Zusammenfassung:
Die größte Bedrohung für die politische Stabilität Mexikos ist unseres Erachtens nach die augenblickliche Finanzkrise. So- lange die Regierung von Staatspräsident Ernesto Zedillo nicht geeignete Maßnahmen ergreift, den Peso zu stabilisieren und eine unkontrollierte Inflation zu vermeiden, wird es fast unmöglich sein, sich Themen wie Chiapas oder der Justiz- und Wahlreform zu widmen. Eine Verlängerung der Krise mit ihren negativen Auswirkungen auf den allgemeinen Lebensstandard wird vielmehr Arbeitskämpfe und soziale Unzufriedenheit provozieren.
Die Regierung Zedillo
Als Zedillo am 1. Dezember 1994 das Amt des mexikanischen Präsidenten antrat, schien dies ein neues Kapitel auf dem Weg zur Modernisierung der mexikanischen Politik einzuläuten… Der neue Präsident forderte eine Reform des Justiz- und Wahlrecht und eine friedliche Lösung des ein Jahr alten Aufstandes im südlichen Bundesstaat Chiapas. Er betonte, wie wichtig die Transparenz von Regierungsgeschäften und die Erziehung und Ausbildung der mexikanischen Bevölkerung sei. Zedillos Kabinett, das sich aus denselben Kreisen zusammensetzt wie das seines Vorgängers Salinas de Gortari, vermittelte den Eindruck von Kompetenz und Engagement… ( Chronologie der Peso-Krise) … Nur wenn die Regierung erfolgreich den Peso stabilisiert, ein sprunghaftes Ansteigen der Inflation verhindert und das Vertrauen der Investoren zurückgewinnt, wird es unserer Meinung nach für Zedillo möglich sein, sich der Agenda von Reformen zu widmen, die er am 1. Dezember aufgestellt hatte. Es gibt drei Felder auf denen die augenblickliche Währungskrise die politische Stabilität in Mexiko untergraben kann. Das erste ist Chiapas, das zweite sind die kommenden Wahlen in den Bundesstaaten und das dritte die Gewerkschaften, ihr Verhältnis zur Regierung und zur PRI.
1. Chiapas
Der Aufstand im südlichen Bundesstaat Chiapas ist jetzt ein Jahr alt und offensichtlich ist man noch immer keiner Lösung näher gekommen … Zwar neigt Zedillo zu einer friedlichen Lösung des Patts in Chiapas auf dem diplomatischen Weg, aber es ist schwer vorstellbar, daß die augenblicklichen Umstände eine friedliche Lösung zulassen. Mehr noch: je mehr die Währungskrise die Regierung in ihren Vorhaben sozio-ökonomischer Reformen beschränkt, desto schwieriger wird es für sie werden, breite Unterstützung für ihre Vorhaben in Chiapas zu gewinnen. Noch wichtiger: Marcos und seine Anhänger könnten beschließen, die Regierung mit einem Anstieg lokal begrenzter, gewalttätiger Aktionen in Verlegenheit zu bringen und die Regierung zu zwingen, den zapatistischen Forderungen nachzugeben, die eine politische Niederlage, die sie völlig bloßstellen würde mit, sich brächte.
Die Alternative ist eine militärische Offensive zur Niederschlagung des Aufstands. Das hätte einen internationalen Aufschrei zur Folge: Protest gegen den Einsatz von Gewalt und die Unterdrückung indígener Rechte. Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politischen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von Investoren wahrgenommen.
Die Regierung wird die Zapatisten ausschalten (eliminate) müssen, um zu demonstrieren, wie wirksam ihre Kontrolle über nationales Territorium und nationale Sicherheit ist.
2. Wahlen in den Bundesstaaten
Präsident Zedillo bekannte sich in seiner Ansprache zur Amtseinführung noch einmal zur Öffnung des parlamentarischen Systems auch für Oppositionsparteien. Das war in den vergangenen Jahren eines der Hauptthemen zwischen der PRI-dominierten Regierung einerseits und der PAN und der PRD andererseits. Der konservative Flügel der PRI bezog gegen eine politische Liberalisierung Position, während der Flügel um Zedillo die Öffnung als unvermeidlich und auch gerechtfertigt betrachtete. Die augenblickliche Währungskrise wirft die Frage auf, ob Zedillo und die Reformer die Stärke haben werden, die Ergebnisse der Wahlen von 1995 zu respektieren. Die Konservativen werden behaupten, die Krise rechtfertige eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft, selbst wenn dies nur durch Wahlbetrug möglich sei. Die Opposition, die ohnehin die Wahlsiege der PRI generell anzweifelt, … wird ermutigt werden, dies weiter zu tun. Zedillo wird vor einer schwierigen Situation stehen: Er muß die Konservativen seiner eigenen Partei neutralisieren und gleichzeitig sein Bekenntnis aufrechterhalten, die Opposition auch gewinnen zu lassen, wenn sie das legitim getan hat…
Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.
Korrekt erzielte Wahlerfolge der Opposition nicht anzuerkennen, wäre zwar ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strategie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko einer Spaltung der Partei in sich bergen.
Wir glauben, daß die Fähigkeit der Regierung Zedillo, die inhärenten Konflikte in der Agenda der Wahlen von 1995 zu lösen, letztendlich entscheidend sein wird. Nämlich, ob es der Regierung gelingt, ihr Versprechen zu halten, die mexikanische Politik zu liberalisieren.
3. Die Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung war über Jahrzehnte das Rückgrat der PRI. Die Bereitschaft der Arbeiterführung sich nach der PRI zu richten, war ein fundamentaler Bestandteil der Stabilität in Mexiko seit den 30er Jahren. Die augenblickliche Währungskrise droht diese Unterstützung wegen den negativen Auswirkungen auf Lebensstandard und Löhne zu unterlaufen. Der Wertverfall des Peso macht sich für den durchschnittlichen mexikanischen Arbeiter schon beim Erwerb der Güter für den alltäglichen Bedarf heftig bemerkbar …Die starken, strukturellen Verknüpfungen zwischen Regierung und Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren abgeschwächt. Die Regierung hat zwar noch Einfluß, aber keine völlige Kontrolle mehr. Wenn sich die Krise fortsetzen sollte, wären zwei Optionen für die Regierung denkbar: 1. sie weist die Forderung der Arbeiter nach mehr Lohn zurück – mit der Möglichkeit von Demonstrationen oder 2. sie gibt den Forderungen der Arbeiter nach und verschärft damit die ökonomische Krisensituation.
Schlußfolgerungen
Die mexikanische Währungskrise hat das Bekenntnis der Regierung Zedillos zu einer neuen Welle von Reformen überschattet – Reformen, die politische Verhandlungen zur Lösung der Chiapas-Krise und die Garantie fairer Wahlen auf Bundesstaats- und Gemeindeebene einschlossen. Offen bleibt, ob die mexikanische Arbeiterklasse eine länger anhaltende Periode von Lohnverlust und sinkendem Lebensstandard akzeptieren wird. Diese sozialen und politischen Fragen, die für den Präsidenten eine hohe Priorität haben, werden unvermeidlich zurückgestellt werden, solange bis die ökonomische Situation geklärt ist. Solange die Regierung Zedillos unfähig ist, den Peso zu stabilisieren und Inflation zu vermeiden, läuft sie Gefahr mit sozialen und politischen Unruhen konfrontiert zu werden.
