Monolog der Macht

Nach langem Hin und Her, nach kleinen Fortschritten und großen Enttäuschungen in den Verhandlungen hat die Hoff­nungslosigkeit einen neuen Hö­hepunkt erreicht. Seit Ende Au­gust 1996 hat die EZLN wegen anhaltender Feindseligkeiten und Wortbrüche der Regierung Ze­dillo den Verhandlungsprozeß unterbrochen, doch die Krise der letzten Wochen macht die ohne­hin schwierige Situation noch komplizierter.
Ihren Ausgang nahm die ak­tuelle Verhandlungskrise bereits am 29. November letzten Jahres, als die parlamentarische Ver­mittlungsgruppe COCOPA ihre endgültige Ausarbeitung der Ab­kommen von San Andrés über “Rechte und Kultur der indige­nen Völker” mit dem Hinweis an den Präsidenten Ernesto Zedillo weiterleitete, sie würde nur Zu­stimmung oder Ablehnung ak­zeptieren, aber keinerlei weitere Modifikation.

Nachträglicher Rückzieher des “besoffenen” Ministers

Das Abkommen war im Februar 1996 zwischen EZLN und Regierung vereinbart worden und beflügelte die Hoff­nung auf substantielle Reformen und eine friedliche Lösung des bewaffneten Konfliktes in Chia­pas. Und zunächst sah es auch tatsächlich so aus, als würde die Regierung Wort halten.
In Abwesenheit Präsident Ze­dillos, der auf Staatsvisite in Ländern Südostasiens weilte, versicherte Innenminister Emilio Chauyffet, der Entwurf sei für die Regierung akzeptabel, nur könne er ihn vor der Rückkehr des Präsidenten nicht offiziell unterzeichnen. Doch nach der Rückkehr des Staatsoberhauptes und nachdem dieser sich eine Frist “zur Durchsicht und Klä­rung” ausgebeten hatte, kam die brüske Absage. Chauyffet er­klärte – symptomatisch für die Regierungselite Mexikos – er habe den Entwurf nur deshalb positiv bewertet, weil er sich vorher mit einem alkoholischen Getränk, Chinchon, betrunken hätte. In den folgenden Wochen setzten Zedillo und die Hardliner in seiner Regierung sich mit ei­ner Juristenriege um Ignacio Burgoa Orihuela, dem Vorsit­zenden des Verbandes mexikani­scher Juristen, zusammen, um mit spitzfindigen, scheinbar un­wichtigen Bemerkungen am Ori­ginaltext der COCOPA dessen In­halte auszuhöhlen und damit die Verhandlungsergebnisse von San Andrés zu entstellen.
Freilich lehnten die Zapatistas Zedillos Gegenvorschlag Mitte Januar nach wenigen Tagen Be­denkzeit ab und erteilten der “arroganten kreolischen Haltung, die in der mexikanischen Macht­elite noch immer weiterlebt und der rassistischen Überzeugung anhängt, daß Indios sich nicht selbst regieren können” (so der Historiker und EZLN-Berater Antonio García de León in ei­nem Kommentar) eine glatte Ab­fuhr. Da nützte es der Regierung auch nichts, an den traditionell starken Nationalismus der mexi­kanischen Bevölkerung zu ap­pellieren, indem sie behauptete, die Anerkennung indigener Au­tonomie “führe zur Balkani­sie­rung und Kleinstaate­rei” in Me­xiko und stelle somit eine Gefahr für die Souveränität des Landes dar.
Ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund der jüngst ans Licht gekommenen Skandale um die Verbindungen des Militärs zur Drogenmafia und die grotesken Verwicklungen höchster Funk­tionäre in Korruptions- und Mordfälle besonders absurd er­scheint. So absurd, daß sich die Öffentlichkeit nicht überzeugen lassen wollte und internationale Beobachter nachdrücklich die Einhaltung des Abkommens von San Andrés forderten. In Anbe­tracht der Tatsache, daß dieses weitgehend dem Abkommen Nr.69 über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisa­tion ILO, einer UN-Sonderorga­nisation, entspricht, ist Letzteres sicher nicht die “Einmischung in innere Angelegenheiten”, die die mexikanische Regierung darin sehen wollte. Schließlich wurde das ILO-Abkommen 1989 auch von Mexiko unterzeichnet.

Ablenkungsmanöver in der Presse

Als Zedillo und die um ihn gescharte Machtclique innerhalb der seit beinahe 70 Jahren regie­renden Partei der Institutionali­sierten Revolution PRI sich be­wußt wurde, daß sie die intel­lektuelle Auseinandersetzung zu diesem Thema mangels Argu­menten nur verlieren konnten, verlegte sich die intrigenerprobte Machtmaschine darauf, aus dem Hinterhalt zu operieren: Wäh­rend in den folgenden Wochen ganz Mexiko über den Justiz­skandal um den Staatsanwalt Lo­zano Gracía, seinen Gehilfen, den Strafverfolger Chapa Beza­nilla und die Seherin “La Paca” staunen durfte und mal wieder ein bißchen in der Ermittlungs­suppe um den Mord am PRI-Prä­sidentschaftskandidaten Colosio herumgerührt wurde (siehe LN 273), gingen die Warnungen der COCOPA-Mitglieder in der Tages­presse unter. Immer wieder ver­suchten diese, darauf auf­merk­sam zu machen, daß es sowohl eine “Kampagne zur Dis­kreditie­rung der COCOPA” ge­be, als auch ganz direkten “Druck auf deren Mitglieder”, wie der PRD-Abge­ordnete Heberto Castillo – eben­falls Mitglied der Vermittlungs­kom­mission – sich ausdrückte. In einer Erklärung der Cocopa ist nach der Kampagne der letzten Wochen nun keine Rede mehr davon, daß das Abkommen von San Andrés unantastbar sei. Die parlamen­tarischen Ver­mittler sind unter dem präsidentialen Druck eingeknickt und räumen ein, daß durchaus über “bessere Formulierungen” nachgedacht werden könne und mahnen die “Dialogbereitschaft” beider Kon­fliktparteien an. Im Klartext: Auch die COCOPA verteidigt das bereits geschlossene Abkom­men nicht mehr, wie sie ursprünglich beteuert hatte. Damit ist die EZLN wieder auf sich alleine gestellt.

Aushöhlung des Abkommens

Die Erklärung der COCOPA läuft letztlich darauf hinaus, daß sie sich mindestens mit einer Neubearbeitung des Ver­trags­ent­wurfes, wenn nicht sogar mit Neuverhandlungen des ei­gentlich längst unterzeichneten Abkom­mens abfindet. Und dabei brin­gen ihre Mitglieder nicht einmal den Mut auf, mit dem Finger auf diejenige zu zeigen, die von Anfang an den Dialog und später die Verhandlungser­gebnisse zum Scheitern bringen wollte: Die Regierung. Stattdes­sen müssen sich die Zapatistas nun anhören, ihre Dialogbereit­schaft sei “verbesserungsbedürf­tig”. Zynischer geht es nicht.
Präsident Zedillo und die als “Dinosaurier” bezeichneten Bos­se der diversen einflußrei­chen Cliquen in der PRI dürften dagegen frohlocken. Innenminis­ter Chauyffet kann fortfahren bei der Militarisierung weiter Teile vor allem Süd-Mexikos und der Polizeistruktur der Hauptstadt. Verhaftungen Oppo­sitioneller, “Verschwindenlassen” und poli­tischer Mord gehören mittler­weile zur Tagesordnung in Guer­rero, Oaxaca und Tabasco. Auch der “Krieg niedriger Intensität” in Chiapas geht weiter.
Kaum jemand außerhalb der zapatistischen Solidaritätskomi­tees und einer Handvoll Intel­lek­tueller hat bisher die Trag­weite dessen erfaßt, was das Ein­knicken der COCOPA vor dem Präsidenten wirklich bedeutet: Wieder einmal setzt sich die Exekutive über die Legislative hinweg. Die Rechtlosigkeit in der mexikanischen Gesellschaft wird exemplarisch deutlich. Wie soll ein Dialogprozeß funktionie­ren, wenn bereits beschlossene Ergebnisse wieder zur Disposi­tion gestellt werden? Wieder einmal zeigt sich der mexikani­sche Präsidentialismus als die “perfekte Diktatur”, als die der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa das mexikanische System bereits vor vielen Jahren be­zeichnete. Und damit erfährt nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko vorerst eine Hoff­nung auf Veränderung eine glatte Ohrfeige, die das Land gerade jetzt in der schwersten Wirt­schafts- und Sozialkrise seiner Geschichte so dringend bräuchte: Die Hoffnung auf eine grundle­gende Demokratisierung der Ge­sellschaft.

Mörder und Gärtner in der Staatspartei

Die Vorgeschichte der aktuellen Serie geht so: Am 28. September 1994 machte sich Hektik und Unsicherheit in der Parteizentrale der ältesten diensthabenden Staatspartei der Welt breit. PRI-Generalsekretär Francisco Ruiz Massieu war auf offener Straße in der Hauptstadt erschossen worden. Die Traueranzeigen für die Zeitungen waren noch nicht geschrieben, da begann die Gerüchteküche bereits überzukochen. Alles deutete auf eine Abrechung unter Parteifreunden hin. Aufregend, aber nichts neues für das Publikum. Erst am 23. März des Jahres war der PRI-Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio auf einer Wahlkampfkundgebung aus nächster Nähe durch den Kopf geschossen worden. Videoaufnahmen bewiesen einen Komplott, das bis heute nicht aufgeklärt ist, und eine Reihe ermittelnder Beamte wurden in den folgenden Monaten Opfer von Mordanschlägen. Daß der Befehl zum Mord von ganz oben kam, scheint gewiß.

Wundersamer Leichenfund

Auch im Fall des am 28. September 1994 gemeuchelten Generalsekretärs Ruiz Massieu stochern die Ermittlungsbehörden bis heute im Dunkeln, obwohl jeder Taxifahrer genau Bescheid weiß, wo zu suchen wäre: In der Parteizentrale. Eine Spur ist jedenfalls für alle offensichtlich: Kurz nach dem Mord an Francisco Ruiz Massieu verschwand der PRI-Kongreßabgeordnete Manuel Muñoz Rocha und ward seither nicht mehr gesehen. Aber daß er mit dem Mord zu tun hat, steht für Ermittler und Presse zweifelsfrei fest.
Vor einigen Wochen, zwei Jahre nach den Morden, bat nun Pablo Chapa Benzanilla, der Sonderermittler im Mordfall Ruiz Massieu, die Presse zu einem Stelldichein in eine Villa des unter Mordverdacht inhaftierten Raúl Salinas, seines Zeichens Bruder des Ex-Präsidenten. Wundersames sollte ans Tageslicht kommen. Die Wahrsagerin La Paca, mit bürgerlichem Namen Francisca Zetina, führte Presseleute und Kriminalbeamte in einer Vision durch den Garten der Villa und siehe da: Nach einigen Spatenstichen kam eine verscharrte Leiche ans Tageslicht. Benzanilla zögerte nicht, zu verkünden, es handele sich um den Körper von Manuel Muñoz Rocha, des verschwundenen PRI-Abgeordneten, der mit dem Mord an Ruiz Massieu in Verbindung gebracht wird. Damit sei bewiesen, daß Raúl Salinas im Mordfall Massieu mit die Strippen gezogen habe und sich später mit Muñoz Rocha überworfen habe, was den Mord und die ungewöhnliche Grabstätte erkläre.
Der Verdacht gegen die Salinas-Brüder ist nicht neu. Carlos war im März 1995 außer Landes ins selbstgewählte Exil geflohen, nachdem sein Bruder Raúl in Zusammenhang mit dem Mord an Massieu festgenommen worden war. Besonders delikat: Der ermordete PRI-Generalsekretär war der Schwager von Raúl und Carlos. Die Salinas-Brüder beteuerten aber stets ihre Unschuld und wähnten sich als Opfer einer perfiden Schmähkampagne. Raúl half jedoch alles Gejammer nichts, er blieb im Knast, allerdings fehlten schlagkräftige Beweise. Mit der Leiche im Garten schienen diese jedoch erbracht.

Bestochene Wahrsagerin

Mittlerweile stellt sich der Sachverhalt freilich etwas anders dar. Dem Ermittler Benzanilla und dem obersten Staatsanwalt Antonio García Lozano wurde der Leichenfund selbst zum Verhängnis. Sie beide werden jetzt nämlich beschuldigt, den ungewöhnlichen Fund inszeniert zu haben, um auf diese Weise Raúl Salinas endgültig in die Pfanne zu hauen. Doch ihr Kalkül ging nicht auf, denn nach langen Untersuchungen steht nun zweifelsfrei fest, daß der entdeckte Leichnam gar nicht der von Muñoz Rocha war, sondern der eines Verwandten der Wahrsagerin La Paca. Die Vision der Seherin war also nichts anderes als presse- und publikumswirksamer Hokuspokus.
Eine besondere Würze gewinnt der mexikanische Klischeeintopf dadurch, daß La Paca die Busenfreundin einer Dame namens María Bernal ist. Diese wiederum ist niemand anderes als eine verflossene Geliebte Raúl Salinas’. Beide Damen sitzen mittlerweile im Kittchen und behaupten, daß sie vom obersten Sonderermittler im Mordfall Francisco Ruiz Massieu das hübsche Sümmchen von umgerechnet etwa 150.000 DM kassiert hätten, um den Coup in Salinas Garten ins Werk umzusetzen.
Um den verwickelten Verlauf der Affaire zusammenzufassen: Der Chef der Mordkommission besticht eine enttäuschte Geliebte des Bruders des Ex-Präsidenten, um ihm eine Leiche in den Garten zu pflanzen. Diese wird unter großem Hallo wieder ans Tageslicht gehievt und alle behaupten, sie sei die sterbliche Hülle des intellektuellen Autors des Mordes am ehemaligen Generalsekretär der Regierungspartei und gleichzeitigen Präsidentenschwagers. Damit sei bewiesen, daß Raúl und somit auch sein Bruder Ex-Präsident Carlos Salinas die Drahtzieher des Komplotts gegen ihren Verwandten seien.
So war es also nicht, das scheint nach dem Stand der Ermittlung klar zu sein. Es bleiben aber mehr Fragen als Antworten: Wenn es nicht die Salinas-Clique war, die Ruiz Massieu auf dem Gewissen hat, wer dann? Warum versuchten die obersten Ermittler, den Verdacht auf die Salinas-Brüder zu richten? Und außerdem: Wo liegt der echte Leichnam Muñoz Rochas verbuddelt, oder ist der Señor Abgeordnete vielleicht gar nicht tot und relaxt seelenruhig in der Karibik? Die ganze Angelegenheit wird sicher noch manche unerwartete Wendung nehmen. Auf neue Folgen des Krimis darf man gespannt sein.
Möglicherweise muß aber umdisponiert werden. Denn in Mexiko werden die Stimmen lauter, die eine ganz neue Serie fordern. Das ewige Hauen und Stechen in den Chefetagen der Staatspartei nervt das Publikum nämlich auf die Dauer. Vielleicht wäre zur Abwechslung mal ein Sience Fiction angesagt. Titelvorschlag: “PRI-Hierarchen auf dem Flug zu den Gringonen”, oder einfacher: “Schweine ins Weltall!”

