Mexiko | Nummer 246 - Dezember 1994

Der zivile Widerstand in Chiapas

10 Thesen Luis Javier Garridos von der CND

In Chiapas ist dem bewaffneten Aufstand ein ziviler gefolgt, der ein für ganz Mexiko unbekanntes neues Szenario ge­schaffen hat. Die Aktionen des zivilen Widerstands, die von den Indígena-Völ­kern Chiapas’ eingeleitet worden sind, haben eine in Mexiko bisher unbekannte Dimension erreicht und eröffnen da­mit Perspektiven für einen neuen Weg des Übergangs zur Demokratie.

Übersetzung: Gunther Dietz Aus: La Jornada, 28. Oktober 1994;

1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den be­waffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfäl­schung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Ant­wort der Indígena-Völker in verschie­denen Gegenden des Bundesstaates Chia­pas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zi­vilen Un­gehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregie­rung soll ihre verfassungsmäßigen Pflich­ten erfüllen. Da­mit vertieft sich der chia­panekische Kon­flikt, er wird zur nationa­len Angelegen­heit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehor­sam ist bekanntermaßen ein Bün­del von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze über­treten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Unge­horsams des­sen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und fried­lichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapa­nekischen Be­völkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedli­chen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Po­litik der Zentral­regierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundes­staat auf­zwingen will. Sie organi­sieren den wich­tigsten zivilen Ungehor­sam in der Ge­schichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unse­rem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Aus­nahmefällen. Daher gewinnt die Entschei­dung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wur­den blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung auf­zuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Prä­sidentschaftswahlen 1988 hat der dama­lige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wah­len am 6. Juli von seiner Parteispitze ge­stoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art ver­sucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wie­der dazu, diese Maßnahmen aufzu­geben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Poli­tiker vor den diesjäh­rigen Wahlen bekräf­tigt, sie würden Aktionen zivilen Wider­stands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wah­len am 21. August wurde deut­lich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentral­macht alle Rechte vorenthalten ha­ben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstver­ständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Re­gierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Land­besetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Au­tonomie tritt jetzt die Forderung, den­jenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dach­verbandes unabhängiger Bauernorganisa­tionen Coordinadora Estatal de Organi­zaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Ge­meinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauern­verbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Par­tido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäu­ser von Simojovel, Huitupan und Soyaló be­setzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, de­mokratischer Weise eine Regierung her­aus, die während ihrer gesamten sechsjäh­rigen Amtszeit die soziale Realität in un­serem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderun­gen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort be­sprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im In­nern nie zu tun pflegt. Da sich Don Clau­dio X. zur Zeit nicht auf mexikani­schem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu er­klären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investiti­onsprojektes zu lösen. Ähnlich wie ver­schiedene indianische Verwaltun­gen in den USA plane die mexikanische Regie­rung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er er­läuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen wür­den irgendwann auch die Indígenas profitie­ren, da sie ja Aktien er­werben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Ange­sichts der Sprachlo­sigkeit der Reporter bat der Unter­nehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chia­paneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokra­tisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Er­klärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Men­schenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zwei­schneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nach­zukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig sau­bere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Aus­maßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzu­setzen, einen Helfershelfer früherer Regie­rungen und einen Büttel der Großgrund­besitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden ver­kündet und gleich­zeitig die umfangreichste Kriegsmaschi­nerie der mexikanischen Ge­schichte in einem einzi­gen Bundesstaat zusammenge­zogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitäts­ferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unter­händler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen ein­zigen Zapati­sta auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beob­achtungs-Camps in der Nähe der Militär­sperren behauptete Madrazo, einen Bei­trag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegen­teil hindeutet. Die abtretende Re­gierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerpro­teste und des Drucks der Weltöffentlich­keit von ihrer Vernich­tungspolitik ablas­sen, verfolgt jedoch wei­terhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu wider­setzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazi­kentum zu konsolidie­ren, die Sozial­ausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdöl­vorkommen – den multinationalen Kon­zernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlö­sung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indí­gena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Auto­nomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Re­gierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Opti­mismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurz­sichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositions­kandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Inter­essen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächti­gen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapaneki­schen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen einge­setzten, unabhängi­gen Wahlprü­fungs­gerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas wer­den muß, um den Prozeß des demokrati­schen Über­gangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und eini­ger PRD-Politiker – keiner Verhand­lungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deut­liche Schlußfolgerungen ziehen. Der so­ziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln be­gonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Des­halb sind wir verpflichtet, ihnen zu ant­worten. Und ihnen zu antworten be­deutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kol­lektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Kon­vention (CND) Mexikos.

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