…und wieder herrscht Krieg
4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Konvent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wurde der Beschluß gefaßt, die Organisationsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Befreiungsbewegung” zu bilden, die einer politischen Oppositionsbewegung gleichkommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Übergangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals bekräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waffenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinengewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschiedenen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcommandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa erklärte später, sie sei unter Drohungen gezwungen worden, ein vorgefertigtes Geständnis zu unterschreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedillos, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Sebastian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs gegen die Zapatisten; in einem Kommunique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogangebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee marschieren in die von Zapatisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Militärfahrzeuge und Lufteinheiten. Ungefähr zwölf Orte werden durch Panzereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzugängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Personen teil. Unter der Parole: “Wir sind alle Marcos”, forderten sie ein sofortiges Ende des Krieges, die Freilassung aller bisherigen Gefangenen und eine friedliche Lösung des chiapanekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein getöteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regierungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Morelia und Las Guarrachas von vier Kampfhubschraubern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das Innenministerium bekannt, daß alle wichtigen Positionen in Chiapas wiedererobert seien. Militärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommunalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung seiner Person durch die Regierung. Er behauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indígenas auf der Flucht: Nationale Menschenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Einreise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gouverneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistellung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indígena-Organisationen, daß es keine weiteren Offensiven gegen die zapatistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Patrouillen gegen Gewalttaten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Erklärung, in der der mexikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien willkürlich verhaftet und gefoltert worden, einige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundgebung in einer Woche findet diesmal vor dem Nationalpalast in Mexiko-Stadt statt. Wieder nehmen mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rückzug der Bundesarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befinden sich immer mehr Menschen aus chiapanekischen Dörfern auf der Flucht (siehe ausführlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zurückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grundvoraussetzung für den Dialog.
“Wir schaffen eine neue Realität”
In dieser Zone, in der die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisationen verschiedenster politischer Richtungen zahlreiche Ländereien von Großgrundbesitzern besetzt, um dem historischen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Geltung zu verschaffen. Eine dieser Organisationen ist die “Unión de Campesinos y Popular Francisco Villa”, die in 14 Gemeinden der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer bewaffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldnertruppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem internationalen Journalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jahres besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbewaffneten Kampf für ein menschenwürdiges Leben auf eigenem Land führt”, erklärte Eduardo, Führungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidigungen ist jetzt Schluß.” Unser erster Weg führt uns in das Verwaltungsgebäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethnologen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexikanern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn abholten, prangt ein Aufkleber, der zynischer kaum sein kann: “Dinero en manos del pobre”, übersetzt: “Geld in Händen der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfassende Kaffeeplantage, steht das Haus der Ex-BesitzerInnen. Die Villa “der Reichen”, wie die deutschen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres angesichts der rebellierenden Campesinos/as fluchtartig Liquidambar verließen. “Wenn die Reichen in ihr Haus wollen, können sie kommen und mit uns leben. Aber sie werden nicht mehr Land erhalten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Gebäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Besetzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bodybuilding-Center, Hausbar, Weinkeller. “Die Getränke, vor allem Champagner und französische Weine, wurden nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alkoholverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausgegeben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herrschaftssitz und betreten die Siedlung der Finca. Während in den wenigen Steinhäusern die Verwalter lebten, waren die KaffeepflückerInnen, in der Erntezeit etwa 2000 Personen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr waren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Gehenkten” beschreibt. Neben der kleinen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem Laden konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die geleistete Arbeit ausgegebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billigen Fusel eintauschen. Für den Arbeitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die KaffeearbeiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Essen – Tortillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizinische Versorgung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten diejenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-BesitzerInnen aufnehmen. Als Gegenleistung mußten den Deutschen die Besitztitel überlassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Liquidambar gelegenen Ortes Nueva Palestina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” verfügten, läßt ein im Wald der Finca angelegter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisieren das Ende der Leidenswege zerschundener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Familien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salvadorianer. Diesen illegalen Wanderarbeitern wurden bei Arbeitsbeginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzahlungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhältnisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonntag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff ertränkten, wurden sie von Aufpassern in das Gefängnis der Finca geworfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die KaffeepflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiten die Menschen in Liquidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis gestiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflückter Menge Kaffee. Da die Produktionsanlage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-BesitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Trocknungsvorgang relativ reibungslos. Auch beim Verkauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Großgrundbesitzer sind in dieser Region gescheitert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Geschäft nicht entgehen lassen wollen. Allerdings werden die Villistas in Liquidambar höchstens die Hälfte des reifen Kaffees ernten können. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Lebensformen unterschiedlich. Hier in Liquidambar wird alles kollektiv verwaltet und bearbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir bezahlen uns, Männern und Frauen, die gleichen Löhne, das Essen ist für alle umsonst, und die Häuser – die Baracken werden nicht bewohnt – stehen den Familien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organisiert, überwiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist jedoch erst bei den Besetzungen von Liquidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Unsere ersten Aktionen waren die Besetzungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Reifung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räumungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wiederbesetzungen wechselten einander ab. In dieser Region ist die Repression gegen sich organisierende Campesinos/as durch die traditionell enge Verflechtung von GroßgrundbesitzerInnen, PolitikerInnen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders ausgeprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Paniagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-getretener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mitglied der UCPFV von Pistoleros der Finqueros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, gegen die Unterdrükkung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die unbewaffnete Organisierung, vertrauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Villistas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierungen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes Angebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Landkreis zur Verfügung zu stellen, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sollen. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzunehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV besetzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehandelten Waffenstillstandes durch die mexikanische Regierung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Großgrundbesitzervereinigungen haben die Existenz einer 700 Mann starken Armee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der regionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die besetzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergreifen. Unsere Aktionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Frente Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem Anführer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. Angesichts dieser Bedrohungen ist es verständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichtsschutz fotografieren lassen.
Programm der Superreichen
Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wachsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vorherrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Supermacht hat sich Herrschaftsgebiete geschaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahrzehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vielen Produktgebieten verloren, zum Beispiel im Automobil- und Elektronikbereich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deutschland.
Der Rückzug der US-Truppen aus Europa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bündnisse den US-amerikanischen Politikern nicht länger als “wirtschaftspolitischer” Hebel dient. Drohende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-amerikanische Exporteure und Importeure als auch die US-KosumentInnen insbesondere der niedrigen Einkommensschichten treffen können. Der kongenialste und am besten mit historischen US-Strategien (Monroe-Doktrin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Innerhalb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patenteinkünfte aus Lateinamerika herausziehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strategische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die negativen Transfers hinsichtlich anderer Regionen zu kompensieren. Die Handelsbilanzüberschüsse mit den lateinamerikanischen Ländern dienen zur Kompensation der negativen Handelsbilanzen bezüglich Asiens und Westeuropas. Die kostengünstige Produktion in Lateinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikanischen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbewerbern zu konkurrieren.
