Hetzjagd auf LandbesetzerInnen
Landforderungen in der Frailesca werden brutal unterdrückt
Die Kaffeeplantage Liquidambar liegt im Süden von Chiapas, etwa 100 km von der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze entfernt. Die an tausenden Kaffeebäumen reifenden Kaffeekirschen haben seit Jahrzehnten den Besitzern Millionengewinne beschert. Den während der Ernteperiode bis zu 2500 angestellten TagelöhnerInnen bleibt nach mehreren Monaten harter Arbeit meist nur das Geld für die Rückfahrt in ihre Gemeinden. Auch die Bevölkerung des Landkreises Angel Albino Corzo profitierte nie vom Reichtum der Fincabesitzer Marianne Schimpf und Laurenz Hudler.
Auf ihrer für die Bedürfnisse des Dorfes zu kleinen Anbaufläche, bauten die BewohnerInnen von Nueva Palestina Mais, Bohnen und etwas Kaffee an – zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel. Dennoch haben sie die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Verhältnisse nie aufgegeben. Denn die auf mehrere tausend Hektar geschätzten Ländereien von Liquidambar liegen im Bereich des Areals, das den Campesino-Familien rechtmäßig zusteht. Doch was Recht ist bestimmen in Chiapas nicht die Campesinos, sondern die Kaffeebarone und ihre Verbündeten – Funktionäre der Staatspartei PRI, Polizeiführer und Todesschwadrone. Das mußten die Menschen in Nueva Palestina erfahren, seit sie am 4. August 1994 gegen den Status Quo aufbegehrten. Um die Erweiterung ihrer Agrarkooperative zu erwirken, besetzten sie die Plantage Liquidambar, wenig später die Fincas Prusia, Sayula und Las Chicharras. Doch jäh endete der kurze Traum vom Leben ohne Ausbeutung. Nachdem die mexikanischen Regierungstruppen den Waffenstillstand gebrochen und die EZLN, in den Lakandonischen Urwald getrieben hatten, verstärkten die Großgrundbesitzer, deren Ländereien von Bauerngewerkschaften enteignet worden waren, den Druck auf die Regierung. Mit Erfolg: Am 28. April 1995 wurde Liquidambar von Armee- und Polizeieinheiten geräumt und Haftbefehl gegen 280 vermeintliche Mitglieder der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) erlassen. Zwar wurde bisher nur ein kleiner Teil der Haftbefehle vollstreckt, Angst und Unsicherheit liegen jedoch seit diesem Zeitpunkt wie ein schwarzer Schatten über den etwa 2000 Campesinos, die der Agrarkooperative Nueva Palestina angehören. Täglich patrouillieren Armee und von den deutschen Großgrundbesitzern bezahlte paramilitärische Gruppen – die sogenannten Weißen Garden – in den Gemeinden, in denen sich die Menschen in der UCPFV zusammengeschlossen haben.
Daß es für die Campesino-Familien keinerlei Rechtsgarantien gibt, wurde bei einem Polizeiüberfall deutlich, der sich vor genau einem Jahr ereignete und bisher ohne juristische Konsequenzen für die Verantwortlichen geblieben ist.
Blutige Weihnacht
Am 16. Dezember 1995 blokkierten Mitglieder der UCPFV die von Nueva Palestina zur Kreishauptstadt Jaltenango führende Straße, um für die Freilassung von sechs inhaftierten Campesinos ihrer Organisation zu demonstrieren. Diese Straßensperre wurde Stunden später von Polizeieinheiten geräumt und 17 Demonstranten, unter ihnen der 35jährige Reyes Penagos Martinez, festgenommen und ins Bezirksgefängnis gebracht. Dort begann für die Gefangenen ein grauenhaftes Martyrium. Sie wurden geschlagen, mit Elektroschocks und Feuerzeugen gequält, mit dem Kopf in Dreckwasser getaucht und immer wieder nach den “Anführern” ihrer Organisation ausgefragt. Nach zwei Tagen wurden die meisten Inhaftierten freigelassen – doch hat das Vorgefallene ihr Leben nachhaltig verändert. Weder die von Polizisten im Gefängnis mehrfach vergewaltigte Julieta Flores noch Martin Gomez, dem von den Gesetzeshütern ein Auge ausgebrannt wurde, werden die Erlebnisse jemals vergessen können. Immerhin konnten sie durch ihre öffentlichen Aussagen dazu beitragen, daß sich die Nationale Menschenrechtskommission Mexikos CNDHM – der sicherlich keine Parteinahme für die UCPFV vorgeworfen werden kann – mit den Vorgängen beschäftigte. Diese Möglichkeit hatte Reyes Penagos Martinez nicht mehr. Seine verstümmelte Leiche wurde nahe Nueva Palestinas aufgefunden. Im staatlichen Radio wurde verkündet, daß Reyes Penagos Martinez “bei bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Polizei” ums Leben gekommen sei.