Präsident Zedillo provoziert Krieg

Ein kurzer Blick auf den Verlauf der noch immer – fast – ergebnislosen Gespräche von San Cristóbal, San Andrés Lar­ráinzar und La Realidad zwi­schen Regierung und Guerilla rechtfertigt den Pessimismus, in den EZLN-Sprecher Marcos in einem Kommuniqué Mitte letz­ten Jahres verfiel: “Dreißig Mo­nate später, 912 Tage später und wir kommen nicht weiter. Wie lange werden die Zapatistas wei­termachen? Bis wohin? Wann wer­den wir müde werden, Frie­densinitativen für Demokra­tie, Freiheit und Justiz zu ent­werfen? Wann werden wir auf­hören, der Regierung Magen­schmerzen zu ver­ursachen? Wann werden wir aufhören, Za­patistas zu sein?”
Seit drei Jahren laufen die Dialoge. Und wann immer es aussah, als kämen die Delegatio­nen endlich einen Schritt weiter, ge­fährdeten Provokationen der Bun­desarmee, die Arroganz und Ver­logenheit der Regierung oder schwerwiegende nationale Er­eig­nisse alles. Die Dialoge stan­den still oder wurden unterbro­chen und es mußte wieder von vorne begonnen werden. Ob es nun die Ermordung des PRI-Prä­si­dent­schafts­kandidaten Luis Do­naldo Colosio (März 1994) war, den die EZLN als verhand­lungsbereit und friedenswillig bezeichnet hatte, oder die Mi­litäroffensive und die Haftbe­fehle (Februar 1995), die der neu­gewählte Präsident Ernesto Ze­dillo ver­anlaßte, nachdem er noch wenige Tage zuvor öffent­lich für eine friedliche Lösung des Konfliktes plädiert hatte. Im­mer wieder war es die Regie­rung, die log, aus­wich und die Ver­handlungen tor­pe­dierte. Und im­mer wieder muß­te sich die EZLN neue Stra­tegien einfallen las­sen, um die Zi­vil­gesell­schaft ein weiteres mal auf die Straßen und die Ver­handlungen erneut auf den Weg zu bringen.

Teilerfolge ohne bindenden Charakter

Und erstaunlicherweise ge­lang dies den zapatistas doch, trotz der fortschreitenden Mili­tarisierung von Chiapas und den um­liegen­den Bundesstaaten, den In­filtrie­rungs-, und Einschüch­te­rungs­versuchen durch regie­rungs­treue Kaziken, Weiße Gar­den und die Bundesarmee. Mit ih­ren bislang vier Deklarationen und Initiati­ven wie, der Grün­dung des Na­tionalen Demokra­ti­schen Kon­vents CND in Aguas­ca­lientes (August 1994), der Na­tionalen Umfrage (August 1995), der nachfolgenden Bildung der FZLN oder den kontinentalen und interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesell­schaft und gegen den Neolibera­lismus, konnte nach kritischen Mo­menten immer wieder verlo­re­nes politisches Terrain zurück­erobert werden.
Mit der im Februar 1996 durch die Delegationen der Re­gierung und der EZLN erfolgten Un­terzeichnung der Vereinba­rung über Indigene Rechte und Kul­tur schien ein erster Schritt hin­sichtlich einer politischen Lö­sung des Konfliktes getan. Für die EZLN bedeutete das Ab­kom­men einen Teilerfolg, da der er­arbeitete Kompromiß die hoch­ge­steckten Erwartungen der er-sten Monate nicht erfüllte. Die Vereinbarungen über Indigene Rech­te und Kultur und die Modi­fizierungen der Artikel 4 (über den multiethnischen Charakter der mexikanischen Nation) und 115, auf die sich die Regierung Zedillo einließ, blieben nicht nur weit hinter den ursprünglichen For­derungen der EZLN zurück, sie waren außerdem lediglich ei­ner von mehreren zur Diskussion ste­henden Punkten, die die Ver­handlungen insgesamt vorsahen. Und sie hatten überdies – auch wenn die ursprüngliche Verein­ba­rung ihre unveränderte Einfü­gung in die mexikanische Ver­fas­sung beinhaltete – in ihrer er­sten Formulierung keinerlei bin­den­den Charakter.
Um diesen zu erlangen, war zunächst eine detaillierte For­mulierung der einzelnen Inhalte durch EZLN und Cocopa, einer aus Parlamentariern der Parteien PRI, PAN und PRD zusammen­ge­setzten Vermittlergruppe, not­wendig, die dann Präsident und Ab­geordnetenkammer zur Ab­seg­nung vorgelegt werden sollte.
Zwar wurden direkte Gesprä­che mit der PRI-Delegation nach zahl­reichen Torpedierungsversu­chen der Regierung von den Za­pa­tistInnen als unsinnig ein­ge­schätzt und abgebro­chen, Ver­hand­lung­en zwischen EZLN und Cocopa fan­den je­doch weiterhin statt. Schließlich lag im De­zem­ber 1996 der von Cocopa und EZLN gleicherma­ßen akzeptierte Ent­wurf endlich vor.

Hardliner und Desillusionierte

Damit hatte Präsident Zedillo nicht gerechnet. Um Zeit zu ge­winnen, bat sich das mexikani­sche Staatsoberhaupt eine Frist von zwei Wochen aus, um den In­halt des Dokumentes “analy­sie­ren” zu können. Diese ließ er verstreichen und um wei­tere 14 Ta­ge verlängern. Am 11. Januar 1997 übergab Zedillo der EZLN sei­ne Antwort. Kaum et­was er­in­nerte noch an den von der EZLN und Cocopa erarbeiteten Text. Mit juristi­schen Spitz­fin­dig­kei­ten war der Entwurf ausgehöhlt und sinnent­stellt worden. Die we­sentlichsten der im Vorjahr ge­troffenen Ver­einbarungen wa­ren gestrichen. Damit rief Ze­dil­lo nicht nur den Zorn der Za­pa­tistInnen – Sub­co­man­dante Mar­cos sprach von Ver­höhnung – her­vor, sondern auch der Ver­mitt­lergruppe. Schließ­lich hatte die Cocopa von vorn­herein unmißverständlich klar­gestellt, daß es nur Zustimmung oder Ab­leh­nung geben könne, je­doch kei­ner­lei Änderungen des Kom­pro­miß­pa­pieres. Juan Guer­ra, Mit­glied der Cocopa, bringt es auf den Punkt: “Die Re­gie­rung hat das Abkom­men im Fe­bruar 1996 unter­zeichnet, um es nicht zu erfüllen. Sie unter­schrieben es, um sich über die EZLN lustig zu ma­chen.”
Angesichts der Sinnlosigkeit wei­te­rer Gespräche und der zu­neh­menden Militarisierung und Re­pres­sion in Chiapas droht wie­der einmal das Ausbrechen be­waff­ne­ter Kämpfe. Doch ist die La­ge nun ernster denn je. Ei­ner­seits setzen die Hardliner in­ner­halb der PRI ihre Strategie, po­li­ti­sche Lösungen zu sabotieren, er­folg­reich fort. Andererseits droht bei einem Scheitern – und nichts deutet auf eine andere Per­spek­tive hin – des um eine fried­li­che Veränderung be­müh­ten Ver­handlungsweges der EZLN ein weiteres Abfallen ihr­er Basis au­ßerhalb von Chiapas. Daß die Ein­satzbereitschaft der Zi­vil­ge­sellschaft arg ge­schmol­zen ist, wurde am dritten Jah­res­tag des Aufstandes mehr als deut­lich. Im Ge­gensatz zum Vor­jahr brach kei­ne Karawane von Mexiko-Stadt auf, um mit Hilfs­lie­fe­rungen und massiver Prä­senz in den indigenen Ge­mein­den Soli­darität zu demon­strieren. Die zapatistas blieben unter sich. Und auch in der 23 Mil­lio­nen-Metropole selbst traf sich nur ein Häuflein von etwa 200 Per­sonen auf dem Zócalo, um ih­re Ver­bundenheit mit den Auf­stän­di­schen auszudrücken.
Die Stunde derjenigen, die we­der Frieden noch eine Beteili­gung der Zivilgesellschaft bei der Umgestaltung Mexikos an­stre­ben, scheint angebrochen. Zum einen spielen die Militärs in­nerhalb des Machtgefüges eine im­mer stärker werdende Rolle, ge­duldet und gestützt von Präsi­dent Zedillo und der US-Admi­nistration. Und: Die im Juni 1996 erstmals in Erscheinung ge­tretene Revolutionäre Volks­ar­mee EPR, die durch Attentate und Überfälle bisher über 40 Sol­daten und Polizisten erschos­sen hat und jeden Dialog mit der Regierung ablehnt, gewinnt an Einfluß unter Teilen der desillu­sionierten und unter der Repres­sion leidenden Bevölkerung, vor al­lem auf dem Lande. Ihr YA BASTA – ES REICHT impliziert ei­nen sofortigen Stopp der Men­schen­rechtsverletzungen, die, wie derzeit in Teilen Guerreros und Oaxacas, an Grausamkeit kaum zu überbieten sind, egal auf welche Weise. Das Auf­tau­chen dreier weiterer Guerilla-Grup­pen in­nerhalb der letzten zwei Monate im mexikanischen Nor­den und der Südprovinz Guer­rero weist hin auf eine ge­walt­tätige Ent­wick­lung, die al­lein die korrupte Herr­schaftselite und ihre Hintermän­ner im Pen­ta­gon zu verantworten haben.

Science Fiction und Realität

“In den frühen Morgenstunden marschier­ten Truppen der US-Army an zwei Punkten über den Rio Grande. Die 24. motorisierte Di­vision aus Fort Stewart, Georgia, setzte über die Gateway-Brücke in Richtung Matamoros, Mexiko, und die 7. Infanterie-Division aus Fort Luis, Washington, überquerte die inter­nationale Brücke in McAllen auf dem Weg nach Reynosa.” Die US-Invasion Mexikos hat be­gonnen. Der Grund: Nach der Ermordung des mexikanischen Präsidenten kam es zu ei­ner dramatischen Aufwühlung der Gesell­schaft. Ein “charismatischer von den Jesuiten aus­gebildeter Universitätsprofessor” gelangte an die Macht und setzte ein radikales Reform­programm durch: Verstaatlichung der Banken und Versicherungen, agressive Politik gegen­über Washington. In Mexiko brachen darauf­hin Unruhen und das Chaos aus. Gegen einen an­schwellenden Flüchtlingstrom mußten 60.000 US-Soldaten zur Verteidigung der Grenze ab­kom­man­diert werden. In Mexiko-Stadt brach­te ein Putsch zwar wie­der eine US-freund­liche Re­gie­rung an die Macht, aber das Pentagon be­schließt die Mi­li­tär­invasion, weil sich starke Guerillaverbände um den gestürz­ten populistischen Präsidenten bilden, der den US-Truppen entwischt ist.
Science Fiction, Horrorszenario, Panikma­che? Vielleicht, aber die geschilderte Invasion ist eines der wahrscheinlichsten Kriegsszena­rien der nächsten zwölf Jahre. Das meint zu­mindest der ehemalige US-Verteidigungsmi­ni­ster Caspar Weinberger in seinem neuen Buch. Weinberger datiert das Szenario auf den 14. April 2003, also doch Science-Fiction. Aber das Kopfzerbrechen über Mexiko in den Pla­nungsstäben des Pentagon ist real: Im Vor­wort von “The next war” erklärt der Ex-Pen­ta­gon­befehlshaber der Reagan-Admini­stra­tion, daß das US-Verteidigungsministe­rium die fik­tive Invasion in Computersimu­lationen durch­spiele, um für alle Fälle ge­wappnet zu sein.
Freilich gäbe es momentan Dringlicheres, als eine Invasion Mexikos zu planen. Wie kann die wirtschaftliche Talfahrt in Mexiko beendet werden? Wer ist in der Lage, den rui­nösen und gewaltprovozierenden Zerfall der Staatspartei PRI zu zivilisieren? Wie kann der schleichenden Machtübernahme durch die Dro­genmafia, der “Kolumbianisierung” Mexi­kos, Einhalt geboten werden? Auf welche Wei­se können demokratische Freiräume ge­öffnet werden? Wie sind das hundertfache Blut­vergießen und die allgegenwärtigen Men­schenrechtsverletzungen in den bäuerlichen Armutsregionen zu stoppen? Fragen, auf die die Neoliberalen in der mexikanischen Regie­rung und die Planungstäbe in Washington keine Antworten haben. Im Gegenteil: Sie sind verantwortlich für die Misere. Und nichts deutet darauf hin, daß sie gewillt sind, von ih­rem politisch autoritären und wirtschaftlich gna­denlosen Crash­kurs mit all seinen desa­strösen Folgen in Mexiko auch nur ein Jota ab­zu­wei­chen. Die Folgen sind bekannt und wer­den auch in die­ser Ausgabe der La­tein­amerika Nach­rich­ten wieder im Mit­telpunkt stehen. Statt auf politische Lö­sungen setzen die Mächtigen auf Mili­ta­ri­sie­rung.
Mit Nachtsichtgeräten ausgerüstete Mi­li­tär­flugzeuge überfliegen die Selva Lacandona, um Stellungen der EZLN zu lokalisieren. Me­xi­kanische Militärs absolvieren Intensivkurse in Guerillabekämpfung an Militärakademien in den USA. Die USA liefern Kampfhub­schrau­ber und high-tech-Kriegsgerät an die mexikanische Armee. Zum ersten Mal be­finden sich die US-Army und die mexikani­schen Streitkräfte in gemeinsamen Manövern. US-Ausbilder trainieren mexikanische Trup­pen in Chiapas. Science Fiction, Horrorszena­rio, Panikmache? Dieses Szenario ist Realität – heute.