In diesem Zusammenhang war die Liberalisierung in Lateinamerika notwendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zugang zu Märkten und Einkünften zu liefern und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Sinne ist die Liberalisierung eng mit den globalen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Politik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und kontinentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-amerikanische Offizielle verfolgt: Lateinamerikanische Diktatoren, die die Liberalisierung förderten, wurden finanziert und unterstützt, ein Übergang zu demokratischen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Liberalisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerikanischen globalen Politikstrategie: Insoweit, als Liberalisierung funktioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Transnationalen Konzerne (TNC) und Banken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikanische Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Berücksichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Verhandlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) basiert auf der Tatsache, daß die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 beliefen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Betrug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurchschnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Millionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahresdurchschnitt 189,8 Millionen US-Dollar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Patent- und Lizenzeinkünfte ziehen Einkommen ab, ohne daß Wertschöpfung stattfindet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Investitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen vergleichen. Zwischen 1961 und 1971 betrugen die gesamten Patent- und Lizenzeinkünfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvestitionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzeinkünften zu den Gewinnen aus Direktinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Direktinvestitionen in Lateinamerika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direktinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikanischen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zurück. Dies war die Boomphase der lateinamerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerikanischen Gesellschaften von der ersten Liberalisierungswelle und dem starken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinamerikanischen Marktes. Die Konsumausgaben gingen zurück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kanalisierung der Ressourcen in devisenerzeugende Sektoren, um den Schuldendienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Beziehung zwischen Zinszahlungen und Gewinnrückführungen: Sofern die Banken große Summen an Zins- und Tilgungszahlungen herausziehen, fallen die Profite aus den produktiven Investitionen. Nichtsdestotrotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen Hebel, um die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen zu puschen. Viele dieser Firmen wurden von US-amerikanischen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirtschaftliche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-amerikanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zurücktransferiert. Gegenüber den schlechten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Verbesserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hatten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell negative Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersuchungszeitraum die Hauptquelle bei Privaterträgen aus überseeischen Wirtschaftsaktivitäten. Die wachsende Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren privater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schuldenlasten in Lateinamerika. Spiralenförmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zahlungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-amerikanischen Handelsdefizit gegenüber Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateinamerika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zinszahlungen von Lateinamerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transferiert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negativen Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Exportnachfrage des Subkontinents. Hingegen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die Defizite gegenüber Japan und Deutschland zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge steigender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Produktivvermögen. Liberale Wirtschaftspolitik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentverträgen erleichterte. Privatisierung ermöglichte den Ausverkauf öffentlicher Unternehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zeigen ein insgesamt spektakuläres Ansteigen im Zuge der Vertiefung der Liberalisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlungen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnahmen zum Kernstück der US-Politik wurden und dies ist ein Grund, warum US-PolitikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militärputsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikanischen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika untersuchen, fügen wir eine andere Dimension der asymetrischen Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika hinzu. Eine Dimension, die für die Unterstützung von “Freihandelsabkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechziger Jahren bis zum Beginn der Schuldenkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substantiellen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Millionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschlagen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durchschnittliche jährliche Defizit in der Periode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der ökonomischen Erholung in Lateinamerika begannen die USA erneut einen Handelsbilanzüberschuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliarden US-Dollar. Der Handelsüberschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen sanken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Importe infolge der lateinamerikanischen “Exportstrategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Einkommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpassungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateinamerikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorangegangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Konsequenzen der vertieften Liberalisierung ein Ansteigen des US-amerikanischen Handelsüberschusses über seine historischen Höchstmarken ist. Während einerseits die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateinamerika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 vergleichen, sehen wir, daß die vorteilhaften Bilanzen gegenüber Lateinamerika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Lateinamerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirtschaftlichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber Lateinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan und deckt kaum das Defizit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-amerikanischen Einkommens aus Lateinamerika addieren (Rente, Handelsgewinn, Unternehmensprofit) und mit den Handelsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verstehen wir die strategische Bedeutung Lateinamerikas für die US-amerikanische Gobalpolitik. Lateinamerikas Beitrag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamteinkünfte aus Handel, Investitionen, Darlehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rückfluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliarden US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Handelsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateinamerika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Einkommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärtigen Jahrzehnt fortzusetzen. Die Liberalisierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich verschlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthandelspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politikmaßnahmen zu einer tiefen Polarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften geführt und eine neue Klasse von superreichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungsprozesses: 1987 gab es in Lateinamerika weniger als sechs Milliardäre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die meisten der Superreichen waren vor der Liberalisierung Millionäre. Sie wurden Milliardäre durch den Ausverkauf der öffentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem ausgedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlprozesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Concertación, und in Argentinien, Venezuela und Kolumbien durch die traditionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minenkonzessionen, Telekommunikationssysteme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohlstands auf eine kleine Gruppe von Familien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Obergeschoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung profitiert – zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit – sondern waren dank ihrer Verbindungen zu den liberalen Regierungen die größten Unterstützer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermögenskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Produkt der “neoliberalen Konterrevolution.” Im Zeitraum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie erfaßt die Verflechtungen zwischen den superreichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzierungsabkommen miteinander verbunden. Die Integration der Superreichen in den Weltmarkt und ihre Fähigkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu regulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subventioniert, ist zur auffälligsten Erscheinung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Superreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neoliberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliardäre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Profiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesundheits- und Bildungswesen liegt in der Umverteilung der öffentlichen Ressourcen zum Privatsektor und innerhalb des Privatsektors zu den sehr Reichen. “Neoliberalismus” ist in seiner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transferiert. Die Armen werden dem Überlebenskampf überlassen: Mit marginalen Kleinstunternehmen, mit informeller Beschäftigung und mit Almosen aus Projekten, die von Nicht-Regierungs-Organisationen gesponsert werden, versuchen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgearbeitet wurde, um Lateinamerikas Integration in den Weltmarkt zu erleichtern. Noch ist sie ein unvermeidliches Produkt eines immanenten “Globalisierungsprozesses”. Eher ist Liberalisierung ein Produkt von US-amerikanischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesellschaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Kapitalisten verbunden sind. Es sind spezifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie diktieren. In diesem Sinne muß die Umkehrung der Liberalisierung auf der nationalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.
“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”
Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir warnen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Zedillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir sehen auch, daß er zur gleichen Zeit die Linie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaffneten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und seinen tatsächlichen Ursachen nicht entgegentrat, sondern stattdessen die Zeit verstreichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen gehaßten Gouverneuren stand. Auf der anderen Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mobilisierung herbeiführen und die Stimmung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Interesse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisierung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drängen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Geschichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was passiert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlassen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Distanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schiefgeht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entnehmen, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Januar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politische Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie waren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und trugen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müssen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waffen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu machen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zurückkehren. Wir können die KämpferInnen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesselung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhalten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillusionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die gleichen sozialen Klassenstrukturen, der gleiche Rassismus, die gleiche Regierungsstruktur und die gleichen radikalen Diskurse neben reaktionären Praktiken. Deshalb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebrochen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur zapatistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewegung. Die sozialen Strukturen im mexikanischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Modernisierung Mexikos müßten zwei Sektoren geopfert werden: Entweder die indigene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hinsicht ein Hindernis für jedwede Reformentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen begleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammengefaßt, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für alle MexikanerInnen. Das forderten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs verändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlangen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regierung der PRI noch koexistieren und verhandeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rechnungen, die auf vielen Ebenen zu kassieren sind. In Chiapas schafft sie die Verbindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik erhalten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnungen auf allen Ebenen, die es in der Regierung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwingen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejercito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Aktion zu machen. Wenn wir dies so bewertet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht einmal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Absurdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dialog.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhaltensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß jemand anderes kommt. Dann reden wir.
