Mexiko | Nummer 250 - April 1995

Hunger als Waffe

Eine Reportage über den “Krieg niedriger Intensität” gegen EZLN und Zivilbevölkerung in Chiapas

Seit Regierungstruppen am 9. Februar 1995 das Waffenstill­standsabkommen mit der EZLN gebrochen haben, ist die Selva Lacandona Schauplatz von Counterinsur­gency-Maßnahmen, wie sie aus El Salvador und Guatemala bekannt sind. Unter kla­rer Mißachtung der Genfer Kriegskonvention von 1948 benutzt die mexikanische Armee den Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung, um die EZLN zur Kapi­tulation zu zwingen. Im Lacandonengebiet sind offenbar die elementarsten Men­schenrechte – so LN-Mitarbeiter Frank Kreuzer in seiner Reportage aus dem Kon­fliktgebiet – außer Kraft gesetzt.

Frank Kreuzer

Der Presse und interna­tio­nalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwie­rigkeiten die zahlreichen Militär­sperren pas­sieren können, bieten sich Schrec­kensbilder in den ins­gesamt 152 von der Armee be­setzten Ortschaften. Nur in An­sätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiter­hin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nah­rungsmittel und ausreichend Klei­dung.
Er­schöpft von der ta­gelangen Flucht, geschwächt durch Unter­ernährung und krank vom Trin­ken verschmutzten Wassers ste­hen sie vor dem Hungertod. Be­sonders die Ver­fassung alter Menschen – viele müssen von ih­ren Familienange­hörigen getra­gen werden – und von Säug­lingen ist dramatisch. Da auf­grund der Entbehrungen unzäh­lige Mütter ihre Kin­der nicht mehr stillen kön­nen, sind viele Babies ver­hungert oder er­froren. Trotzdem ziehen viele Men­schen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Er­fahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstrup­pen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massener­schießungen, Fol­terungen und Vergewalti­gungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zu­dem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besat­zungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva La­candona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterIn­nen haben in den letzten Wochen ins­gesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das glei­che Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwi­schen sind die ersten Bewohne­rInnen wieder in ihre Heimat­orte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurück­gekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch ein­mal notwendige Flucht nicht mehr durchste­hen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast ge­schlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungs­bezirk Ocosingo. Bei der Ar­meeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerIn­nen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Ge­meinde zurück­geblieben waren, sind von Regierungssoldaten verge­waltigt worden. Alle Häu­ser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Men­schen in Prado Pacayal und an­deren Orten der be­setzten Zone wurde alles Lebenswichtige ge­raubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar wer­den Mais und Bohn ge­säet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von Groß­grundbesitzerInnen wegge­schafft worden. Allein Prado Pa­cayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verlo­ren. Hühner wurden abge­schlachtet und einfach lie­gengelassen. Systematisch wur­den alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Mais­mühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Kli­nik wurde völlig ver­wüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zer­hackt und der Trink­wasser­brunnen vergiftet, Fahr­zeuge zertrümmert oder ein­fach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pa­cayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexika­nischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle über­nommen
Das, was wir Internationalen hier erle­ben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und den­noch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungs­truppen sind all­gegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee ge­filmt und numeriert.
Wenn die Männer die Fel­der bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen ver­lassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Ver­gewaltigung haben.
In vielen Orten müssen Be­wohnerInnen Zwangs­arbeit ver­richten: Die Frauen müssen für die Sol­daten kochen und die Uni­formen waschen, die Männer werden zum Straßenbau heran­gezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldo­zern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Ar­mee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynis­mus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder her­gestellt.” Die mexikanische Ar­mee hat in vielen Orten Bordelle einge­richtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Be­satzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ih­rer Töchter ge­boten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemalte­kischem Vorbild re­gierungstreue Campesinos ange­siedelt und in sogenannten Pa­trullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese be­waffneten Gruppen über­nehmen die Kontrolle und Einschüchte­rung der Bevöl­kerung. Opposi­tionelle wer­den unterdrückt, be­droht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD an­gegriffen, Er­gebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Kon­fliktzone” statt. Mit den Verbre­chen der Regie­rungs­truppen in der Selva haben diejenigen Auf­wind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung ge­legen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die ver­schiedenen Vereini­gungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufru­fen. Sie fordern die Wieder­herstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeb­lich einer Zeit des Friedens. Auf ih­ren sonntägli­chen Demonstratio­nen rufen sie offen zum Mord an Bischof Sa­muel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massen­ver­ge­wal­tigung von Ma­risa Kraxsky. Ma­risa Kraxsky ist die Koordinato­rin der Frie­dens­grup­pe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ga­naderos mit ihren To­des­schwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa sieben­hundert Fincas au­ßerhalb der Selva zu erreichen. Zu­sammen mit der Polizei wer­den Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, ge­foltert und inhaftiert. Be­sonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemil­lionäre Marianne Schimpf, Lau­rence Hudler und Felke von Knoop be­setzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherr­schende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direk­ter Frie­densgespräche zwischen Regie­rung und EZLN. Dabei sind die ver­änderten militärischen Bedin­gungen von besonderer Bedeu­tung. Die EZLN hat die Auf­nahme des Dialogs von einem Rückzug der Re­gierungstruppen auf die Positionen vom 8. Fe­bruar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde be­kannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit je­den Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Frie­densgespräche
Die EZLN er­widerte darauf, daß die militäri­sche Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wur­den nur deshalb nicht durchge­führt, um die Zivil­bevölkerung nicht noch weite­rem Terror durch die mexikani­sche Ar­mee auszusetzen. Ober­stes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrüc­ken der Regie­rungstruppen sofortige Gegenre­aktionen der EZLN herausfor­dern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebenso­wenig denkbar wie eine Kapitu­lation.
“Wenn wir uns weiter zu­rückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Auf­schrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig ange­nehm.”
Am 14. März wurde von Prä­sident Ernesto Zedillo der Rück­zug der Truppen aus den besetz­ten Orten und die Auflösung der Straßen­sperren angeordnet. Be­folgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen Beob­achterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückge­zogen haben. Patrouil­len werden nach wie vor durch­geführt. Auch gehen die Fahn­dungen, Verhöre und Ein­schüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regie­rung jede Verfol­gung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aus­setzt. Die Staatsanwalt­schaft ar­beitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechts­organisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Ge­fan­genen unter Folter zum Un­terschreiben vorgefer­tigter “Ge­ständnisse” gezwungen wur­den. Jeden­falls werden der Öf­fent­lich­keit mehrere inhaf­tierte Sub­comandantes präsen­tiert. Das kom­mentiert der Sub­comandante Marcos, der einzige Subcoman­dante der EZLN, so:

“Ich las, daß es eine Sub­comandante Elisa, einen Subco­mandante Daniel, einen Subco­mandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgen­den Be­schluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervor­bringt, werde ich in den Hunger­streik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschrie­benen, mit Gedichten von Pablo Ne­ruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen ge­würzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer

Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Me­dikamenten, Kleidung und Nah­rungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen Be­obachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhin­dern.
Insgesamt sind bisher neun­zehn


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