Die CNDHM kommt in einem jüngst veröffentlichten Memorandum (Nr. 61/96) zu einem ganz anderen Ergebnis: “Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde Reyes Penagos Martinez am 18. Dezember 1995 nach seiner Festnahme, die ohne jede rechtliche Grundlage erfolgt ist, durch Polizeikräfte erschossen. Davor ist er in Polizeigewahrsam gefoltert worden. Zahlreiche Zeugenaussagen, unter anderem vom Gefängnisarzt belegen, daß Reyes Penagos Martinez ohne jegliche Verletzungen eingeliefert wurde. Bei der von der CNDHM in Auftrag gegebenen Autopsie der Leiche wurden verschiedene Brüche, Brandverletzungen im Gesicht und Folterspuren an den Extremitäten und Genitalien festgestellt. Der Tod von Reyes Penagos Martinez ist durch einen Schuß aus kurzer Distanz in den Rücken eingetreten (…) Die von Seiten der Polizei erfolgte Darstellung, daß Reyes Penagos Martinez bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sei, ist unglaubwürdig. Die vom Polizeikommandanten Francisco Hernandez Chacón präsentierte Erklärung, er habe sich die Schußverletzung selbst zugefügt, ist äußerst dubios, da die Schußentfernung entsprechend ballistischer Untersuchungen nicht mehr als 70 cm betragen haben kann.” Abschließend wird von der CNDHM die sofortige Suspendierung von acht namentlich genannten Polizisten und die Einleitung von Strafverfahren gegen sie und einen Staatsanwalt gefordert.
Statt Lehrern kommen Soldaten
Seit September 1996 hat sich die Lage im Landkreis Angel Albino Corzo – wie auch in anderen Landesteilen Mexikos – weiter verschärft. Zunächst waren es “nur” Hubschrauber und Flugzeuge der mexikanischen Luftwaffe, die mit Tiefflügen die BewohnerInnen von Nueva Palestina und benachbarten Ortschaften in Angst und Schrecken versetz-ten. Dann, am 8. Oktober 1996 kamen 300 Soldaten nach Nueva Palestina, um, wie sie sagten, “soziale Aufgaben zu erfüllen.” Auf einer Dorfversammlung wurde den Familien vom Armeekommandanten der Region VII Tuxtla und einem Funktionär des Agrarministeriums erklärt, daß die Armee dort bleiben würde und die EinwohnerInnen fortan die Anordnungen des Kom-mandanten Mario Renan Castillo Fernandez zu befolgen hätten. Andernfalls, so die unzweideutige Aussage der Staatsorgane, würden Köpfe rollen.
Die von der Regierung im Zuge besagter “sozialer Aufgaben” Mitte des Jahres zugesagten Lehrer sind bisher noch nicht eingetroffen. Auch “soziale Arbeiten” der Armee hat es keine gegeben. Entgegen den Ankündigungen sind weder ärztliche Untersuchungen noch Reparaturen elektrischer Geräte durchgeführt worden. Dafür haben die Soldaten vom Gemeindehaus neben der Schule Besitz ergriffen. Nach Angaben der UCPFV wird die Bevölkerung massiv von den Militärs eingeschüchtert. Die Soldaten würden die Frauen des Ortes belästigen und die Kinder hätten Angst auf die Straße zu gehen. Besonders der 25. Oktober ist den Menschen in Nueva Palestina im Gedächtnis geblieben. Betrunkene Soldaten und Polizisten rasten mit ihren Fahrzeugen durch den Ort und schossen wahllos in die Luft. Anschließend brachten sie Prostituierte aus Jaltenango in ihre zwischen Grundschule und Kindergarten gelegene Unterkunft. Aus all diesen Gründen protestierte die UCPFV im November mehrere Tage in der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla vor dem Regierungssitz gegen die Militärpräsenz und die alltäglichen Schikanen. Vergeblich – an der Situation in Nueva Palestina hat sich nichts geändert. Im Gegenteil. Seit dem 1. Dezember wurden weitere Militärkontingente – von 500 Soldaten ist die Rede – in die Region entsandt und im benachbarten Landkreis La Concordia stationiert, um – wie es offiziell heißt – Guerilleros aufzuspüren. Deshalb sind in der Ortschaft Queretaro Straßensperren errichtet und die BewohnerInnen nach Anführern der UCPFV verhört worden. Von staatlichen Stellen werden diese Maßnahmen mit angeblichen Waffenfunden bei zwei Campesinos begründet, die aus der Gegend stammen sollen.