Wollmützen auf der Bühne

Im Morgengrauen rückte sie an, die gefürchtete Justizpolizei. Mit Knüppeln bewaffnet spran­gen die Männer aus ihren Kom­bis und schlugen wahllos auf die versammelten Indígenas ein, egal ob Männer, Frauen oder Kinder. Die Scheinwerfer der Polizei­hubschrauber tauchten die Stra­ßen der chiapanekischen Stadt Venustiano Carranza in helles Licht. Dann fielen Schüsse auf die rund 500 Menschen, die sich dort eingefunden hatten. Drei Personen starben an diesem 9. November, ein zwei Tage altes Baby wurde zum Halbwaisen. Seit Tagen hielten die Campesi­nos die Straße nach Tuxtla Gutiérrez besetzt. Ihre Forderun­gen waren eher bescheiden: Mehr Geld für den Mais, den sie anbauen und von dessen Verkauf sie leben. Sie hofften auf Ver­handlungen mit der Regierung, auf die Erfüllung ihrer Forderun­gen. Doch die Machtinhaber in Chiapas schlugen hart zurück.
Knapp eine Woche zuvor, in der Nacht zum 4. November, hatten die berühmt-berüchtigten und allgegenwärtigen “Un­be­kann­ten” den Sitz der Co­or­di­na­do­ra Nacional por la Pa­ci­fi­ca­ción (CONPAZ) in San Cristóbal de las Casas überfallen, Unter­la­gen und Lebensmittel entwendet und anschließend die Büros in Brand gesteckt. Sie hinterließen Sprüche wie “Tod den Za­pa­ti­sten!” und “Weg mit den Za­pa­ti­sten! Man will Euch nicht.” Am näch­sten Tag fand sich auf dem An­rufbeantworter eine Mord­dro­hung gegen 26 Mitarbeiter aller Nicht-Regie­rungsorganisationen, die sich in der CONPAZ zu­sam­men­ge­schlossen haben. “Wir wer­den Euch alle umbringen, einen nach dem anderen. Und da, wo es Euch am meisten weh tut: Auch Eure Kinder!” sprach eine fin­stere Stimme vom Tonband. Um die Drohung zu unter­strei­chen, entführten die Täter den Ge­schäftsführer von CONPAZ und seine ganze Familie, schlu­gen ihn vor den Augen seiner Kin­der zusammen und entließen ihre Opfer mit kahlgeschorenem Kopf nach fast dreitägiger Haft.

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser

Der Zeitpunkt war nicht zu­fällig gewählt. Die Morddrohun­gen und die Entführung fanden just zu einem Zeitpunkt statt, als sich viele Augen nicht nur in Me­xiko wieder einmal auf Chia­pas und auf San Cristóbal rich­te­ten. Für den 4. November war ur­sprünglich die Einrichtung der “Kom­mission zur Verfolgung und Überwachung des Friedens­ab­kommens von San Andrés Larráinzar” geplant. Hinter die­sem komplizierten Namen ver­birgt sich eine aus VertreterInnen der mexikanischen Regierung, der ZapatistInnen sowie der par­lamentarischen (COCOPA) und der kirchlichen (CONAI) Ver­mittlerorganisationen zusam­mengesetzte Instanz zur Ge­währleistung aller in Zukunft vereinbarten Abkommen zwi­schen den KontrahendInnen im Chiapas-Konflikt. Die Einrich­tung einer solchen Kommission gehörte zu den zentralen Forde­rungen des EZLN, um die Si­cherheit ihrer KämpferInnen und der überwiegend indigenen Be­völkerung in den umkämpften Zonen zu verbessern. Dieses “Eingeständnis” konnte die Bun­desregierung offenbar nicht ma­chen, ohne noch einmal ein­drücklich zu zeigen, wer denn eigentlich Herr im Hause Me­xiko ist. Drei Tage lang hielten sie die in San Cristóbal ver­sammelte EZLN-Delegation hin, bevor die Kommission offiziell ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die von der Regierung zu stel­lenden Vertrauensleute wurden, obwohl es drei Wochen vorher Zeit gegeben hätte, erst einen oder zwei Tage vor Termin an­gesprochen. Zudem waren die Delegierten zum Teil für die Za­patistInnen unannehmbar, so daß diese ihre Zustimmung versag­ten.
Doch als die Kommission am 7. November endlich offiziell ins Leben gerufen wurde, revan­chierte sich die Guerilla auf ihre Weise. Ihr ursprünglich nicht eingeplanter Fußmarsch vom Ort der gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen – von dem ehe­maligen Kloster El Carmen zum Stadttheater von San Cristóbal – geriet zu einem regelrechten Tri­umphzug für die Comandantes mit ihren charakteristischen, nur Augen und Mund freilassenden Wollmützen. Auch im Saal des renovierten Theaters lagen die Sympathien der meisten Anwe­senden eindeutig bei den Zapatist­Innen. Doch es war nur ein kleiner propagandistischer Sieg in Anbetracht der Verzöge­rungstaktik der Bundesregierung. “Die Regierung will uns nur hin­halten und zum Aufgeben brin­gen,” zeigt sich denn auch Co­mandante Ramón etwas resi­gniert. Im Anschluß erklärt er zwar, das EZLN habe alle Zeit der Welt. Doch so ganz überzeu­gend klingt das nicht.
Nicht wenige politische Be­obachter sind der Auffassung, daß der EZLN-Aufstand letzten Endes nur der Regierungspartei PRI genutzt habe. Das stimmt si­cherlich nicht, diese Aussage muß zumindest auf die opposi­tionelle Partei der Nationalen Allianz (PAN) ausgeweitet wer­den. Die Rechtskonservativen haben erst am 24. November er­neut ihre wachsende Popularität unter Beweis gestellt. Bei den Kommunalwahlen in mehreren Bundesstaaten konnte die PAN in vielen Städten Siege erringen und ließ die linke PRD (Partei der Demokratischen Revolution) deutlich hinter sich. Und überall dort, wo die PAN auf Bundes­staatsebene zum zweiten Mal die Regierung stellt, vor allem in Baja California, ist ein neues Phänomen zu beobachten: Die PRI, aufgrund der heterogenen Struktur mehr ein Regierungsap­parat als eine Partei, zerfällt zu­sehends. Zumindest in der bishe­rigen Form sind ihre Tage ge­zählt. Diese Entwicklung werden wohl auch Wahlmanipulationen und Politikermorde nicht mehr aufhalten können. Dazu immer­hin hat der ZapatistInnenauf­stand wesentlich beigetragen.

Hetzjagd auf LandbesetzerInnen

Die Kaffeeplantage Liqui­dam­bar liegt im Süden von Chiapas, etwa 100 km von der me­xi­ka­nisch-guatemaltekischen Gren­ze entfernt. Die an tausen­den Kaffeebäumen reifenden Kaf­fee­kirschen haben seit Jahr­zehn­ten den Besitzern Millio­nen­ge­winne beschert. Den während der Ernteperiode bis zu 2500 an­ge­stellten Ta­ge­löh­nerInnen bleibt nach meh­re­ren Monaten har­ter Arbeit meist nur das Geld für die Rück­fahrt in ihre Ge­mein­den. Auch die Be­völ­kerung des Land­kreises An­gel Albino Corzo pro­fitierte nie vom Reich­tum der Fin­ca­be­sit­zer Marianne Schimpf und Lau­renz Hudler.
Auf ihrer für die Bedürfnisse des Dorfes zu kleinen Anbauflä­che, bauten die BewohnerInnen von Nueva Palestina Mais, Boh­nen und etwas Kaffee an – zum Le­ben zuwenig, zum Sterben zu­viel. Dennoch haben sie die Hoff­nung auf eine Verbesserung ih­rer Verhältnisse nie aufgege­ben. Denn die auf mehrere tau­send Hektar geschätzten Lände­rei­en von Liquidambar liegen im Be­reich des Areals, das den Cam­pesino-Familien rechtmäßig zu­steht. Doch was Recht ist be­stim­men in Chiapas nicht die Cam­pesinos, sondern die Kaf­fee­ba­rone und ihre Verbündeten – Funk­tionäre der Staatspartei PRI, Po­li­zeiführer und Todes­schwa­dro­ne. Das mußten die Men­schen in Nueva Palestina er­fah­ren, seit sie am 4. August 1994 ge­gen den Status Quo auf­be­gehr­ten. Um die Erweiterung ihrer Ag­rarkooperative zu erwir­ken, be­setzten sie die Plantage Li­qui­dam­bar, wenig später die Fin­cas Prusia, Sayula und Las Chi­char­ras. Doch jäh endete der kur­ze Traum vom Leben ohne Aus­beu­tung. Nachdem die me­xi­ka­ni­schen Regierungstrup­pen den Waf­fenstillstand gebro­chen und die EZLN, in den Lakandoni­schen Ur­wald getrieben hatten, ver­stärk­ten die Großgrundbesit­zer, de­ren Län­dereien von Bau­ern­ge­werk­schaf­ten enteignet wor­den wa­ren, den Druck auf die Re­gie­rung. Mit Erfolg: Am 28. April 1995 wurde Liquidambar von Armee- und Polizeieinheiten ge­räumt und Haftbefehl gegen 280 ver­meintliche Mitglieder der Unión Campesina Popular Fran­cis­co Villa (UCPFV) erlassen. Zwar wurde bisher nur ein klei­ner Teil der Haftbefehle voll­streckt, Angst und Unsicherheit lie­gen jedoch seit diesem Zeit­punkt wie ein schwarzer Schat­ten über den etwa 2000 Cam­pe­si­nos, die der Agrarko­operative Nueva Palestina ange­hören. Täg­lich patrouillieren Armee und von den deutschen Groß­grund­be­sit­zern bezahlte pa­ramilitärische Grup­pen – die so­ge­nannten Wei­ßen Garden – in den Gemeinden, in denen sich die Menschen in der UCPFV zu­sam­men­ge­schlos­sen haben.
Daß es für die Cam­pe­sino-Fami­lien keinerlei Rechts­ga­ran­tien gibt, wurde bei ei­nem Po­li­zei­überfall deutlich, der sich vor ge­nau ei­nem Jahr er­eig­nete und bis­her ohne juri­sti­sche Kon­se­quen­zen für die Ver­ant­wort­li­chen geblie­ben ist.

Blutige Weihnacht

Am 16. Dezember 1995 blok­kier­ten Mitglieder der UCPFV die von Nueva Palestina zur Kreis­hauptstadt Jaltenango füh­ren­de Straße, um für die Freilas­sung von sechs inhaftierten Cam­pe­sinos ihrer Organisation zu de­mon­strieren. Diese Straßen­sperre wur­de Stunden später von Po­li­zei­einheiten geräumt und 17 De­mon­stranten, unter ihnen der 35jährige Reyes Penagos Marti­nez, festgenommen und ins Be­zirks­gefängnis gebracht. Dort be­gann für die Gefangenen ein grau­enhaftes Martyrium. Sie wur­den geschlagen, mit Elek­tro­schocks und Feuerzeugen ge­quält, mit dem Kopf in Dreck­was­ser getaucht und immer wie­der nach den “Anführern” ihrer Or­ganisation ausgefragt. Nach zwei Tagen wurden die meisten In­haftierten freigelassen – doch hat das Vorgefallene ihr Leben nach­haltig verändert. Weder die von Polizisten im Gefängnis mehr­fach vergewaltigte Julieta Flo­res noch Martin Gomez, dem von den Gesetzeshütern ein Auge ausgebrannt wurde, wer­den die Erlebnisse jemals ver­ges­sen können. Immerhin konn­ten sie durch ihre öffentlichen Aus­sa­gen dazu beitragen, daß sich die Nationale Menschen­rechts­kom­mission Mexikos CNDHM – der sicherlich keine Par­teinahme für die UCPFV vor­ge­worfen wer­den kann – mit den Vor­gän­gen beschäftigte. Diese Mög­lich­keit hatte Reyes Penagos Mar­ti­nez nicht mehr. Seine ver­stüm­mel­te Leiche wur­de nahe Nueva Pa­lestinas auf­gefunden. Im staat­li­chen Ra­dio wurde ver­kün­det, daß Reyes Pe­nagos Mar­tinez “bei be­waff­neten Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der Polizei” ums Le­ben gekom­men sei.
Die CNDHM kommt in einem jüngst veröffentlichten Memo­ran­dum (Nr. 61/96) zu einem ganz anderen Ergebnis: “Mit ho­her Wahrscheinlichkeit wurde Reyes Penagos Martinez am 18. De­zember 1995 nach seiner Fest­nah­me, die ohne jede recht­liche Grund­lage erfolgt ist, durch Po­li­zei­kräfte erschossen. Davor ist er in Polizeigewahrsam ge­foltert wor­den. Zahlreiche Zeu­gen­aus­sa­gen, unter anderem vom Ge­fäng­nisarzt belegen, daß Rey­es Penagos Martinez ohne je­gli­che Ver­letzungen eingelie­fert wurde. Bei der von der CNDHM in Auf­trag gegebenen Autopsie der Leiche wurden ver­schiedene Brüche, Brandverlet­zungen im Ge­sicht und Folter­spuren an den Ex­tremitäten und Genitalien fest­ge­stellt. Der Tod von Reyes Pe­na­gos Martinez ist durch einen Schuß aus kurzer Distanz in den Rücken eingetre­ten (…) Die von Sei­ten der Poli­zei erfolgte Dar­stel­lung, daß Reyes Penagos Mar­tinez bei be­waffneten Aus­ein­andersetzungen ums Leben ge­kommen sei, ist un­glaub­wür­dig. Die vom Poli­zei­kom­man­dan­ten Francisco Hernandez Cha­cón präsentierte Erklärung, er habe sich die Schußverletzung selbst zugefügt, ist äußerst du­bios, da die Schuß­entfernung ent­sprechend ballisti­scher Unter­su­chungen nicht mehr als 70 cm be­tragen haben kann.” Ab­schlie­ßend wird von der CNDHM die so­fortige Suspen­die­rung von acht namentlich ge­nann­ten Po­li­zi­sten und die Ein­lei­tung von Straf­verfahren gegen sie und ei­nen Staatsanwalt ge­for­dert.