Die Seifenblase ist geplatzt
Salinas de Gortari, der erst im Dezember das Präsidentenamt an Zedillo abgegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte abwerten sollen. Seine Regierung habe jedoch im Vorfeld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgründen nicht von ihrer Wechselkurspolitik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezember immer noch ihre ökonomische Erfolgsbilanz, die sich ebenfalls auf Stabilität gründete: Geringe Inflation, die allerdings nur wegen eines immer größer werdenden Kapitalbilanzdefizites möglich war, machte die Staatspartei, im Bewußtsein der Wähler, zum einzigen Garanten der Stabilität und sicherte ihr bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN werfen dem Ex-Präsidenten Salinas inzwischen persönliche Bereicherung vor. Doch die USA, deren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbeschränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne entsprechende Pesoabwertungen lobte, fördern die Kandidatur Salinas zum Vorsitzenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welthandelsorganisation) weiterhin. Salinas zeige hervorragende Führungsqualitäten, erklärte US-Handelsminister Ron Brown. Der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei bekannt gewesen, daß der Wechselkurs des Peso korrigiert werden mußte. Die Regierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomischen Daten gut nach außen habe darstellen können. Diese Seifenblase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wieder einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schockprogramm Zedillos wird natürlich vom Internationalen Währungsfond (IWF) unterstützt, in der Bevölkerung dürfte der Rückhalt allerdings nicht groß sein. Im Notstandsprogramm sind innerhalb der nächsten zwei Jahre lediglich Lohnsteigerungen von sieben Prozent vorgesehen. Die Unternehmen konnten nur zu dem Versprechen gebracht werden, die Preise nicht “ungerechtfertigt” zu erhöhen. Dieses “Abkommen für die Einheit”, das Anfang Januar von der Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband und den Unternehmen ausgehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vorgesehen, die Staatsausgaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu verhindern.
Doch inzwischen meldete die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter den Anspruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Angestellten der staatlichen Presseagentur Notimex verlangen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Nationale Kammer der Weiterverarbeitenden Industrie (Canacintra), die 85 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in Mexiko repräsentiert, forderte ein sechsmonatiges Schuldenmoratorium und die Stundung von Steuerrückständen. Außerdem forderte der Verband Hilfe für Unternehmen, die vor der Abwertung Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten. Alle Importprodukte sind wesentlich teurer geworden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölgesellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungsvertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu privatisieren, wächst. Immerhin war die mexikanische Regierung erstmals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu verwenden. Denn die Kapitalflucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeblich bis zu zehn Milliarden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko geworben werden. Zwar sind diese Summen überwiegend im nichtproduktiven Bereich eingesetzt worden, denn Spekulation verspricht höhere Gewinne, doch die Sicherung ausländischer Kapitalanlagen in Mexiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikanischen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vorzüge des Standortes Mexiko. Enrique Vilatela, Präsident der Banco Nacional de Comercio Exterior und Leiter der vom mexikanischen Finanzministerium nach Europa entsandten Delegation, verkündete in Frankfurt, daß über konkrete Finanzarrangements nicht gesprochen worden sei. Doch mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, beteiligten sich zwei deutsche Großbanken an einem Stützungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über dessen Modalitäten nichts bekannt wurde und der Teil eines 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind insgesamt 30 internationale Geldinstitute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kreditbürgschaften von bis zu 40 Milliarden Dollar bereitstellen, um Mexikos kurzfristige Zahlungsverpflichtungen auf einen längeren Zeitraum umschulden zu können.
Durch diese offene Unterstützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Prozent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dollar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Autoproduktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexikanische Inlandsnachfrage zusammengebrochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Arbeitsrechte Halbfertigprodukte aus den USA zusammengefügt und wieder in die USA re-importiert. Jede Lohnsenkung erhöht die Profite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexikanischen Krise auf ganz Lateinamerika ist währenddessen unübersehbar. Mexiko als eines der größten und entwickeltsten Länder des Subkontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbunden ist, symbolisierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf diese Weise den gesamten Kontinent stabilisieren wollen, beginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neugeschaffene Währung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird abgewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Börsenkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für den Nachbarstaat Argentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinnehmen. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Ausweitung des Freihandelsabkommens NAFTA auf den gesamten Kontinent auf Schwierigkeiten stoßen. Der extrem ungleich verteilte Reichtum in Lateinamerika erscheint zwar in den Handelsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung gefährden.
Kasten:
Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.
Ya basta!
Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand markierte zugleich den Beginn der “ersten Revolution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeindelandes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das Todesurteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses Todesurteil wollen die Indígenas nicht hinnehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr geduldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, weggenommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das widerspricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indianischen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum gerechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Nationalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdekken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der ZapatistInnen-Aufstand auch die “erste Revolution des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die soweit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-militärisches Avantegardekonzept und blieben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wachsen, sondern in eine Explosion münden, die ein festgefügtes, hartes, gewaltiges, monströses Land bis in seine Grundfesten erschütterte – Mexiko. Sie vermochte dies, weil sie entgegen aller Regeln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Denken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskollektiv aus mehreren Lateinamerika-Solidaritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu erstellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Interviews, Reportagen, Analysen und einem Fotoessay. Ebenso werden Widersprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen als “Paradoxon” charakterisiert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Analysen der mexikanischen Realität, die Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volksorganisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde gelebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen sterben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”
Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM
Ein Jahr nach Chiapas
Der Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo am 1. Dezember 1994 war so unspektakulär wie selten in der Geschichte Mexikos. Er sollte ein Bild von Normalität zeichnen und den Eindruck erwecken, Mexiko sei zur Tagesordnung zurückgekehrt und der Konflikt in Chiapas sei auf ein beiläufiges und lösbares Problem reduziert worden. Zu dem Aufstand nahm Zedillo in seiner Antrittsrede nur ganz am Rande und lakonisch Stellung: Auf dem Verhandlungswege solle eine friedliche Lösung gefunden werden. Interessant war nur, daß Zedillo nicht bekanntgab, wer die Friedensverhandlungen mit der EZLN-Guerilla für die Regierung leiten wird. Denn der Nachfolger von Manuel Camacho Solis, Jorge Madrazo, hatte kurz vor dem 1.Dezember sein Amt niedergelegt. Was hat nichts zu sagen hat, weil es in Mexiko ein ungeschriebenes Gesetz gibt, nach dem alle in höheren Regierungspositionen sitzenden Politiker vor dem Amtsantritt eines neuen Präsidenten ihr Amt kündigen müssen.
Vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August hatte es noch Hoffnungen auf eine tiefgreifende Veränderung der politischen Verhältnisse in Chiapas und dem restlichen Mexiko gegeben. Sie wurden durch den erneuten Sieg der PRI (49 Prozent der Stimmen) und das schlechte Abschneiden der linken Opposition PRD (16 Prozent) zunichte gemacht. Das Wahlergebnis und die Ermordungen des ursprünglichen Präsidentschaftskandidaten der PRI, Colosio, sowie des PRI-Generalsekretärs Massieu, die mehrfachen Mordanschläge auf Zedillo und die Zunahme der Repression gegen Oppositionelle schürten die Angst vor einem unkontrollierten Hochschaukeln von Gewalt zur Lösung von Konflikten im ganzen Land. Auch in linken, intellektuellen und oppositionellen Kreisen mehrt sich die Kritik an Marcos und der EZLN und es wird offen gefragt, inwieweit der Aufstand, beziehungsweise die Aufständischen, in Chiapas nicht mitverantwortlich sind für die Zunahme der Gewalt.
Eine Doppelmacht im Staat?
Bei dem Versuch, ein Jahr nach dem Aufstand in Chiapas Bilanz zu ziehen, erscheint das Bild von der Normalität, das die neue PRI-Regierung beim Amtsantritt abgeben wollte, trügerisch. Denn der Aufstand erscheint als das tiefgreifendste und einschneidendste Ereignis der letzten Regierungszeit und überschattet alle ökonomischen und politischen Modernisierungsprojekte von Ex-Präsident Carlos Salinas de Gortari zum Anschluß Mexikos an die “Erste Welt” (Freihandelszone mit den USA und Kanada, neoliberale Wirtschaftsreformen, Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen). In ihrer bis zum 1.1.1994 unbekannten Verbindung von traditionellen indigenen Strukturen und postsozialistischem Diskurs fällt die Bewegung in Chiapas aus allen gängigen politischen Rastern. Die Verhandlungen zwischen Staat und EZLN, und das Fortbestehen der EZLN als “kriegführender Partei” in einem lokal begrenzten und kleinen Gebiet des nationalen Territoriums hat indirekt zu einer Tolerierung einer zweiten Macht im Staat geführt, was jeden Nationalstaat mit seinem Gewaltmonopol und seinem ausschließlichen Machtanspruch in den Grundfesten erschüttern muß.
Konflikte auf allen Ebenen
Die sozialen Konflikte und bewaffneten Auseinandersetzungen in Chiapas haben das politische System ins Wanken gebracht und der Gesellschaft und Politik einen Spiegel vorgehalten. Durch den Konflikt wurde deutlich, daß der sogenannte soziale Liberalismus von Salinas, der die Institutionalisierte Revolution ablösen sollte, die Mehrheit der MexikanerInnen ausschloß.
Seit dem Aufstand haben sich innerhalb der PRI die Konflikte zwischen den “PRInosauriern” und den Technokraten verschärft und zu einer bedrohenden Gewaltzunahme in den innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt. Doch nicht nur in der PRI, sondern auch innerhalb der Linken – den sozialen Bewegungen und der PRD – hat Chiapas zu neuen Polarisierungen geführt. Auf der einen Seite hat die soziale Frage eine neue Aufwertung erfahren, auf der anderen Seite sind auch Differenzen über die Mittel des Kampfes für soziale Gerechtigkeit entstanden. Während die einen sich radikalisieren und den bewaffneten Kampf als das einzig noch bleibende Mittel propagieren, sind andere durch die Zunahme von Gewalt eingeschüchtert und warten ab. Von der Euphorie der über sechstausend Delegierten der CND (des Demokratischen Nationalkonvents), die sich Anfang August in der Selva Lacandona in Aguascalientes trafen und dem massiven öffentlichen Interesse ist nicht viel übriggeblieben. Das zeigt sich auch in den heftigen Positionskämpfen in den Versammlungen der CND. In der PRD, die mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Cárdenas vor den Wahlen Hoffnungsträgerin für ein baldiges Ende der PRI-Regierung war, sieht es nicht besser aus. Bis zu den Wahlen waren die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Partei weitgehend unter Kontrolle. Seit der Wahlniederlage und den offensichtlichen Wahlbetrügereien ist bei vielen PRD-Mitgliedern das Vertrauen in die Urnen erschüttert. Die Kompromisse, die die PRD während der Wahl eingegangen war, erscheinen im Nachhinein als unnütz, und das Setzen auf Wahlen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ist infrage gestellt. Diese Polarisierungen innerhalb der PRD gefährden nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die Existenz der PRD als immerhin drittgrößter Partei des Landes.
Wer ist für das Klima von Gewalt verantwortlich?
Schließlich hat der bewaffnete Aufstand der EZLN im Zusammenhang mit den Attentaten auf Colosio und Massieu inzwischen auch das linke Lager der Intellektuellen gespalten. Auch wenn sie sich von Gewalt als Mittel der Politik distanzierten, hatten sie doch geschlossen hinter den Aufständischen gestanden. Heute mehren sich die Stimmen, die den bewaffneten Aufstand für das Klima von Gewalt, das sich im Land ausbreitet veranwortlich machen.. Chiapas hat die mexikanische Gesellschaft verändert, ohne daß sich in Chiapas selbst etwas grundlegend geändert hätte. Weiterhin ist keine friedliche Lösung des Konfliktes absehbar.
Kasten:
Tägliche Auseinandersetzung in Chiapas
Am 20. November 1994 gab es Demonstrationen, Kundgebungen, Straßenblockaden und Besetzungen von Bürgermeisterämtern in neun Regionen des Bundesstaates als Protest gegen den Wahlbetrug und die Einsetzung des PRI-Gouverneurs Eduardo Robledo Rincón. 20.000 Menschen waren an diesen Aktionen beteiligt. Dabei wurden sieben Personen verletzt, vier davon schwer durch Gummigeschosse. Zehn Personen verschwanden.
Sowohl in Comitán als auch in San Cristóbal, wo der Hauptplatz von DemonstrantInnen besetzt wurde, gab es Provokateure. Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, woraufhin diese Tränengas und später auch Schußwaffen einsetzten und dabei von den Steinewerfern unterstützt wurden.
Eine Gruppe von Geschäftsleuten aus San Cristobal, die sich als “coletos auténticos” bezeichnen und sich über extremen Rassismus gegenüber den Indígenas definieren, begann eine Hetzjagd auf DemonstrationsteilnehmerInnen durch das Zentrum der Stadt: DemonstratInnen wurden überwältigt und anschließend der Polizei übergeben.
Der Rat der Indígena-RepräsentantInnen der Region “Altos”, CRIACH, protestierte gegen das Vorgehen der Polizei im Vorort “La Hormiga” von San Cristobal. Auch dort war massiv Tränengas eingesetzt und ein fünfjähriges Mädchen schwer verletzt worden. Dem Polizeichef wurde vorgeworfen, seine Einheiten zunächst nicht gegen die Provokateure eingesetzt zu haben. Mit diesem Vorgehen habe er die Hetzjagd der “coletos auténticos” provoziert.
