß die Entwicklung der po­litischen und sozialen Gewalt der der Demokratie weiterhin vorauseilt.

Newsletter abonnieren