Statt Lehrern kommen Soldaten

Seit September 1996 hat sich die Lage im Landkreis Angel Al­bino Corzo – wie auch in ande­ren Lan­desteilen Mexikos – wei­ter ver­schärft. Zunächst waren es “nur” Hubschrauber und Flug­zeu­ge der mexikanischen Luft­waf­fe, die mit Tiefflügen die Be­woh­nerInnen von Nueva Pale­sti­na und benachbarten Ort­schaf­ten in Angst und Schrecken ver­set­z-ten. Dann, am 8. Oktober 1996 ka­men 300 Soldaten nach Nueva Pa­lestina, um, wie sie sag­ten, “so­ziale Aufgaben zu er­füllen.” Auf einer Dorfver­samm­lung wur­de den Familien vom Ar­mee­kom­mandanten der Re­gion VII Tuxt­la und einem Funk­tionär des Ag­rarministe­riums er­klärt, daß die Armee dort bleiben würde und die Ein­wohnerInnen fortan die Anord­nungen des Kom-man­dan­ten Ma­rio Renan Ca­stillo Fer­nandez zu befolgen hätten. An­dernfalls, so die un­zwei­deu­tige Aussage der Staats­organe, wür­den Köpfe rollen.
Die von der Regierung im Zuge besagter “sozialer Aufga­ben” Mitte des Jahres zugesagten Leh­rer sind bisher noch nicht ein­getroffen. Auch “soziale Ar­bei­ten” der Armee hat es keine ge­geben. Entgegen den Ankün­di­gun­gen sind weder ärztliche Un­ter­suchungen noch Reparatu­ren elek­trischer Geräte durchge­führt wor­den. Dafür haben die Sol­da­ten vom Gemeindehaus ne­ben der Schule Besitz ergrif­fen. Nach An­gaben der UCPFV wird die Be­völkerung massiv von den Mi­li­tärs eingeschüch­tert. Die Sol­da­ten würden die Frauen des Ortes be­lästigen und die Kinder hätten Angst auf die Straße zu gehen. Be­sonders der 25. Ok­to­ber ist den Menschen in Nueva Pa­le­sti­na im Gedächtnis ge­blie­ben. Be­trun­kene Soldaten und Po­lizisten ra­sten mit ihren Fahrzeugen durch den Ort und schossen wahl­los in die Luft. An­schlie­ßend brachten sie Pro­stituierte aus Jaltenango in ihre zwischen Grund­schule und Kin­dergarten ge­legene Unterkunft. Aus all die­sen Gründen prote­stierte die UCPFV im November mehrere Tage in der chiapaneki­schen Haupt­stadt Tuxtla vor dem Re­gie­rungssitz gegen die Mili­tär­prä­senz und die alltäglichen Schi­kanen. Vergeblich – an der Si­tuation in Nueva Palestina hat sich nichts geändert. Im Gegen­teil. Seit dem 1. Dezember wur­den weitere Militärkontingente – von 500 Soldaten ist die Rede – in die Region entsandt und im be­nachbarten Landkreis La Con­cor­dia stationiert, um – wie es of­fi­ziell heißt – Guerilleros aufzu­spü­ren. Deshalb sind in der Ort­schaft Queretaro Stra­ßen­sperren er­richtet und die Be­woh­nerInnen nach Anführern der UCPFV ver­hört worden. Von staat­lichen Stel­len werden diese Maß­nah­men mit angeblichen Waf­fen­fun­den bei zwei Cam­pe­si­nos be­grün­det, die aus der Ge­gend stam­men sollen.

Erst vergessen, dann verschleppt

Viel hat sich im Leben der Men­schen in Loxicha nicht ver­än­dert, seit zapotekische In­dí­ge­nas vor 300 Jahren mit Santa Cata­rina und der jetzigen Kreis­haupt­stadt San Agustin die ersten der mittlerweile 32 Gemeinden die­ses Landkreises gründeten. Als Transportmittel dienen Esel und seltener auch Pferde, um die spär­lichen Maiserträge, die sich den kargen Böden abtrotzen las­sen, von den Feldern zu holen. Spa­nisch ist für die meisten der 35.000 BewohnerInnen eine Fremd­sprache und die Analpha­be­tenrate liegt bei 80 Prozent. Me­di­zinische Versorgung für Loxicha ist im Haushaltsbudget der seit 70 Jahren regierenden Staatspartei PRI nicht vorgese­hen. Lediglich ein Arzt, dessen Mög­lichkeiten aufgrund fehlen­der Medikamente in der Land­kli­nik mehr als begrenzt sind, steht den Menschen dieser Re­gion zu Dien­sten. Lastkraftwa­gen gibt es kaum und nur ein Bus quält sich täg­lich die schlängelnde Schot­ter­piste hin­auf, um die Pas­sa­giere ins 60 Kilometer, aber drei Fahrt­stunden ent­fernte Städtchen Mia­huatlán zu bringen. “Die Re­gie­rung hat uns hier in den Ber­gen einfach ver­gessen”, klagt ein al­ter Campe­sino, “nicht einmal eine Straße gibt es.” Doch mit dem Leben in Abgeschiedenheit ist es nun end­gültig vorbei.
Begonnen hatte alles Anfang Sep­tember 1996, als 1200 Be­woh­nerInnen Loxichas zu Fuß zur Landeshauptstadt Oaxaca auf­brachen, um die Freilassung von Francisco Valencia zu for­dern. Dieser war in einer Militär­sper­re mit angeblich subversiven Schrif­ten festgenommen worden. Nur zehn Tage nach dem Protest im 130 Kilometer weiter nörd­lich gele­genen Regierungssitz wur­de San Agustin von Armee- und Poli­zeieinheiten besetzt. Un­ter dem Vorwurf, die im an­gren­zen­den Bundesstaat Guerrero auf­ge­tauchte Guerilla EPR zu un­ter­stützen, wurden zwanzig Per­so­nen – darunter der PRI-Bür­ger­meister und die Polizisten der Kreis­stadt – festgenommen. Acht Be­wohner San Agustins wur­den wenig später, mit von Fol­terspu­ren gezeichneten Kör­pern, frei­ge­lassen. Einige be­fin­den sich in Ge­fängnissen außer­halb Oaxa­cas, von anderen fehlt bis­her je­des Lebenszeichen.
Wiederum machten sich die Men­schen auf den Weg, um für die Freilassung ihrer Angehöri­gen zu demonstrieren. Diesmal wa­ren es 600 Menschen, die bis zum Präsidentenpalast der 600 km entfernten mexi­ka­ni­schen Haupt­stadt aufbrachen. Mit Ver­spre­chungen, die vor­ge­tra­genen Kla­gen zu prüfen und der notlei­den­den Bevölkerung mit Nah­rungs­mittelzuweisungen zu hel­fen, wurden sie nach Hau­se ge­schickt. Doch daraus wur­de nichts. Statt der erhofften Le­bens­mittel kamen am 7. No­vem­ber erneut Polizeitrupps und Sol­da­ten: 22 BewohnerInnen San Agustins – unter ihnen der Lehrer Lau­reano Ramirez – wurden ver­haf­tet. Als Grund dieses Über­falls wurde von staatlicher Seite er­neut das Auftreten der EPR ge­nannt.
Am 28. Oktober hatte die nach der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN nun zweite in Mexiko operie­ren­de Guerilla ihren einseitigen Waf­fenstillstand für beendet er­klärt und eine bewaffnete Kam­pag­ne eingeleitet. Bei mehreren Über­fällen auf Polizei- und Ar­mee­posten in den Bundesstaaten Guer­rero, Oaxaca und Mexiko wur­den 20 Angehörige der Poli­zei und Armee von Kommandos der EPR erschossen, weitere 20 ver­letzt. Bei keinem dieser EPR-An­griffe hatte es eigene Verluste oder Verhaftete gegeben.
Trotz penibler Hausdurchsu­chun­gen waren in San Agustin kei­nerlei Waffen oder Militär­klei­dung gefunden worden. Den­noch wurden der Öffentlich­keit meh­rere Bewohner aus Loxicha als Mitglieder der EPR prä­sen­tiert. Nach Angaben der un­ab­hän­gigen Menschenrechts­or­ga­ni­sa­tion Limeddh waren diese ge­zwun­gen worden Ar­mee­uni­for­men anzuziehen und sich mit Waf­fen in Händen fo­tografieren zu lassen. Somit konnte die Re­gie­rung in der Presse erste Erfolgs­meldungen im Kampf ge­gen die EPR ver­melden. Al­ler­dings kam die staatliche Version, daß die ver­meintlichen Gue­ril­le­ros in Tarn­anzügen und zudem be­waffnet ohne Widerstand in ih­ren Häu­sern festgenommen wer­den konn­ten, nicht wenigen Be­obachterInnen seltsam vor. Schließlich ist das Polizeimassa­ker an unbewaffneten Campesi­nos am 28. Juni 1995 nahe der Tou­ristenmetropole Acapulco in Guer­rero noch allen im Gedächt­nis. Damals waren den 17 zum Teil durch Genickschüsse er­mor­de­ten Bauern Waffen in die Hän­de gedrückt worden, um das bar­ba­rische Vorgehen der Staats­or­ga­ne zu rechtfertigen. Zwar konnte das “Waffensäen”, wie der­artige Polizeipraktiken in Me­xi­ko genannt werden, von in­ter­na­tionalen BeobachterInnen nach­gewiesen werden, das Echo die­ser Bluttat hallt jedoch nach. Ein Jahr später, während der Ge­dächt­nisfeier am Ort des Massa­kers Aguas Blancas, trat die EPR erst­mals in Erscheinung und er­klär­te der mexikanischen Regie­rung den Krieg.
Für die BewohnerInnen Lo­xi­chas hat ein Alptraum begon­nen. Nie­mand weiß genau zu sa­gen wie­viele Angehörige ver­haftet oder verschwunden sind. Weder Poli­zei noch Armee wol­len Aus­künfte über den Verbleib einiger Ver­schleppter machen. Und die Re­pression gegen die Menschen die­ser Region nimmt weiter zu. Bei mehreren Polizei­razzien zwi­schen dem 26. November und dem 1. De­zember wurden in den Or­ten San Vicente Yagondoy, Loma Bo­nita, Llano Maguey, Santa Cruz de las Flores und Mag­dalena – allesamt im Land­kreis Loxicha gelegen – 24 Per­so­nen verhaftet, deren jetziger Auf­enthaltsort un­be­kannt ist. Nach Angaben der An­gehörigen sind keine Haftbe­fehle vorgelegt wor­den. Ledig­lich das Schicksal von Adrian Sebastian Antonio ist be­kannt. Er wurde am Ort seiner Fest­nahme tot­ge­foltert und lie­gen­gelassen.
Der Ruf der Menschen von Loxicha nach Gerechtigkeit, Frei­lassung der Gefangenen und dem Abzug der Armee aus ihrer Re­gion stößt bei den Regieren­den auf taube Ohren. General­staats­anwalt Pedro Martinez Or­tiz hat weitere Militäroperatio­nen angekündigt.

EZLN: Keine Verhandlungen mit Regierung

LN: Nach langer Unterbrechung kam eine Delegation der EZLN wieder zu Gesprächen nach San Cristóbal, allerdings nur mit den Vermittlerorganisationen und nicht mit der Regierung, wie eigentlich geplant. Gibt es Fortschritte?

David: Die Friedensgespräche wurden unterbrochen, weil es keine Anzeichen für echten Friedenswillen der Regierung gibt. Wir haben fünf Mindestforderungen zur Wiederaufnahme der Gespräche genannt. Diese sind bisher noch nicht erfüllt worden. Aber es hat kleine Fortschritte gegeben. Zumindest ein Punkt, die Einrichtung der Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen (COSEVE), ist am 7.11.96 erfolgt. Aber alle anderen Punkte stehen noch aus. Und von Seiten der chiapanekischen Regierung hat es massive Provokationen gegeben. Indígenas werden vertrieben, entführt und ermordet. So wurde vor drei Tagen eine friedliche Demonstration von Campesinos im Landkreis Venustiano Carranza gewaltsam von Polizei und Militär aufgelöst. Anstatt mit den Campesinos über ihre Forderungen nach Anhebung der Maispreise zu verhandeln, wurden drei Campesinos durch staatliche Truppen erschossen und weitere fünf schwer verletzt. Unter solchen Bedingungen kann es keinen Friedensdialog geben, weil die Regierung von Chiapas keinen Frieden will.