Am 8. Dezember, dem Tag des Amtsantritts von Robledo, demonstrierten 10.000 Campesinos auf dem Hauptplatz der Bundeshauptstadt Tuxtla Gutierrez. Die offizielle Zeremonie, an der auch der neue Präsident Ernesto Zedillo teilnahm, mußte deshalb in einem anderen Gebäude als dem Regierungspalast stattfinden.
Der Hauptplatz war von schwer bewaffneter Polizei und Militär umstellt. Die Campesinos ließen sich nicht provozieren und es kam nicht zu den befürchteten Zusammenstößen.
Die Campesinos begleiteten Amado Avendaño – den Gegenkandidaten der Zivilgesellschaft, der als Parteiloser auf der PRD-Liste angetreten war – nach San Cristóbal. Dort bildete dieser mit Unterstützung der EZLN eine Gegenregierung. Avendaño wurde aufgefordert, für die “befreiten Zonen”, zu denen weder das mexikanische Militär noch PRI-Funktionäre Zugang haben, Programme für eine zukünftige Politik zu entwickeln.
Die Situation wurde allgemein als “sehr angespannt, aber noch ruhig” bezeichnet. Viele Indígenas verließen ihre Dörfer aus Angst vor Angriffen durch das Militär.
“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”
LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mitglied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommission von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bundesstaates Chiapas teil. Im Moment befindet sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konfliktzone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Einhaltung der Menschenrechte und ganz besonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der Demokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gangbar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artikulieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör verschaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikanischen Bevölkerung repäsentieren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu erreichen, mit Mißtrauen beobachtet, allerdings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zusätzlich existieren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politischen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des bewaffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahesteht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-militärische Führung der ZapatistInnen anerkennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene sprechen. Aber es meldet sich auch eine andere Kraft zu Wort, die die Position vertritt, die Bewegung, inklusive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhaltenden Volkskrieg zu beginnen. Glücklicherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Ernesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkammer, die den Wahlausschluß bestimmt, ernannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl denken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfprogramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter anderem ermöglicht, demokratische Repräsentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In diesem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. November auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Zedillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht werden. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Avendaño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Aktionsprogramm für die politische Forderung nach Demokratie nach diesem Wahlprozeß, nimmt wieder den Weg der Mobilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexikanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es gewünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außerdem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerInnenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde dadurch die Demobilisierung des mexikanischen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem imaginären Mexiko lebten. Mexiko erschien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklichkeit verändert sich Mexiko zu einem Land, in dem eine unglaubliche Konzentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindrukkenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Unterbeschäftigten. Praktisch gibt es zwei Mexikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” vergleichen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern verschiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Republik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Millionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbildung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizipation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hegemoniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das erlaubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Arbeitsplätze, man braucht eine andere Logik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Regionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wälder – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Mexiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizischen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Interessen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundesstaaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu regionalisieren, und auf Chiapas zu begrenzen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den Indígenas, und besonders in Chiapas ausdrückt, ist es weder ein Problem der Indígenas noch von Chiapas. Armut, Ungerechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demokratie und das des Regimes der Staatspartei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chiapas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerInnen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch größere Stabilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiterschaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Nationalen Indígena- und Campesinokonvent, bald wird es den Nationalen Studentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusammengeschlossen. Auch die “untere Mittelschicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen werden, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der guatemaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chiapas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wurden schon autonome Regionen ausgerufen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzurüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder einer einfachen Lösung. Die einfache Variante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lösung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisierung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die Indígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas geschehen wird, wird sich in ganz Mexiko widerspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.
Editorial Ausgabe 247 – Januar 1995
“Tierra y libertad! Viva Zapata” Der Schlachtruf, mit dem die zapatistische EZLN vor einem Jahr aus dem lacandonischen Urwald trat, mutete anachronistisch an – war er doch eine Referenz an die mexikanische Revolution vor rund achtzig Jahren.
Schnell schon wurde jedoch deutlich, daß die Forderung nach Land und Freiheit in Chiapas – aber auch in anderen Bundesstaaten – höchst aktuell ist. Zu viele der Forderungen von damals sind lediglich in der Rhetorik der Regierungspartei verwirklicht worden.
Der “Kampf um die Würde”, den die zapatistische Guerilla am 1. Januar 1994 aufgenommen hatte, blieb militärisch auf den vernachlässigten Bundesstaat im Süden beschränkt. Politisch erschütterte er jedoch das ganze Land. Die EZLN wurde zur Hoffnungsträgerin für grundlegende Veränderungen in ganz Mexiko, der Aufstand der Indígenas sollte den Anfang vom Ende der über sechzig Jahre währenden PRI-Herrschaft markieren.
Doch der Machtwechsel fand nicht statt. Und nach den Präsidentschaftswahlen vom August, die der blasse Technokrat Zedillo für sich entschied, zeigt sich die Opposition zerstritten und orientierungslos wie zuvor. Auch der Aufschwung der in diesem Jahr so oft beschworenen Zivilgesellschaft hat vorübergehend ein Ende gefunden.
Doch auch die PRI ist geschwächt aus den Ereignissen der letzten zwölf Monate hervorgegangen. Kaum jemand nimmt ihr noch die Versprechungen vom Eintritt in die “Erste Welt” ab, welche die Mitgliedschaft in NAFTA und OECD signalisieren sollten. Und die innerparteilichen Auseinandersetzungen gehen so weit, daß die Morde an führenden PRI-Politikern – wie Colosio und Ruiz Massieu – mögliches Ergebnis interner Machtkämpfe sind.
Nach einem Jahr konzentriert sich das politische Interesse wieder auf Chiapas. Seit dem 8. Dezember gibt es mit dem Vertreter des offiziellen Mexiko, Eduardo Robledo, und dem Repräsentanten der autonomen Gemeinden, Amado Avedaño, gleich zwei Gouverneure. In dieser Situation wird wohl keiner der beiden regieren können. Und die Ereignisse der letzten Wochen deuten eher auf eine Verhärtung der Lage denn auf weitere Verhandlungen hin. Auch wenn es am Tag der doppelten Amtsübernahme in Chiapas weitgehend ruhig blieb, mittelfristig ist mit einem Wiederaufflammen der Kämpfe zu rechnen. Die EZLN ist sich des Dilemmas, in dem sie steckt, wohl bewußt. Nimmt sie den militärischen Kampf erneut auf, wird sie einen Teil der Sympathie, die sie noch immer in ganz Mexiko genießt, verlieren. Akzeptiert sie die Hinhaltetaktik der PRI auf ewig, wird sie zu einer marginalen Gruppe in den unzugänglichen Urwäldern von Chiapas, die niemad mehr ernst nimmt.
Das große Reinemachen
Am 25. Oktober war es soweit: Forschen Schrittes betraten FSLN-Mitbegründer Tomás Bórge und der neu in die Nationalleitung der Sandinistischen Front gewählte Lumberto Campbell die Redaktionsräume der sandinistischen Barricada und verkündeten die Entlassung des langjährigen Direktors und Barricada-Gründungsmitgliedes Carlos Fernando Chamorro. Chamorro zählte innerhalb der Partei zu den ReformerInnen, die beim letzten Parteitag der von Generalsekretär Daniel Ortega geführten “Demokratischen Linken” unterlegen waren (vgl. LN 240).
