Der zivile Widerstand in Chiapas
10 Thesen Luis Javier Garridos von der CND
1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den bewaffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfälschung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Antwort der Indígena-Völker in verschiedenen Gegenden des Bundesstaates Chiapas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zivilen Ungehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregierung soll ihre verfassungsmäßigen Pflichten erfüllen. Damit vertieft sich der chiapanekische Konflikt, er wird zur nationalen Angelegenheit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehorsam ist bekanntermaßen ein Bündel von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze übertreten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Ungehorsams dessen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und friedlichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapanekischen Bevölkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedlichen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Politik der Zentralregierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundesstaat aufzwingen will. Sie organisieren den wichtigsten zivilen Ungehorsam in der Geschichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unserem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Ausnahmefällen. Daher gewinnt die Entscheidung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wurden blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung aufzuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Präsidentschaftswahlen 1988 hat der damalige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wahlen am 6. Juli von seiner Parteispitze gestoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art versucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wieder dazu, diese Maßnahmen aufzugeben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Politiker vor den diesjährigen Wahlen bekräftigt, sie würden Aktionen zivilen Widerstands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wahlen am 21. August wurde deutlich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentralmacht alle Rechte vorenthalten haben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstverständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Regierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Landbesetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Autonomie tritt jetzt die Forderung, denjenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dachverbandes unabhängiger Bauernorganisationen Coordinadora Estatal de Organizaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Gemeinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauernverbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäuser von Simojovel, Huitupan und Soyaló besetzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, demokratischer Weise eine Regierung heraus, die während ihrer gesamten sechsjährigen Amtszeit die soziale Realität in unserem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderungen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort besprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im Innern nie zu tun pflegt. Da sich Don Claudio X. zur Zeit nicht auf mexikanischem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu erklären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investitionsprojektes zu lösen. Ähnlich wie verschiedene indianische Verwaltungen in den USA plane die mexikanische Regierung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er erläuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen würden irgendwann auch die Indígenas profitieren, da sie ja Aktien erwerben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Angesichts der Sprachlosigkeit der Reporter bat der Unternehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chiapaneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokratisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Erklärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Menschenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zweischneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nachzukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig saubere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Ausmaßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzusetzen, einen Helfershelfer früherer Regierungen und einen Büttel der Großgrundbesitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden verkündet und gleichzeitig die umfangreichste Kriegsmaschinerie der mexikanischen Geschichte in einem einzigen Bundesstaat zusammengezogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitätsferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unterhändler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen einzigen Zapatista auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beobachtungs-Camps in der Nähe der Militärsperren behauptete Madrazo, einen Beitrag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegenteil hindeutet. Die abtretende Regierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerproteste und des Drucks der Weltöffentlichkeit von ihrer Vernichtungspolitik ablassen, verfolgt jedoch weiterhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu widersetzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazikentum zu konsolidieren, die Sozialausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdölvorkommen – den multinationalen Konzernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlösung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indígena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Autonomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Regierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Optimismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurzsichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositionskandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Interessen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächtigen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapanekischen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen eingesetzten, unabhängigen Wahlprüfungsgerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas werden muß, um den Prozeß des demokratischen Übergangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und einiger PRD-Politiker – keiner Verhandlungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deutliche Schlußfolgerungen ziehen. Der soziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln begonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Deshalb sind wir verpflichtet, ihnen zu antworten. Und ihnen zu antworten bedeutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kollektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Konvention (CND) Mexikos.