LN: Welcher Form kann die Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen COSEVE Druck auf die Regierung ausüben?

Zepedeo: Zunächst geht es um das im Februar geschlossene Abkommen über die Rechte und Kultur der indigenen Völker, dem für uns wichtigsten Punkt. Bisher ist es durch die Regierung nicht umgesetzt worden. Die COSEVE wird prüfen, inwieweit den Worten Taten folgen. Die COSEVE wird die Nichteinhaltung des Abkommens offensichtlich machen und mit der Zivilgesellschaft Druck ausüben.

LN: Wie bewertet Ihr die Morde in Venustiano Carranza und den Überfall auf CONPAZ, sowie die Repression gegenüber internationalen BeobachterInnen?

David: Das sind Versuche der Regierung von Chiapas, den Friedensprozeß zu stoppen. Die Regierung ist sehr verärgert über die Gruppen, die sich für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde einsetzen. Die Präsenz von internationalen BeobachterInnen ist für die Regierung negativ, da sie ZeugInnen dessen sind, was wirklich in Chiapas passiert. Die Attacken sind Teil des Planes, die wirklichen Zustände zu verschleiern und den Friedensprozeß zu sabotieren. Besonders im Norden von Chiapas herrscht ein Klima des Terrors. Campesino-Organisationen und Mitglieder der PRD werden eingeschüchtert und bedroht. Verantwortlich dafür sind direkt der Gouverneur von Chiapas Ruiz Fero und der Innenminister Eraclio Zepeda und die gesamte Bande der PRI. Die Auflösung der Weißen Garden ist ebenfalls eine unserer Mindestforderungen. Ohne sie wird es keinen Friedensdialog geben. Das haben wir erklärt und dabei bleibt es.

Der Friedenspreis ist ein Politikum

Das literarische Werk von Vargas Llosa ist von hoher Qualität, daran besteht kein Zweifel. Daß seine Bücher millionenfach verkauft wurden und werden, hat mit bestsellerischer Seichtigkeit nichts zu tun, ist nicht allein Erfolg gekonnter Vermarktung und liegt auch nicht daran, daß er wie viele andere mit reißerischen Texten auf Modeströmungen reagiert hätte. Die Langlebigkeit der Bücher, ihre detaillierte literaturwissenschaftliche Rezeption und nicht zuletzt die Dekorierung des Autors mit hohen Preisen sind Argumente dafür, Vargas Llosa als einen der wichtigsten Schriftsteller Lateinamerikas zu bezeichnen. Daran wird sich nichts mehr ändern. Gewiß: Die sagenhafte Beredsamkeit, sein Charme bei Interviews und Reden, seine faszinierende Weltgewandtheit erinnern gelegentlich an Showtalente, machen einen vielleicht manchmal mißtrauisch und begründen den Verdacht, ganz so weit könne es mit der unerbittlichen Berufung zum Schriftsteller doch nicht her sein. Aber wenn man sich dann wieder in einen seiner Romane hineinliest und nicht mehr davon wegkommt, ist man still und möchte nichts gesagt haben. So weit, so gut.
Doch die Sache hat einen Haken. Denn der Preis beschränkt sich ausdrücklich nicht auf die Würdigung des literarischen Werks einer Person, sondern hat als Friedenspreis eine politische Dimension. Mehr noch: gerade auf die kommt es an, das unterscheidet diesen Preis von den zahllosen anderen. Und die Verleihung auf der weltweit bedeutendsten Buchmesse macht aus dem Preis ein vielbeachtetes Votum für die literarischen und politischen, ästhetischen und ethischen Äußerungen eines Autors, den der Deutsche Buchhandel sich erwählt. An diesem Punkt wird es schwierig.

Seine politischen Positionen gehen ins Extrem

Vargas Llosa hat, was seine politischen Positionen angeht, zu zwei zentralen Erkenntnissen gefunden: daß Diktaturen jeder Art, sei es von rechts oder links, verdammungswürdig sind, mit ihnen alle Autoritarismen, Despotien und Nationalismen, und daß zu einer globalen Durchsetzung liberaler Prinzipien keine Alternative besteht.
Der Wendepunkt für den jungen, vom revolutionären Kuba begeisterten Sozialisten kam bekanntlich 1968. Die schockierenden August-Ereignisse in Prag und der “Fall Padilla”, jener Maulkorb für den kubanischen Poeten Heberto Padilla, mit der Fidel Castro der Hoffnung auf einen demokratischen, pluralistischen Sozialismus einen herben Dämpfer verpaßte, brachten Vargas Llosa zu der Überzeugung: daß es den sozialistischen Regimen an Demokratie mangelte war keine Kinderkrankheit, sondern Prinzip. In der Folge wurde er zu einem wortgewaltigen Anticastristen, was er bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrich (die Rede bei der Preisverleihung in Frankfurt bildet da keine Ausnahme). Mit den Konsequenzen fand er sich ab: In seiner heftigen, bisweilen sehr emotionalen Kritik, beispielsweise an García Márquez, den er als Hure Castros bezeichnete, oder an Günter Grass, dem er Rassismus vorwarf – darin mochten ihm viele nicht mehr folgen.
Mit Recht, denn seine Position zum Sozialismus schlug ins Extrem aus. Nicht nur, daß er sich gegen den stalinistischen Terror “sozialistischer” Regime gewandt hätte, auch dem nicaraguanischen Projekt konnte er nichts abgewinnen. Und den Zapatistenaufstand sah er in der gleichen Perspektive, als “reaktionäre und anachronistische Bewegung, noch autoritärer und obsoleter als die PRI” (taz, 17.1. 92). Denn Vargas Llosa zufolge sind es die linken Guerillas gewesen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika die vielen Putsche von rechts überhaupt erst provoziert haben und die aus Scheindemokratien Militärdiktaturen werden ließen. Das klingt nach Ernst Nolte, der ja in der sowjetischen Dikatur Stalins die Ursache für die nationalsozialistische gesehen hat.
Vargas Llosa macht sich unglaubwürdig, wenn er sich immer wieder vehement für Demokratie und gegen Gewalt ausspricht und bei seiner Kritik an der Linken die Tatsache ignoriert, daß die Rebellionen nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern aus der generationenlangen Erfahrung, daß die Demokratie in Lateinamerika oft eine Farce war und jegliche Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung immer wieder brutal verhindert wurden. Vargas Llosa setzt blind westliche Demokratien und lateinamerikanische Schambedeckungsversuche repressiver Oligarchien ineins. Das ist Universalismus eigener, zweifelhafter Art.
Dieser Universalismus findet seine logische Fortsetzung darin, wie sich Mario Vargas Llosa die Zukunft der Welt vorstellt: Er denkt, knapp gesagt, ultraliberal. In seinem Präsidentschaftswahlkampf in Peru 1990 hat er das vielfach zu erkennen gegeben. Dem politischen Kommentator Vargas Llosa ging und geht es nicht um einen Ausgleich, einen Mittelweg, sondern – wiederum – ums Ganze. Seine politischen Leitbilder sind zum einen Margaret Thatcher, deren Politik er als wahrhaft revolutionär ansieht, weil sie die BürgerInnen von der staatlichen Bevormundung befreit und ihnen ihre Selbstverantwortlichkeit zurückgegeben habe. Zum anderen verfaßte er einen Wahlaufruf für den nunmehrigen spanischen Regierungschef Aznar. Den forderte er auf, von seinem im Wahlkampf gegebenen Versprechen, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten, abzugehen – was Aznar ja nun auch konsequent befolgt. Mit den Sozialleistungen hat es Vargas Llosa jedenfalls nicht; das Niveau der südostasiatischen “Tiger” würde für Spanien genügen, meint er. Und wer sich ihm in seiner neoliberalen Konsequenz nicht anschließt, muß sich – beispielsweise in El País – als “Idiot” beschimpfen lassen.

Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich

Wie er die Sache sieht, mag ein Ausschnitt aus einem Interview verdeutlichen (Der Spiegel, 15/96): “Die große Frage ist: Kann eine Gesellschaft ihr soziales Netz noch verstärken und trotzdem auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben? Ich glaube, nein. Das Auffangsystem, das mit viel Idealismus und Großzügigkeit errichtet wurde, ist heute nicht mehr realistisch. Daran festzuhalten wird zum unüberwindlichen Hindernis, wenn es darum geht, Märkte zu erhalten oder gar zu erweitern. Andererseits schafft die Internationalisierung der Wirtschaft phantastische Möglichkeiten für arme Länder. Ich glaube, Politiker haben die Pflicht zu erklären, daß die Reform weg von staatlichen Subventionen hin zur Eigeninitiative der Bürger nicht länger aufgeschoben werden kann.” Wohlgemerkt, Vargas Llosa bezieht sich nicht nur auf, sagen wir mal, Schweden, sondern auch auf Peru.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels macht mit der Entscheidung deutlich, wohin seiner Meinung nach die Reise gehen soll. Es braucht nicht dabei zu bleiben, daß der Sozialstaat (wir reden von der westlichen Welt) durch Effizienz gesichert wird, er darf demontiert werden – der Markt wird’s schon regeln, und die Straßenkinder in Lima (die schließt Vargas Llosa nolens volens mit ein) sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Auf alle Fälle sind sie weniger wichtig als das Funktionieren der Wirtschaft, das steht ohnehin und seit langem fest.
Mario Vargas Llosa, der immer betont hat, daß es für einen ernsthaften Schriftsteller Bedingung ist, “Zustimmung, Unterordnung und offizielle Komplizenschaft” zu vermeiden, ist längst zum Komplizen geworden. Das naive Vertrauen, daß sich nach einer wie auch immer gearteten Übergangsphase die sozialen Probleme in der perfekt funktionierenden neoliberalen “Ordnung” von selbst lösen, hilft keinem weiter – und erinnert fatal an eben jene Versprechungen von einer besseren Welt, die Vargas Llosa am Sozialismus so heftig kritisiert hatte.
In seiner Rede zur Friedenspreisverleihung bezeichnete sich der Geehrte als Dinosaurier, der die gute Literatur gegen die Massenschwemme an “Literatur light” und visuellen Medien verteidige. Das klingt gut, aber es sind doch recht selbstgefällige Krokodilstränen, die Vargsa Llosa da vergießt. Er nimmt politisch in Kauf, daß durch Strukturanpassungsmaßnahmen die soziale Misere zunimmt – nicht nur die soziale Misere als abstraktes Phänomen, sondern als ganz konkrete Entmündigung von immer mehr Menschen. Es ist absurd und peinlich, angesichts zunehmender Armut, wachsenden Analphabetismus und der sich verschlechternden medizinischen Versorgung davon zu schwärmen, daß die Mitbestimmung aller am Gemeinwesen zunehme. Das Gegenteil ist der Fall, und für gute Literatur hat dann auch kaum noch einer etwas übrig.
Noch einmal Mario Vargas Llosa im erwähnten Spiegel-Interview: “Literatur sollte sich von dem anstecken lassen, was draußen passiert, sonst wird sie trivial und dekadent.” Eben.

Zapatistas in der Hauptstadt

Vom 8.-12.10. fand der Congreso Nacional Indígena (CNI) im Zentrum von Mexiko-Stadt statt. VertreterInnen von über dreißig der 56 indigenen Völker Mexikos kamen zusammen, um Mißstände anzuprangern und einen Katalog von Forderungen für eine “neue, würdige Verfassung” zu formulieren. “Mexiko niemals mehr ohne uns!”, hieß das Motto. Die Eröffnungsveranstaltung lief eher verhalten und ohne Überraschungen ab. Forderungen nach mehr Autonomie und Demokratie wurden wiederholt. Die aktuelle Situation der indigenen Völker wurde allerdings zunächst wenig konkret diskutiert. Dies lag nach dem Bekunden einiger Delegierter vor allem an der Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern auch einige Kaziken befanden, die für ihre Dienstbarkeit gegenüber der PRI auf der einen und ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung oppositioneller indigener Dörfer andererseits bekannt sind.