Noch am selben Tag stellte der Vizedirektor Roberto Fonseca Lopez sein Amt zur Verfügung, ebenso wie die drei Mitglieder des Herausgeberbeirates. Eine Woche später verhandelten bereits sechzehn führende RedakteurInnen über ihr Ausscheiden.
“Die FSLN erobert Barricada zurück” titelten die neuen Schlagzeilen-Macher zwei Tage nach dem Rausschmiß Chamorros, und so will die Parteispitze um Daniel Ortega das auch verstanden wissen: Rund zwei Jahre vor der nächsten Wahl braucht die Leitung der krisengeschüttelten Partei ein Organ – und das kann natürlich nicht ausgerechnet die Führung kritisieren.
Ließ es sich nicht verhindern, daß in den ersten Ausgaben von Barricada nach dem Wechsel DissidentInnen, RedakteurInnen und empörte LeserInnen ihrem Ärger Luft machten, so ist auch das seit dem 5. November vorbei: Auf Beschluß der neuen Macher gibt’s kein Zetern mehr, Artikel über Barricada-Interna auch nicht. Stattdessen reißerische Artikel auf abenteuerlichem Niveau. Da ist zu lesen, die – mit ReformerInnen besetzte – FSLN-Parlamentsfraktion mache bei der von ihr ausgearbeiteten und mitgetragenen Verfassungsreform “gemeinsame Sache mit den Somozisten”, da darf die Basis endlich sagen, daß “es uns reicht” mit der “Gruppe Ramirez” und daß “die endlich abhauen” sollen und ja eh’ “rechtsradikale Politik” betreiben.
Um die Lücken zu füllen wurde auch gleich ein neuer Chefredakteur gefunden, der wohl wie kein anderer Sandinist Erfahrung mit der Verbreitung von Halbwahrheiten, Verleumdungen und persönlichen Tiefschlägen hat: William Grigsbi Vasdo, bisher Macher und Sprachrohr vom seit jeher Ortega-treuen Radio YA, der auch schon mal die Comandante Dora María Tellez vom Reformflügel als “diese Lesbe, die wir nicht wollen” denunzierte.
Tatsächlich: In den letzten vier Jahren war Barricada nicht mehr auf Linie – dies allerdings auf ausdrücklichen Parteitagsbeschluß. Während des ersten ordentlichen Parteikongresses 1991, ein Jahr nach der verheerenden Wahlniederlage, wurde den sandinistischen Medien mehr Autonomie zugesprochen und CFC, wie Carlos Fernando Chamorro auch genannt wird, von der Nationalen Leitung beauftragt, ein neues Zeitungskonzept zu entwerfen und umzusetzen. Vom Jubelblatt für die Frente, die auch dann noch 10.000 TeilnehmerInnen an einer Wahlkampfveranstaltung mit Daniel Ortega gesehen haben wollte, wenn alle wußten, daß es maximal 1000 waren, mauserte sich Barricada in den letzten vier Jahren unter der Leitung von CFC tatsächlich zu einem professionellen, Blatt, das mit dem sonst in Nicaragua üblichen Sensationsjournalismus nichts mehr zu tun hatte. Und auf den Meinungsseiten konnte jedeR nachlesen, was sich die unterschiedlichen Flügel der Partei zu sagen hatten.
Aber wer “neuen Journalismus” verlangt, der wird sich dann auch mal ärgern über seine eigene Zeitung, und so hagelte es von der Parteiführung harte Vorwürfe, unter der Leitung ihres Direktors hätte die Zeitung “die nationalen Interessen verraten”, sie würde sich “zuwenig mit dem Volk und seinen Kämpfen solidarisieren” und zuviel über “bürgerliche Politik berichten”. Vor allem aber hätte die Zeitung in ihrer ausführlichen Berichterstattung über die FSLN-interne Auseinandersetzung für die ReformerInnen Partei ergriffen.
Außerdem, so der Vorwurf, seien die Verkaufszahlen um 16 Prozent gesunken. Daniel Ortega rechnete vor, daß es mit 310.000 eingeschriebenen Mitgliedern der FSLN doch möglich sein müßte 50.000 Exemplare zu verkaufen, um so unabhängiger von den bürgerlichen Anzeigenkunden zu werden. Abgesehen von den zehntausenden Karteileichen schafft solche Auflagen freilich angesichts der nicaraguanischen Verarmung auch keine der beiden anderen, im populären Boulevard-Stil aufgemachten Tageszeitungen, weder das prosandinistische “Nuevo Diario” noch die traditionelle bürgerliche “La Prensa”. Solch eine Auflage wäre nur zu schaffen, wenn die Barricada wie in den Anfangszeiten wieder umsonst verteilt würde. Und so hält sich hartnäckig das Gerücht, Bórges Intimfreund, der scheidende mexikanische Präsident Salinas de Gortari und seine PRI hätten der Barricada finanzielle Unterstützung für das neue Projekt angeboten.
Bloßer Nachwahlkampf?
Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demokratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier geschehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die unabhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abgewandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahlergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositionsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahlreichen Bundesstaaten, unter den gegebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Vertreter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Ergebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen anderen Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch monatelange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und würdigen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokratisierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, vertrieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtlichen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landesweiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfälschung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Konvention (CND) haben den Sturz des angeblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouverneurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zusammen. Indem somit Indígena-Organisationen, städtisch geprägte Oppositionsgruppen und soziale Bewegungen gemeinsame Strategien des zivilen Widerstands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demokratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilgesellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürgerrechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungsgruppen betreffende Demokratisierung auf der lokalen und regionalen Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten verwurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalgesellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Privilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehrheit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vorschlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Beitrag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu leben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfreiheit derselben vor, um in Einheit und Verschiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt bezweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unterhalb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zunächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regionalräte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regionalparlamente getroffen werden; die Kompetenzen sollen den pluriethnischen Regionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffentlicher Haushaltsmittel und die eigenständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungsplänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Entscheidung über Sprache, Erziehung, Religion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Entscheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Norden des Bundesstaates hat die mehrheitlich von Tzotzil, Chol und Zoque gebildete Campesino-Organisation CIOAC bereits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Einwohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hingewiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regierungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regionalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Realität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammengesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungsstraßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regierungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiterarbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, werfen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konvention der Indígena- und Campesino-Organisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Beitrag der Indígena-Völker zur Demokratisierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Widerstand zum zivilen Aufstand”, die Konvention ruft daher ihre Mitgliedsorganisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.
