Hunger als Waffe
Eine Reportage über den “Krieg niedriger Intensität” gegen EZLN und Zivilbevölkerung in Chiapas
Der Presse und internationalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwierigkeiten die zahlreichen Militärsperren passieren können, bieten sich Schreckensbilder in den insgesamt 152 von der Armee besetzten Ortschaften. Nur in Ansätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiterhin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nahrungsmittel und ausreichend Kleidung.
Erschöpft von der tagelangen Flucht, geschwächt durch Unterernährung und krank vom Trinken verschmutzten Wassers stehen sie vor dem Hungertod. Besonders die Verfassung alter Menschen – viele müssen von ihren Familienangehörigen getragen werden – und von Säuglingen ist dramatisch. Da aufgrund der Entbehrungen unzählige Mütter ihre Kinder nicht mehr stillen können, sind viele Babies verhungert oder erfroren. Trotzdem ziehen viele Menschen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Erfahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstruppen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massenerschießungen, Folterungen und Vergewaltigungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zudem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besatzungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva Lacandona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterInnen haben in den letzten Wochen insgesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das gleiche Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwischen sind die ersten BewohnerInnen wieder in ihre Heimatorte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurückgekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch einmal notwendige Flucht nicht mehr durchstehen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast geschlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungsbezirk Ocosingo. Bei der Armeeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerInnen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Gemeinde zurückgeblieben waren, sind von Regierungssoldaten vergewaltigt worden. Alle Häuser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Menschen in Prado Pacayal und anderen Orten der besetzten Zone wurde alles Lebenswichtige geraubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar werden Mais und Bohn gesäet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von GroßgrundbesitzerInnen weggeschafft worden. Allein Prado Pacayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verloren. Hühner wurden abgeschlachtet und einfach liegengelassen. Systematisch wurden alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Maismühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Klinik wurde völlig verwüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zerhackt und der Trinkwasserbrunnen vergiftet, Fahrzeuge zertrümmert oder einfach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pacayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexikanischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle übernommen
Das, was wir Internationalen hier erleben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und dennoch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungstruppen sind allgegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee gefilmt und numeriert.
Wenn die Männer die Felder bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen verlassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Vergewaltigung haben.
In vielen Orten müssen BewohnerInnen Zwangsarbeit verrichten: Die Frauen müssen für die Soldaten kochen und die Uniformen waschen, die Männer werden zum Straßenbau herangezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldozern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Armee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynismus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder hergestellt.” Die mexikanische Armee hat in vielen Orten Bordelle eingerichtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Besatzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ihrer Töchter geboten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemaltekischem Vorbild regierungstreue Campesinos angesiedelt und in sogenannten Patrullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese bewaffneten Gruppen übernehmen die Kontrolle und Einschüchterung der Bevölkerung. Oppositionelle werden unterdrückt, bedroht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD angegriffen, Ergebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Konfliktzone” statt. Mit den Verbrechen der Regierungstruppen in der Selva haben diejenigen Aufwind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung gelegen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die verschiedenen Vereinigungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufrufen. Sie fordern die Wiederherstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeblich einer Zeit des Friedens. Auf ihren sonntäglichen Demonstrationen rufen sie offen zum Mord an Bischof Samuel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massenvergewaltigung von Marisa Kraxsky. Marisa Kraxsky ist die Koordinatorin der Friedensgruppe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ganaderos mit ihren Todesschwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa siebenhundert Fincas außerhalb der Selva zu erreichen. Zusammen mit der Polizei werden Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, gefoltert und inhaftiert. Besonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemillionäre Marianne Schimpf, Laurence Hudler und Felke von Knoop besetzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherrschende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direkter Friedensgespräche zwischen Regierung und EZLN. Dabei sind die veränderten militärischen Bedingungen von besonderer Bedeutung. Die EZLN hat die Aufnahme des Dialogs von einem Rückzug der Regierungstruppen auf die Positionen vom 8. Februar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde bekannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit jeden Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Friedensgespräche
Die EZLN erwiderte darauf, daß die militärische Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wurden nur deshalb nicht durchgeführt, um die Zivilbevölkerung nicht noch weiterem Terror durch die mexikanische Armee auszusetzen. Oberstes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrücken der Regierungstruppen sofortige Gegenreaktionen der EZLN herausfordern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebensowenig denkbar wie eine Kapitulation.
“Wenn wir uns weiter zurückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Aufschrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig angenehm.”
Am 14. März wurde von Präsident Ernesto Zedillo der Rückzug der Truppen aus den besetzten Orten und die Auflösung der Straßensperren angeordnet. Befolgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen BeobachterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückgezogen haben. Patrouillen werden nach wie vor durchgeführt. Auch gehen die Fahndungen, Verhöre und Einschüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regierung jede Verfolgung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aussetzt. Die Staatsanwaltschaft arbeitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechtsorganisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Gefangenen unter Folter zum Unterschreiben vorgefertigter “Geständnisse” gezwungen wurden. Jedenfalls werden der Öffentlichkeit mehrere inhaftierte Subcomandantes präsentiert. Das kommentiert der Subcomandante Marcos, der einzige Subcomandante der EZLN, so:
“Ich las, daß es eine Subcomandante Elisa, einen Subcomandante Daniel, einen Subcomandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgenden Beschluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervorbringt, werde ich in den Hungerstreik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschriebenen, mit Gedichten von Pablo Neruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen gewürzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer
Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Medikamenten, Kleidung und Nahrungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen BeobachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhindern.
Insgesamt sind bisher neunzehn