Schlappe für die Staatspartei

Das Augenmerk der Medien hatte der CNI allerdings hauptsächlich deshalb erregt, weil im Vorfeld des Kongresses hitzig darüber diskutiert wurde, ob es den Rebellen des EZLN gestattet werden solle, eine Delegation zum CNI nach Mexiko-Stadt zu senden. RegierungsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, daß das Gesetz über den Dialog Reisen von Mitgliedern des EZLN außerhalb Chiapas verbiete. Sie kündigten die sofortige Verhaftung einer zapatistischen Delegation auf dem Weg in die Hauptstadt an. Doch schließlich ging es doch. Die Forderung der Zapatistas nach einer Möglichkeit zur Teilnahme am CNI, der von der EZLN selbst mitinitiiert worden war, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die PRI mußte schließlich widerwillig nachgeben. Anders als von vielen erwartet, war es dann aber nicht der Subcomandante Marcos oder ein anderer der bekannteren Zapatista-Führer, der in die größte Stadt der Welt aufbrach, sondern die Comandante Ramona, eine Tzotzil, die zuletzt in der ersten Runde der Friedensverhandlungen in San Cristóbal 1994 in der Öffentlichkeit erschienen war. Eine schwere, unheilbare Krankheit hatte sie in den letzten beiden Jahren daran gehindert, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen; nun jedoch hatte sich die Comandante dafür entschieden, vor ihrem Tode noch einmal im Namen der EZLN mit anderen Indigenas zusammenzutreffen.
Die Ankündigung, daß die EZLN tatsächlich eine Delegierte zum CNI schicken würde, war noch nicht verhallt, da wurden die Stellungnahmen der Kongreßteilnehmer bereits konkreter und weniger verhalten. Offenbar flöste diese Schlappe für die PRI den Delegierten der einzelnen Völker Mut ein und so kam es am Freitag und Samstag doch noch zu deutlichen Anklagen und Forderungen, die zuvor in verschiedenen, thematischen Kommissionen erarbeitet worden waren.
Am Freitag, Comandante Ramona nahm an diesem Tag lediglich beobachtend am Kongreß teil, äußerten sich die Delegierten ganz offen zur Existenz von Todesschwadronen, der wachsenden Militarisierung, die durch Raubbau entstehenden Umweltschäden und anderen Problemen, mit denen die indigenen Gemeinden des Landes zu kämpfen haben. Dem wurde die Forderung nach Schaffung eines wirklichen Rechtsstaates, der die Praxis des Verschwindenlassens, die Vergewaltigungen, den Amtsmißbrauch und die Folter durch die örtlichen Polizeitruppen verfolgen müsse, entgegengestellt. Wie deckungsgleich die Forderungen des CNI mit jenen der EZLN sind, machte ein Aufruf der CNI-Delegierten deutlich. Ausdrücklich schlugen sie die Annahme der von der EZLN im Dialog von San Andrés Larráinzar aufgestellten Demokratisierungsforderungen vor.
Als eine besonders wichtige Forderung für das Überleben der indigenen Völker wurde die Rückkehr zur ursprünglichen Form des Artikels 27 der Verfassung erhoben. Dieser Artikel, einer der Grundpfeiler der mexikanischen Verfassung von 1917, schützte das kommunale Eigentum an Land, über das viele indigene Dörfer verfügen. Salinas hob 1992 in einer Verfassungsreform diesen Schutz vor einer Privatisierung des Ackerlandes auf, und erklärte andererseits die Agrarreform für vollendet, obwohl noch Hunderttausende von landlosen campesinos auf den Wartelisten für Landzuteilungen stehen. Eine jüngst herausgegebene Studie des Nationalen Instituts für Ernährung (INN) verleiht der Forderung nach angemessener Landzuteilung Nachdruck. “Die Landkarte der Mangelernährung in Mexiko stimmt haargenau mit den von Indígenas besiedelten Zonen überein”, so Kirsten A. de Appendini vom Colegio de México. Mit einer gerechten Landverteilung allein könne das Problem zwar nicht beseitigt, zumindest aber entschärft werden.

“Legitimes Recht auf Rebellion”

Thematisiert wurde das Recht auf Rebellion, das sich die indigenen Völker angesichts der “schlechten Regierung” vorbehalten. Zwar seien die indigenen Völker keine Separatisten, sondern von ganzem Herzen Mexikaner. Doch solange dies von der anderen Seite ignoriert werde, und die indigenen Gemeinden weiterhin in einem Zustand der Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit und Militarisierung lebten, würden die indigenen Völker ihrerseits nicht auf das Recht verzichten, eine Veränderung der Regierungsform – notfalls mit Gewalt – anzustreben. Die Regierung müsse sich darauf einrichten, daß Mexiko am Tor des neuen “Stadiums der sechsten Sonne” (alte indigene Zeitrechnung) stünde und sich der Lauf der Geschichte zu ändern beginne.
Am Ende des Kongresses stand am Freitagabend eine Resolution, in der die Comandante Ramona sich für die Wiederaufnahme der (von der EZLN am 2. August, aufgrund zunehmender Repression durch die Bundesarmee ausgesetzten) Friedensgespräche und einen breiten nationalen Dialog aussprach, sowie für ein Abschlußkommuniqué der versammelten Delegierten.
Das Kommuniqué bekräftigt den Wunsch auf ein “harmonisches Mexiko, in dem alle ihren würdigen Platz finden” und weist darauf hin, daß es sich dazu als notwendig erweisen wird, der Welt zu zeigen, daß es sich bei den Indígenas um eine Vielfalt von Völkern handele. Nur so könne erreicht werden, daß der mexikanische Staat das Recht der demokratischen Selbstbestimmung jedes einzelnen dieser Völker in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiere.
Das Dokument schließt mit einer Anklage der neoliberalen Politik. Da eine solche Politik darauf abziele, die ganze Welt in einen großen Markt zu verwandeln, sei die Beseitigung der widerstehenden Kulturen programmiert.

“Niemals mehr ohne uns”

Am vergangenen Samstag ergriff dann die EZLN-Delegierte Comandante Ramona das Wort bei einer Großkundgebung auf dem Zócalo, der Hauptstadt. Vor einigen tausend Sympathisanten verkündete Ramona ihre Botschaft. Nach einigen Grußworten in spanischer Sprache fuhr die Comandante in ihrer eigenen Sprache, Tzotzil, fort. Und es war mehr die Tatsache, daß zum ersten Mal vor dem Regierungspalast der Diskurs der Opposition seinen Ausdruck in Tzotzil fand, als die Botschaft an sich. Bischof Samuel Ruiz äußerte sich von seiner Diözese in Chiapas aus sehr zuversichtlich, was die Anwesenheit der Comandante Ramona auf dem Zócalo anging: “Endlich haben die Indígenas eine Plattform, von der aus sie Gehör finden”.
Comandante Ramona, die zeitweilig gestützt werden mußte, sprach sich in ihrer kurzen Rede im Namen der EZLN für die Fortsetzung des Dialogs aus. Die EZLN sei bereit, sich an einem großen nationalen Dialog zu beteiligen und appellierte an die Anwesenden, den “Zapatisten auf dem Weg dorthin so zu helfen, wie ihr auf dem Weg in die Hauptstadt geholfen worden” sei. Nie wieder solle es ein Mexiko ohne die indigenen Völker geben. Nach ihrer kurzen Ansprache und noch bevor die Veranstaltung zuende war, begab sich Comandante Ramona, die nach offiziellen Angaben schwer nierenkrank ist, zur Behandlung und weiteren Beobachtung ihrer Erkrankung in eine Klinik.
Mittlerweile haben EZLN und die parlamentarische Vermittlungskommission COCOPA im chiapanekischen Dorf La Realidad ein weiteres Treffen anberaumt, auf dem über eine Fortsetzung der Friedensgespräche verhandelt werden soll. Nach Angaben der EZLN könnte an diesen Gesprächen auch der Sub, der sich in den letzten Wochen nur wenig in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, teilnehmen.

Editorial Ausgabe 267/268 – September/Oktober 1996

Die Zapatisten erklären die Dialogver­handlungen in Chiapas vorerst für been­det. In sechs verschiedenen Bundesstaaten Mexikos attackiert die in den letzten Wo­chen neu aufgetretene Guerillaorganisa­tion EPR (Revolutionäre Volksarmee) Mi­litärcamps und Polizeiposten, Präsident Ernesto Zedillo erklärt dem “Terrorismus” den Krieg und wünscht sich ein hartes Durchgreifen der Sicherheitsorgane: In Mexiko gehören die Zeiten politischer Stabilität schon lange der Vergangenheit an.

Es ist sicher noch zu früh, den unruhi­gen August zu einer entscheidenden Zäsur, einem Wendepunkt der Entwicklung Mexi­kos zu erklären. Aber es fallen doch immer dunklere Schatten auf das nur noch schwach scheinende Licht der Hoffnung des zivilen Über­gangs vom Einpar­tei­en-Staat zu einer de­mokratischen Ge­sellschaft. Seit 67 Jahren hat die re­gierende PRI (Par­tei der Institu­tio­nalisierten Re­vo­lu­tion) das Land be­reits im Griff, und nichts deutet darauf hin, daß die Funk­tionäre der Staatspartei auch nur auf ein Körnchen Macht ver­zichten wol­len. Statt­dessen scheinen sie bereit, das Land bis an den Rand des Bür­gerkrieges schlit­tern zu lassen – koste es was es wolle.

Das im Januar mit großem Getöse und Jubel­kommentaren gefeierte Abkommen zwi­schen EZLN und Regierung über “Rechte und Kultur der indianischen Völ­ker” steht nur auf dem Papier. Die eu­phemistischen Wörter über eine “neue Be­ziehung zwi­schen indianischen Völkern und dem Staat” blieben hohle Rhetorik. Stattdessen führt die Regierungsdelega­tion die Zapatisten an der Nase herum und ver­stärkt derweilen die Militarisierung nicht nur des südlichsten Bundesstaates Chia­pas. Im Moment ist es sicher noch zu voreilig, die Guerilleros der EPR klar einzuschätzen, doch bereits jetzt kann ge­sagt werden, daß ihre militäri­schen Ak­tionen und die damit verbun­denen pro­grammatischen Vorstel­lungen kaum zur Lösung der Probleme beitragen werden.

Einzig die Zapa­tistas verbinden den so­zialen Protest noch mit der konstruktiven Vision einer plu­ralen und sozialen Gesell­schaft, die auf den vielen Beinen einer partizipativen Demokratie stehen könnte. Doch die Uh­ren ticken gegen die Rebellen im Dschun­gel. Auf diesem Boden kann auch eine Or­ganisation wie die EPR wachsen, die aber eher ein Teil des Pro­blems zu sein scheint: des ruinösen und gewalttätigen Zerfalls der mexikanischen Gesellschaft, in der kein politischer Ak­teur mehr einen glaub­wür­digen Aus­weg aus der Dauer­krise an­zu­bie­ten vermag. Ihr Dis­kurs und ihre bisherigen be­waff­neten Ak­tionen er­innern an Theorie und Praxis der Guerillabewegungen der 60er und 70er Jahre: Eine be­waff­nete Avantgarde eröff­net den Krieg gegen die Staatsmacht, die Massen sollen folgen, und schließlich zieht eine “revolutionäre Arbeiter- und Bauern­regierung” in die Hauptstadt ein.

Zehn­tausende waren die Opfer der Guerilla­kriege Zentralamerikas, die mit diesem Programm ausgefochten wurden, und die Ergebnisse sind niederschmet­ternd. Doch daraus folgt nicht unbedingt, daß die EPR keine Basis aufbauen könnte, zu groß ist die Verbitterung in den abgelegenen Berg­dörfern im Süden Mexikos. “Die EPR kämpft um die Macht, die EZLN für Frei­heit, Demokratie und Gerechtigkeit”, so formulierte Subco­man­dan­te Marcos den entschei­den­den Unter­schied.