Der zivile Widerstand in Chiapas
1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den bewaffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfälschung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Antwort der Indígena-Völker in verschiedenen Gegenden des Bundesstaates Chiapas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zivilen Ungehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregierung soll ihre verfassungsmäßigen Pflichten erfüllen. Damit vertieft sich der chiapanekische Konflikt, er wird zur nationalen Angelegenheit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehorsam ist bekanntermaßen ein Bündel von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze übertreten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Ungehorsams dessen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und friedlichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapanekischen Bevölkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedlichen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Politik der Zentralregierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundesstaat aufzwingen will. Sie organisieren den wichtigsten zivilen Ungehorsam in der Geschichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unserem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Ausnahmefällen. Daher gewinnt die Entscheidung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wurden blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung aufzuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Präsidentschaftswahlen 1988 hat der damalige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wahlen am 6. Juli von seiner Parteispitze gestoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art versucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wieder dazu, diese Maßnahmen aufzugeben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Politiker vor den diesjährigen Wahlen bekräftigt, sie würden Aktionen zivilen Widerstands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wahlen am 21. August wurde deutlich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentralmacht alle Rechte vorenthalten haben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstverständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Regierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Landbesetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Autonomie tritt jetzt die Forderung, denjenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dachverbandes unabhängiger Bauernorganisationen Coordinadora Estatal de Organizaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Gemeinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauernverbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäuser von Simojovel, Huitupan und Soyaló besetzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, demokratischer Weise eine Regierung heraus, die während ihrer gesamten sechsjährigen Amtszeit die soziale Realität in unserem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderungen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort besprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im Innern nie zu tun pflegt. Da sich Don Claudio X. zur Zeit nicht auf mexikanischem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu erklären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investitionsprojektes zu lösen. Ähnlich wie verschiedene indianische Verwaltungen in den USA plane die mexikanische Regierung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er erläuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen würden irgendwann auch die Indígenas profitieren, da sie ja Aktien erwerben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Angesichts der Sprachlosigkeit der Reporter bat der Unternehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chiapaneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokratisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Erklärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Menschenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zweischneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nachzukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig saubere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Ausmaßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzusetzen, einen Helfershelfer früherer Regierungen und einen Büttel der Großgrundbesitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden verkündet und gleichzeitig die umfangreichste Kriegsmaschinerie der mexikanischen Geschichte in einem einzigen Bundesstaat zusammengezogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitätsferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unterhändler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen einzigen Zapatista auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beobachtungs-Camps in der Nähe der Militärsperren behauptete Madrazo, einen Beitrag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegenteil hindeutet. Die abtretende Regierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerproteste und des Drucks der Weltöffentlichkeit von ihrer Vernichtungspolitik ablassen, verfolgt jedoch weiterhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu widersetzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazikentum zu konsolidieren, die Sozialausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdölvorkommen – den multinationalen Konzernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlösung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indígena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Autonomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Regierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Optimismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurzsichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositionskandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Interessen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächtigen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapanekischen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen eingesetzten, unabhängigen Wahlprüfungsgerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas werden muß, um den Prozeß des demokratischen Übergangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und einiger PRD-Politiker – keiner Verhandlungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deutliche Schlußfolgerungen ziehen. Der soziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln begonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Deshalb sind wir verpflichtet, ihnen zu antworten. Und ihnen zu antworten bedeutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kollektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Konvention (CND) Mexikos.
Eine Tragikomödie
“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Hauptdarsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestempelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu bezeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen einsichtig und akzeptiert noch in der Wahlnacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeobachterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millionen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerkschaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahltischen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tintenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Listen auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinstituts (IFE) durch die Akten der Stimmabgabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der überprüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwischen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stimmen.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlinstituts versuchte, die Angriffe zu entkräften und seinerseits die Akten zu überprüfen. Nachdem zwei von drei Wahlunterlagen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexikanischen Medienstationen mit der Empfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergangenen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Protestaktionen von PRD und PAN, Demonstrationen, Straßenblockaden und Besetzungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen stattfanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Ländereien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrinken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Regierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten informierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jahren mehrmals auf Bundesstaatsebene angewendet wurde: eine Übergangsregierung, die im Laufe der nächsten 18 Monate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundesstaaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN ergab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauhtémoc Cárdenas rief die militante Basis seiner Partei auf, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich handelt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säubern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentieren, noch bevor der neue Kongress am 1. November seine Arbeit aufnimmt. Eine neugegründete Kommission der Wahrheitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persönlichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlagwort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – darauf, den Oppositionsparteien alle Wahlunterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzunehmen. Es gibt Gruppen im Land, bewaffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politische System mit einem Gang zur Wahlurne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar bedeutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Ernesto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Prozent der Stimmen”, meint Jorge Castañeda, renommierter mexikanischer Politikwissenschaftler. Er ist nicht allein mit der Auffassung, daß es für die politische Zukunft des Landes gesünder gewesen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hinzuarbeiten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Zedillo Grund gibt, die Reformen durchzuführen, die er während seines Wahlkampfes versprach: Demokratisierung und tiefgreifende Reformen seiner Partei.
Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce
Während “Nación Purhépecha”, eine regionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang symbolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirtschaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bauern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdigen. Nur in einigen, besonders kämpferischen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenistischen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeindekommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhalten Kälber als Geschenk, und die BewohnerInnen des vor ein paar Jahren entstandenen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Unregelmäßigkeiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Duplikate anzufertigen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Rubio, der Frau des Kaziken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenkooperative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand auszuliefern – gegen das Versprechen, Kredite für sie zu beantragen. Angesichts dieser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsversprechen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute befürchten, daß sich die Wahlsituation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Opposition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha tröstet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbeobachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kandidaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr morgens bilden sich Schlangen vor den Urnen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufinden, die drei Stimmzettel – für die Präsidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszufüllen und abzugeben und schließlich ihren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vorstand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirklich lebende Purhépecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Besitz eines Wahlausweises nicht im Verzeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region verspricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlkabine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvorständen gelingt es, die Stimmenauszählung ganz ohne ZeugInnen durchzuführen, fast überall bilden sich Menschentrauben um die Urnen, um zu verhindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Sekretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereitstehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Distrikthauptstadt bekannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Region – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regierungspartei 7 Stimmen errungen hat, versucht eine Patrouille der politischen Polizei, die Urne zu entwenden. Die DorfbewohnerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Patrouille sich geschlagen gibt. Viele verbringen die Nacht in Gruppen um Fernseher versammelt, um die ersten Hochrechnungen abzuwarten. Zweifel und Befürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informationstechnischen Gründen” keine Hochrechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentlichung von Hochrechnungen der Nichtregierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regierungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demokratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Provinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet daraufhin zum ersten Mal in zehn Jahren unzensierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden angehalten., – “um Cárdenas in den Nationalpalast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regierungsinstanzen werden gestürmt. Die Beamten werden “in den Urlaub nach Acapulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Militärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotografieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings angesichts der aufgebrachten BewohnerInnen für die Militärs lebensgefährlich, sie fliegen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán bereiten die BlockiererInnen ihren Besuchern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrauber so lange beschossen, bis er hinter der Vulkankette verschwindet. Eine Versammlung wird einberufen. Was soll geschehen? Bloß vor den Fernsehern hocken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommunalen Landrechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was würdest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lächerliche PRI-Stimme ein Bett im Krankenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaffnen und ihre Wagen verbrennen? Der besonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Zapatistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zukkerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Regen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber erzielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Hauptplatzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt einzusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Genüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…