Die Mexikanisierung Deutschlands

Neuerdings wundern sich meine Freunde, wenn ich ihnen versichere, daß ich mich in Berlin immer heimischer fühle. Sie wissen, daß ich aus dem sonnigen Mexiko stamme, dem biblischen Land, wo Milch und Honig fließen. Am Wetter, überlegen sie, kann es sicherlich nicht liegen: Der kälteste Winter seit dreißig Jahren hat mich aber wahrscheinlich endgültig um den Verstand gebracht. Ich bin eine Erklärung schuldig, und hiermit gebe ich sie: Das mexikanische Herz fühlt sich in Berlin wohler, weil Berlin immer mexikanischer wird. Doch alles der Reihe nach.
Ich kam nach Deutschland, als in Mexiko die Verschuldungskrise offensichtlich ausgebrochen war. Der Erdölreichtum des Landes wurde in den siebziger Jahren so gründlich geplündert, daß nur zehn Jahre danach Mexiko ein Fall für den Internationalen Währungsfonds wurde. Ich erinnere mich noch gut daran: Blühende Landschaften haben die Politiker versprochen und den WählerInnen eingeredet, sie hätten das Geheimnis des ewigen Wohlstands zum Nulltarif entdeckt.
Als ich nach Westdeutschland kam, schien alles so grundlegend anders. Ich habe die Geschichte des Landes studiert und mich darüber gewundert, daß ein Willy Brandt zurücktreten mußte, nur weil ein Spion in seiner Umgebung entdeckt wurde. In Mexiko tritt natürlich kein Politiker wegen solcher Bagatellen zurück. Politik in Deutschland schien dagegen so transparent, so einfach zu begreifen zu sein. Mensch brauchte keine Kremlinologie zu betreiben, um zu erfahren, wofür die Parteien stehen. Es gab eine echte Opposition, und dabei erinnere ich mich noch gut an Frau Eidimtas. Sie hat mir mein erstes Zimmer vermietet und mich in das abendliche Ritual des Tagesschauguckens eingeweiht. Parallel zu den Nachrichten hat sie mich freundlicherweise aufgeklärt: Die Oppositionellen Brandt und Wehner seien Kommunisten, die mit Honecker unter einer Decke stecken. Nur Strauß vermochte sie in quasireligiöse Ekstase zu versetzen (“ein feiner Mann, ein feiner Mann”).
Ja, das waren Zeiten. Und was haben wir heute? Genau wie in Mexiko eine Regierung, die schon seit dem mittleren Tertiär an der Macht ist. Zumindest habe ich keinen anderen Regierungschef als Señor Bundeskanzler Kohl erlebt. Die Älteren erzählen, daß irgendwann mal auch ein gewisser Schmidt an der Macht war, aber ich glaube es nicht. In Mexiko gibt es auch eine Staatspartei, die PRI, die immer die Wahlen gewinnt, weil es nichts anderes zu wählen gibt oder weil die Regierung selbst die Fehler des Volkes an den Urnen mit dem Computer korrigiert. Tja, es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber in Berlin ist die Partei der sechs Buchstaben CDUSPD (oder besser gesagt CDUspd) zur Staatspartei geworden. Mensch kann es drehen und wenden wie mensch will: stimmt jemand für die CDU hat er/sie die CDUspd gewählt. Stimmt er/sie für die SPD, hat er/sie auch die CDUspd gewählt. Genau wie in Mexiko, nur da ist die Sache komischerweise transparenter: Es gibt nur drei Buchstaben.
Nun hat uns die Verschuldungskrise auch hier eingeholt. Ich kann meinen Augen und Ohren nicht mehr trauen, wenn ich sehe und höre, wie dieselben Politiker, die Berlin in die Finanzmisere gebracht haben, sich öffentlich feiern lassen, weil sie jetzt das Loch stopfen möchten. Hört mensch ihnen zu, scheint es einem, daß Außerirdische die letzten 14 Jahre lang Berlin regiert haben. Genau so ist es in Mexiko, wo jede neue Regierung Augias’ Ställe endlich zu säubern verspricht. Die Staatspartei verkauft sich in Mexiko als Herkules. Wieso die unsauberen Ställe überhaupt entstanden sind, erfahren wir nie. Genau wie in Berlin.
Und das Bündnis für Arbeit? Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich zum ersten Mal davon hörte. Ich fühlte mich wie mit der Zeitmaschine rückwärts katapultiert und glaubte, Señor López Portillo zu hören. Die Erfinder solcher Bündnisse sind nämlich Mexikaner. Ich weiß nicht mehr, wie viele Bündnisse dort vor und nach der Krise ins Leben gerufen wurden: gegen Inflation, für Arbeit, für Wachstum, für soziale Solidarität usw. Und bei solchen Bündnissen hieß es immer: Jetzt müssen die ArbeiterInnen den Gürtel enger schnallen. Was der Beitrag der Regierung und der Unternehmer war, blieb für mich immer im Dunkeln. So wie beim hiesigen Bündnis für Arbeit.
Den Rücktritt eines Politikers habe ich seit langem nicht mehr erlebt. Ich glaube, der einzige, der während meiner Zeit in Deutschland wegen politischer Fehler zurückgetreten ist, war Honecker. Das muß ich dem Mann immerhin zugute halten. Alle anderen, die heute desaparecidos geworden sind (wo ist Stoltenberg?), sind es deswegen, weil sie den größtmöglichen Frevel begangen haben: den starken Mann an der Spitze zu ärgern. So wie in Mexiko.
Ach ja, und das Fernsehen. Als ich nach Deutschland kam, gab es nur drei West-Programme. Samstags gab es immer irgendwelche historischen Rückblicke, und es war faszinierend zu beobachten, wie die deutsche Seele wöchentlich malträtiert wurde. Aber es gab immer etwas Interessantes und, ich wage es kaum zu sagen, auch Gutes. Heute haben wir eine Satellitenschüssel, die für alle MieterInnen in unserem Haus installiert wurde. Ich habe sie nicht gezählt, aber es müssen um die 2000 Programme zu sehen sein. Dramatisch ist nur, daß die heutige Qualität der deutschen Sendungen die mexikanische Seifenoper wie Werke für Intellektuelle aussehen lassen. Im Vergleich zum Glücksrad, gewissen Late-Night-Shows und wie-sie-alle-heißen mutet eine mexikanische Comedia an, als ob sie aus der Feder Balzacs entstanden wäre (übrigens: mexikanisches Fernsehen kommt auch aus der Schüssel: Programm 34).
Meine Mutter hat immer für die USA und Europa geschwärmt und uns, ihren Söhnen und Töchtern, versichert, dort gebe es keine Armen und auch keine Musikanten und Bettler im Bus. Am besten lade ich sie nicht nach Berlin ein. Sie könnte sonst in die U-Bahn geraten, und ihre vorwurfsvolle Miene kann ich mir jetzt schon vorstellen (“und dafür bist Du nach Deutschland gekommen?”).
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, sagt ein Sprichwort. In Mexiko hatte ich nie die Gelegenheit zu wählen. Nachdem ich das wahlfähige Alter erreicht hatte, gab es dort nur eine einzige Wahl, an der ich hätte teilnehmen können. Das Dumme daran war, daß es nur einen einzigen Kandidaten gab, den von der PRI. Ich habe deswegen nicht gewählt. Das war meine letzte Chance, denn seit ich hier bin, darf ich nicht wählen. Ich nehme an, daß ich irgendwann ins Rentenalter komme, ohne jemals gewählt zu haben. Aber an-dererseits, wenn ich wählen dürfte, würde ich mich vielleicht wie damals fühlen, weil es praktisch nur die Staatspartei der sechs Buchstaben zu wählen gibt. Ich bitte um Verzeihung, falls ich mich irre, aber in Deutschland hat noch keine Regierung seit 1933 die Wahlen verloren. Regierungen sind nur gefallen, weil der kleine Koalitionspartner rechtzeitig die Seite gewechselt hat (auch im Fall von Schmidt) oder weil der Krieg verloren wurde. In Mexiko hat noch keine Regierung seit 1810 die Wahlen verloren, die Regierung ist nur nach verlorenen Kriegen gewechselt worden.
So viel Gemeinsamkeit zwischen Mexiko und Deutschland kann kein Zufall sein. Ich habe lange überlegt, ob die Germanen nicht vielleicht Nachkommen des verschollenen Klans von Quetzalcoatl sind. Quetzalcoatl war blond und ist mit seinem Boot im Atlantik verschwunden. Für diese These spricht einiges. Auf Nahuatl kann man Worte aneinanderreihen und solche zusammengesetzten Worte wie “deraltemannmitdemgroßenbauch” bilden. Deutsch ist vielleicht eine im Laufe der Jahrhunderte entstandene Vereinfachung. Nur der Mangel an Zeit hat meine Nachforschungen in dieser Richtung bis heute verhindert. Der Klan des Quetzalcoatl hat zuerst den Mond verwüstet und ist dann in Mexiko erschienen. Ob das etwas für den Standort Deutschland zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Echte Kenner der kulinarischen Szene wissen von der Expansion mexikanischer Restaurants in Deutschland zu berichten. Ich sage Euch: es ist kein Zufall. Zwei Völker, eine Gesinnung!

Hunger als Waffe

Der Presse und interna­tio­nalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwie­rigkeiten die zahlreichen Militär­sperren pas­sieren können, bieten sich Schrec­kensbilder in den ins­gesamt 152 von der Armee be­setzten Ortschaften. Nur in An­sätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiter­hin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nah­rungsmittel und ausreichend Klei­dung.
Er­schöpft von der ta­gelangen Flucht, geschwächt durch Unter­ernährung und krank vom Trin­ken verschmutzten Wassers ste­hen sie vor dem Hungertod. Be­sonders die Ver­fassung alter Menschen – viele müssen von ih­ren Familienange­hörigen getra­gen werden – und von Säug­lingen ist dramatisch. Da auf­grund der Entbehrungen unzäh­lige Mütter ihre Kin­der nicht mehr stillen kön­nen, sind viele Babies ver­hungert oder er­froren. Trotzdem ziehen viele Men­schen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Er­fahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstrup­pen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massener­schießungen, Fol­terungen und Vergewalti­gungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zu­dem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besat­zungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva La­candona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterIn­nen haben in den letzten Wochen ins­gesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das glei­che Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwi­schen sind die ersten Bewohne­rInnen wieder in ihre Heimat­orte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurück­gekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch ein­mal notwendige Flucht nicht mehr durchste­hen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast ge­schlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungs­bezirk Ocosingo. Bei der Ar­meeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerIn­nen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Ge­meinde zurück­geblieben waren, sind von Regierungssoldaten verge­waltigt worden. Alle Häu­ser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Men­schen in Prado Pacayal und an­deren Orten der be­setzten Zone wurde alles Lebenswichtige ge­raubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar wer­den Mais und Bohn ge­säet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von Groß­grundbesitzerInnen wegge­schafft worden. Allein Prado Pa­cayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verlo­ren. Hühner wurden abge­schlachtet und einfach lie­gengelassen. Systematisch wur­den alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Mais­mühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Kli­nik wurde völlig ver­wüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zer­hackt und der Trink­wasser­brunnen vergiftet, Fahr­zeuge zertrümmert oder ein­fach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pa­cayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexika­nischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle über­nommen
Das, was wir Internationalen hier erle­ben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und den­noch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungs­truppen sind all­gegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee ge­filmt und numeriert.
Wenn die Männer die Fel­der bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen ver­lassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Ver­gewaltigung haben.
In vielen Orten müssen Be­wohnerInnen Zwangs­arbeit ver­richten: Die Frauen müssen für die Sol­daten kochen und die Uni­formen waschen, die Männer werden zum Straßenbau heran­gezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldo­zern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Ar­mee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynis­mus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder her­gestellt.” Die mexikanische Ar­mee hat in vielen Orten Bordelle einge­richtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Be­satzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ih­rer Töchter ge­boten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemalte­kischem Vorbild re­gierungstreue Campesinos ange­siedelt und in sogenannten Pa­trullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese be­waffneten Gruppen über­nehmen die Kontrolle und Einschüchte­rung der Bevöl­kerung. Opposi­tionelle wer­den unterdrückt, be­droht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD an­gegriffen, Er­gebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Kon­fliktzone” statt. Mit den Verbre­chen der Regie­rungs­truppen in der Selva haben diejenigen Auf­wind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung ge­legen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die ver­schiedenen Vereini­gungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufru­fen. Sie fordern die Wieder­herstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeb­lich einer Zeit des Friedens. Auf ih­ren sonntägli­chen Demonstratio­nen rufen sie offen zum Mord an Bischof Sa­muel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massen­ver­ge­wal­tigung von Ma­risa Kraxsky. Ma­risa Kraxsky ist die Koordinato­rin der Frie­dens­grup­pe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ga­naderos mit ihren To­des­schwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa sieben­hundert Fincas au­ßerhalb der Selva zu erreichen. Zu­sammen mit der Polizei wer­den Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, ge­foltert und inhaftiert. Be­sonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemil­lionäre Marianne Schimpf, Lau­rence Hudler und Felke von Knoop be­setzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherr­schende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direk­ter Frie­densgespräche zwischen Regie­rung und EZLN. Dabei sind die ver­änderten militärischen Bedin­gungen von besonderer Bedeu­tung. Die EZLN hat die Auf­nahme des Dialogs von einem Rückzug der Re­gierungstruppen auf die Positionen vom 8. Fe­bruar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde be­kannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit je­den Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Frie­densgespräche
Die EZLN er­widerte darauf, daß die militäri­sche Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wur­den nur deshalb nicht durchge­führt, um die Zivil­bevölkerung nicht noch weite­rem Terror durch die mexikani­sche Ar­mee auszusetzen. Ober­stes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrüc­ken der Regie­rungstruppen sofortige Gegenre­aktionen der EZLN herausfor­dern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebenso­wenig denkbar wie eine Kapitu­lation.
“Wenn wir uns weiter zu­rückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Auf­schrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig ange­nehm.”
Am 14. März wurde von Prä­sident Ernesto Zedillo der Rück­zug der Truppen aus den besetz­ten Orten und die Auflösung der Straßen­sperren angeordnet. Be­folgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen Beob­achterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückge­zogen haben. Patrouil­len werden nach wie vor durch­geführt. Auch gehen die Fahn­dungen, Verhöre und Ein­schüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regie­rung jede Verfol­gung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aus­setzt. Die Staatsanwalt­schaft ar­beitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechts­organisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Ge­fan­genen unter Folter zum Un­terschreiben vorgefer­tigter “Ge­ständnisse” gezwungen wur­den. Jeden­falls werden der Öf­fent­lich­keit mehrere inhaf­tierte Sub­comandantes präsen­tiert. Das kom­mentiert der Sub­comandante Marcos, der einzige Subcoman­dante der EZLN, so:

“Ich las, daß es eine Sub­comandante Elisa, einen Subco­mandante Daniel, einen Subco­mandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgen­den Be­schluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervor­bringt, werde ich in den Hunger­streik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschrie­benen, mit Gedichten von Pablo Ne­ruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen ge­würzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer

Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Me­dikamenten, Kleidung und Nah­rungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen Be­obachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhin­dern.
Insgesamt sind bisher neun­zehn

Ein Feldzug auf Wall Streets Geheiß?

Die Chase Bank gibt sich nicht der Illu­sion hin, daß die ZapatistInnen die allei­nige Ursache für den Peso-Crash vom De­zember sind. Der Zusammenbruch der mexikanischen Wirtschaft wurde durch die Überbewertung des Pesos verursacht, und dies hatte es US-InvestorInnen – wie z.B. der Chase Bank selbst – ermöglicht, mexikanische Schatzbriefe totzuspekulie­ren und dann in sichere US-Dollars anzu­legen.
Ein Jahr NAFTA – Wall Street ist verschnupft
Die gesamte US-Finanz und das Lager der PolitstrategInnen befürchten jetzt, daß eine von dem Neuling Ernesto Zedillo ge­führte mexikanische Regierung – anders als der alte Vertraute Washingtons, Ex-Präsident Carlos Salinas – ins Wanken ge­raten wird, im Konflikt mit den Zapatistas Zeit gewinnen will und versuchen wird, die Unzufriedenen im Lande zu besänfti­gen. Aber jede Art von Beschwichti­gungspolitik gegenüber einer schäumen­den Öffentlichkeit wird den InvestorInnen sicherlich nicht gefallen. Die ökonomi­sche Sicherheit, die ihnen gewährt wurde, war ein Eckpfeiler der NAFTA-Vereinba­rungen.
Für die Regierung besteht die Notwen­digkeit, mit Subcommandante Marcos und seinen GenossInnen Schluß zu machen. Die Chase Bank drückt dies so aus: “Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politi­schen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von InvestorInnen wahrgenommen”.
Die Option einer Lösung des Chiapas-Konfliktes am Verhandlungstisch wird von der Chase Bank heruntergespielt: “Es ist schwer vorstellbar, daß die gegenwär­tigen Umstände eine friedliche Lösung zulassen würden”. Zedillo wird nicht in der Lage sein, das Vertrauen der Zapa­tistInnen und ihrer AnhängerInnen zu er­langen, da “die Währungskrise alle ver­fügbaren Ressourcen für ökonomische und soziale Reformen begrenzt”. Mit an­deren Worten: Die ausländischen Investo­rInnen haben ein Vorrecht auf die schwin­denden Reserven der mexikanischen Staatskasse; für die Anti-Armut Pro­gramme, die Zedillo für Chiapas verspro­chen hatte, bleibt dann nichts mehr übrig.
Riordan Roett – ein Mann sieht Krieg
Autor des Memos, das aus der Markter­schließungsabteilung der Chase Bank stammt, ist ihr Berater Riordan Roett. Als ehemaliger Leiter der Lateinamerika-Stu­dien an der John Hopkins School of Ad­vanced International Studies, ist er beur­laubt. Roett soll besonders verbittert über die Vorfälle südlich des Rio Grande ge­wesen sein: hatte er doch leitenden Be­amten der Chase Bank versichert, daß auf Zedillo – seinem langjährigen Ge­sprächs­part­ner – Verlaß sei, wenn es um die In­teressen der ausländischen Inve­storInnen gehe. Beruhigt hatte die Chase Bank dar­aufhin ihre Investitionen in Me­xiko er­höht. Als ein riesiges Handelsdefi­zit Ze­dillo zwang, den Peso abzuwerten, er­wischte es die Chase eiskalt.
Eine harte Gangart der mexikanischen Regierung fordert Roett auch bei anderen Schwierigkeiten, die dieser Regierung ins Haus stehen. Bei den in fünf Bundesstaa­ten für dieses Jahr vorgese­henen Wahlen hat die in Mexiko regie­rende PRI nur dü­stere Aussichten. Roett schlägt vor, die PRI solle sich Wahler­folge auf anderem Wege sichern. “Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Op­position fair an den Ur­nen erzielte Wahl­siege zuläßt oder nicht.” Weiter schreibt er: “Korrekt erzielte Wahlerfolge der Op­position nicht anzuer­kennen, wäre ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strate­gie der Wahlrechtsre­form. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko ei­ner Spaltung der Partei in sich bergen.”
Roett hat in Washington an allen Lobby-Fäden gezogen, um Unterstützung für seine Politik der “verbrannten Erde” in Mexiko zu erhalten. Er forderte den Kon­greß auf, Clintons 40 Milliarden Spritze aus Geldern der Chase Bank und anderen InvestorInnen schnellstens zu bewilligen. Clinton selbst griff angesichts einer siche­ren Niederlage im Kongreß zur Präsidial­macht und drückte sein Paket ge­gen den Willen des Kongresses durch.
Roett’s Strategie ist die des Lobbyisten: Er versorgte Bob Dole, den einflußreichen Sprecher der Republikaner im Senat mit ausgewählten Informationen, sprach vor dem Richtlinienausschuß des Senats und er beriet Beamte des Außenministeriums. Am 11. Januar 1995 sprach er vor mehre­ren hundert Führungskräften aus Politik und Wirtschaft auf einem vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) organisierten Seminar.
Ein Seminar wird zum Fanfarenstoß
Bei dieser Gelegenheit soll Roett am Rande der Hysterie gewesen sein. Kunden würden ihn permanent fragen – so Roett -, warum die mexikanische Regierung die ZapatistInnen nicht unter Kontrolle be­kommt. Roett meinte, aus der Sicht der InvestorInnen sei es wichtig, das Thema Chiapas so schnell wie möglich abzuha­ken. Er räumte dabei ein, sein Aufruf zum Krieg, sollte Zedillo sich danach richten, könne negative internationale Auswirkun­gen haben. Aber bei kühnen Taten fielen immer politische Kosten an.
Die Ausführungen von Roett fanden geneigte ZuhörerInnen. Die Kolumnistin Georgie Anne Geyer schrieb wenige Tage später in einem Artikel: “Niemand auf diesem Seminar hat die mexikanische Si­tuation besser erklärt als Roett.” Die an­wesenden Fachleute und Finanzmanager­Innen – so die Kolumnistin – schienen sich einig, daß die ZapatistInnen zwar nicht für eine breite Revolte in ganz Mexiko stün­den, sie aber der entscheidende Indikator, der Lack­mustest für die Stabilität in Mexiko seien.
Dalal Baer, der Moderator der Veran­staltung, dankte Roett für seine Ausfüh­rungen und beklagte das “mexikanische Dilemma” zutiefst. Die mexikanische Re­gierung stehe unter dem Druck, daß politi­sche System öffnen zu müssen. Die Fi­nanzmärkte reagierten auf eine solche Zu­nahme der Demokratie nicht unbedingt positiv, da diese oft auch eine Zunahme an Instabilität nach sich ziehe, so Baer.
Auf dem Seminar forderte David Mal­pass, Direktor eines großen Finanzunter­nehmens, von Zedillo im Austausch für die von der US-Regierung organisierte Milliardenhilfe, eine Beruhigung der aus­ländischen InvestorInnen durch eine “gigantische Wiederherstellung des Ver­trauens”. So schlugen Malpass und andere zum Beispiel weitere Privatisierungen vor, AusländerInnen sollten auch zu 100 Pro­zent Banken besitzen dürfen. Die Öffnung der mexikanischen Ölindustrie war ein weiterer Vorschlag.
Zedillo und die Mehrheit der PRI lehn­ten die “finale” Lösung des Riordan Roett zu diesem Zeitpunkt offiziell noch ab. Ein Beamter des mexikanischen Innenministe­riums, der auch am Seminar teilnahm, be­zeichnete den Kriegsaufruf Roetts als “nicht statthaft”.
Aber mexikanischen Finanzlobbyisten dürfte es bei Roett’s Analyse wahrschein­lich warm ums Herz geworden sein. Denn am 18.Dezember des vergangenen Jahres hatten sich schon mexikanische Ge­schäftsleute mit Zedillo getroffen, um von der neuen Regierung eine Offensive in Chiapas zu fordern.

Originaltitel: “Major U.S. Bank Urges Zapatista Wipe-Out: ‘A Litmus Test for Mexico’s Stability’, in:”Counterpunch”, Vol. 2. Nr. 3 vom 1. Februar 1995.

Memo der Chase Manhattan’s Emerging Markets Group

Zusammenfassung:
Die größte Bedrohung für die politische Stabilität Mexikos ist unseres Erachtens nach die augenblickliche Finanzkrise. So- lange die Regierung von Staatspräsident Ernesto Zedillo nicht geeignete Maßnah­men ergreift, den Peso zu stabilisieren und eine unkon­trollierte Inflation zu vermei­den, wird es fast unmöglich sein, sich Themen wie Chiapas oder der Justiz- und Wahlreform zu widmen. Eine Verlänge­rung der Krise mit ihren ne­gativen Aus­wirkungen auf den allgemeinen Lebens­standard wird vielmehr Arbeitskämpfe und soziale Unzufriedenheit provozieren.
Die Regierung Zedillo
Als Zedillo am 1. Dezember 1994 das Amt des mexikanischen Präsidenten an­trat, schien dies ein neues Kapitel auf dem Weg zur Modernisierung der mexikani­schen Poli­tik einzuläuten… Der neue Prä­sident forderte eine Reform des Justiz- und Wahlrecht und eine friedliche Lösung des ein Jahr alten Aufstandes im südlichen Bundesstaat Chiapas. Er betonte, wie wichtig die Transparenz von Regierungs­geschäften und die Erziehung und Ausbil­dung der mexikanischen Bevölkerung sei. Zedillos Kabinett, das sich aus den­selben Kreisen zusammensetzt wie das seines Vorgängers Salinas de Gortari, vermittelte den Eindruck von Kompetenz und Enga­gement… ( Chronologie der Peso-Krise) … Nur wenn die Regierung erfolgreich den Peso stabilisiert, ein sprunghaftes Anstei­gen der In­flation verhindert und das Vertrauen der Investoren zurückgewinnt, wird es unserer Mei­nung nach für Zedillo möglich sein, sich der Agenda von Re­formen zu widmen, die er am 1. Dezem­ber aufgestellt hatte. Es gibt drei Felder auf denen die augenblickliche Wäh­rungskrise die politische Stabilität in Mexiko untergraben kann. Das erste ist Chiapas, das zweite sind die kommenden Wahlen in den Bundesstaaten und das dritte die Gewerk­schaften, ihr Verhältnis zur Regierung und zur PRI.
1. Chiapas
Der Aufstand im südlichen Bundesstaat Chiapas ist jetzt ein Jahr alt und offen­sichtlich ist man noch immer keiner Lö­sung näher gekommen … Zwar neigt Ze­dillo zu einer fried­lichen Lösung des Patts in Chiapas auf dem diplomatischen Weg, aber es ist schwer vor­stellbar, daß die au­genblicklichen Umstände eine friedliche Lösung zulassen. Mehr noch: je mehr die Währungskrise die Regierung in ihren Vorhaben sozio-ökonomischer Refor­men beschränkt, desto schwieriger wird es für sie werden, breite Unterstützung für ihre Vorhaben in Chiapas zu gewinnen. Noch wichtiger: Marcos und seine Anhänger könnten beschließen, die Regierung mit einem Anstieg lokal begrenzter, gewalttä­tiger Aktionen in Verlegenheit zu bringen und die Regierung zu zwingen, den zapa­tistischen Forderungen nachzugeben, die eine politische Niederlage, die sie völlig bloßstellen würde mit, sich brächte.
Die Alternative ist eine militärische Offensive zur Niederschlagung des Auf­stands. Das hätte einen internationalen Auf­schrei zur Folge: Protest gegen den Einsatz von Gewalt und die Unter­drückung indígener Rechte. Wäh­rend un­serer Meinung nach Chiapas keine funda­men­tale Bedrohung der politischen Sta­bi­li­tät in Mexiko darstellt, wird es als eben so­lche von einer Vielzahl von Inve­storen wahr­genommen.
Die Regierung wird die Zapatisten aus­schal­ten (eliminate) müssen, um zu de­mon­strie­ren, wie wirksam ihre Kon­trolle über nationales Territorium und na­tionale Sicherheit ist.
2. Wahlen in den Bundesstaaten
Präsident Zedillo bekannte sich in sei­ner Ansprache zur Amtseinführung noch einmal zur Öffnung des parlamentarischen Systems auch für Oppositionsparteien. Das war in den vergangenen Jahren eines der Hauptthemen zwischen der PRI-domi­nierten Regierung ei­nerseits und der PAN und der PRD andererseits. Der konserva­tive Flügel der PRI bezog gegen eine po­litische Liberalisierung Position, während der Flügel um Zedillo die Öff­nung als un­vermeidlich und auch gerechtfertigt be­trachtete. Die augenblickliche Wäh­rungskrise wirft die Frage auf, ob Zedillo und die Reformer die Stärke haben wer­den, die Ergebnisse der Wahlen von 1995 zu respektieren. Die Konservativen wer­den behaupten, die Krise rechtfertige eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft, selbst wenn dies nur durch Wahlbetrug möglich sei. Die Opposition, die ohnehin die Wahlsiege der PRI gene­rell anzwei­felt, … wird ermutigt werden, dies weiter zu tun. Zedillo wird vor einer schwierigen Situation stehen: Er muß die Konservati­ven seiner eigenen Partei neutralisie­ren und gleichzeitig sein Bekenntnis auf­rechterhalten, die Opposition auch gewin­nen zu lassen, wenn sie das legitim getan hat…
Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.
Korrekt erzielte Wahlerfolge der Oppo­sition nicht anzuerkennen, wäre zwar ein ernst­hafter Rückschlag in Zedillos Strate­gie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kon­trolle würde aber das Risiko ei­ner Spaltung der Partei in sich bergen.
Wir glauben, daß die Fähigkeit der Re­gierung Zedillo, die inhärenten Konflikte in der Agenda der Wahlen von 1995 zu lösen, letztendlich entscheidend sein wird. Nämlich, ob es der Regierung gelingt, ihr Versprechen zu halten, die mexikanische Politik zu liberali­sieren.
3. Die Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung war über Jahr­zehnte das Rückgrat der PRI. Die Bereit­schaft der Arbeiterführung sich nach der PRI zu richten, war ein fundamentaler Be­standteil der Stabilität in Mexiko seit den 30er Jahren. Die augenblickliche Wäh­rungskrise droht diese Unterstützung we­gen den negativen Auswirkungen auf Le­bensstandard und Löhne zu unterlaufen. Der Wertverfall des Peso macht sich für den durchschnittlichen mexikani­schen Arbeiter schon beim Erwerb der Güter für den alltäglichen Bedarf heftig bemerkbar …Die starken, strukturellen Ver­knüpfungen zwischen Regierung und Ge­werk­schaften haben sich in den letzten Jahren abgeschwächt. Die Regierung hat zwar noch Einfluß, aber keine völlige Kon­trolle mehr. Wenn sich die Krise fort­setzen sollte, wären zwei Op­tionen für die Regierung denkbar: 1. sie weist die Forde­rung der Arbeiter nach mehr Lohn zurück – mit der Möglichkeit von Demonstratio­nen oder 2. sie gibt den Forderungen der Arbeiter nach und verschärft damit die ökonomische Krisensituation.
Schlußfolgerungen
Die mexikanische Währungskrise hat das Bekenntnis der Regierung Zedillos zu einer neuen Welle von Reformen überschattet – Reformen, die politische Verhandlungen zur Lösung der Chiapas-Krise und die Garantie fairer Wahlen auf Bundesstaats- und Ge­meindeebene ein­schlossen. Offen bleibt, ob die mexikani­sche Arbeiterklasse eine länger anhaltende Periode von Lohnverlust und sinkendem Lebensstandard akzeptieren wird. Diese sozialen und politischen Fragen, die für den Präsidenten eine hohe Priorität haben, werden unvermeidlich zurückgestellt wer­den, solange bis die ökonomische Situa­tion ge­klärt ist. Solange die Regierung Zedillos unfähig ist, den Peso zu stabili­sieren und Infla­tion zu vermeiden, läuft sie Gefahr mit sozialen und politischen Unruhen konfrontiert zu werden.

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