Wahlchaos in Chiapas

Nach der Auszählung von 90 Prozent der abgegeben Stimmen zeichnet sich bei den Kommunalwahlen vom 4. Oktober in Chiapas ein Erfolg der regierenden PRI ab. Demnach liegt sie in 81 von 103 Landkreisen vorne. Die linksoppositionelle PRD (Partei der Demokratischen Revolution) gewann dagegen nur 17 Landkreise, während die rechtskatholische PAN (Partei der Nationalen Aktion) in fünf Landkreisen siegte, darunter auch in der Landeshauptstadt Tuxtla Gutiérrez. Bei den parallel stattfindenden Wahlen zum chiapanekischen Kongreß konnte die PRI zehn von 24 Sitzen erringen. Die scheinbar glänzende Bilanz der Regierungspartei ist allerdings das Ergebnis eines weitgehend illegitimen Wahlvorgangs, weil in vielen Regionen ein ungestörter Verlauf des Urnengangs nicht garantiert war. Die politischen Verhältnisse werden dadurch weiter destabilisiert.

Flutkatastrophe mit unabsehbaren Folgen

Bei sintflutartigen und langanhaltenden Regenfällen in der ersten Septemberhälfte wurden weite Teile von Chiapas überschwemmt. Vor allem die Pazifikküste und die daran anschließende Gebirgskordillere der Sierra Madre, aber auch Regionen im Zentrum waren betroffen. Ganze Dörfer und Kleinstädte, wie beispielsweise Motozintla, wurden von den herabstürzenden Wassermassen überschwemmt und weggespült. Der Regen setzte in den steilen Tälern der Sierra Madre außerdem Schlamm- und Gesteinslawinen in Gang, die Menschen, Gebäude und Straßen unter sich begruben. Nach Angaben der mexikanischen Hilfsorganisationen sind mindestens 500 Menschen getötet worden. Andere Quellen geben höhere Zahlen an. Die Regierung dagegen spricht von 200 Opfern. Es wird allgemein eingeschätzt, daß erst im Laufe der Bergungsarbeiten, die Wochen dauern werden, die genaue Zahl der Opfer festgestellt werden kann.
Insgesamt sind fast die Hälfte der 3,5 Millionen Einwohner von Chiapas durch die Naturkatastrophe betroffen, 400.000 davon schwer. Das Gesundheits- und Erziehungssystem ist in vielen Gemeinden zusammengebrochen. Die Preise für Lebensmittel stiegen um 200 Prozent. Viele Dörfer mußten wochenlang mit Helikoptern versorgt werden, weil sie von der Außenwelt abgeschnitten waren. Einige Gemeinden erreichte tagelang keine Hilfe. Die Ernten sind im Katastrophengebiet weitgehend vernichtet worden. Vor allem die Kaffeeproduktion, die zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in Chiapas zählt, ist betroffen. Experten gehen davon aus, daß es Jahre dauern wird, bis Infrastruktur und Gebäude wieder hergestellt sein werden. Die sozialen Folgen sind im ärmsten mexikanischen Bundesstaat dagegen unabsehbar.
Die Naturkatastrophe traf den Bundesstaat mitten in der heißen Wahlkampfphase. Nachdem sich die Ausmaße der Verwüstungen abzeichneten, forderte die oppositionelle PRD die Verschiebung der Wahlen auf Dezember. Manuel López Obrador, mexikanischer Parteivorsitzender, erklärte: „Es gibt keine Bedingungen für Wahlen. Man kann keine Wahlen mitten in einer Tragödie durchführen.“ Mit dieser Forderung blieb er nicht allein. Sowohl die katholischen Bischöfe des Bundesstaates als auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen schlossen sich seiner Argumentation an. Zuerst sollten alle Kräfte auf die Hilfeleistung konzentriert werden, erst dann sei an die Abhaltung der Wahlen zu denken. Außerdem gaben sie zu bedenken, daß allein infrastrukturell in vielen Landkreisen keine Bedingungen für den Urnengang existierten.

Hilfe nur für ParteibuchträgerInnen

Doch die PRI blieb mit der Rückendeckung von Präsident Ernesto Zedillo bei der Durchführung der Wahlen am dafür vorgesehenen Termin. Nur aufgrund offensichtlicher technischer Unmöglichkeit in den drei am stärksten betroffenen Landkreisen – Tonalá, Huixtla und Motozintla – wurde hier darauf verzichtet. Ansonsten setzte die Staatspartei ihren klientelistischen Apparat in Gang und begann, die staatlichen Hilfsgüter über ihre Parteistrukturen und die örtlichen Kandidaten an die Katastrophenopfer zu verteilen. Dabei begünstigte sie systematisch ihre Anhänger und verweigerte den Parteigängern der Opposition die Hilfe. An anderer Stelle wurden die Hilfsgüter nur unter der Bedingung ausgehändigt, daß die Empfänger in Zukunft wieder PRI wählen. Teilweise wurde Hilfe in Regionen verteilt, die gar nicht betroffen waren, dafür aber PRI-Hochburgen sind. Zum Beispiel sollen Güter, die für das zerstörte Pijijiapan bestimmt waren, von PRI-Kandidaten in Frontera Hidalgo verteilt worden sein.
Die PRD protestierte energisch gegen die Praxis der PRI-Funktionäre, die freilich überall in Mexiko gebräuchlich ist. Schließlich stellte die Oppositionspartei ihre Wahlkampagne weitgehend ein. Kurz vor der Abstimmung erklärte López Obrador dann resigniert: „Wir nehmen teil, weil uns nichts anderes übrigbleibt und wir der PRI nicht das Feld überlassen wollen.“ Die PAN schloß sich den Anschuldigungen an und änderte ihre Wahlkampfparole in: „Nimm’ an, was sie Dir geben – und wähle PAN“. Die Kommandantur der EZLN reagierte mit einem Kommuniqué: „Die Führung der PRI in Chiapas und die Landesregierung rauben die humanitäre Hilfe, die für die Opfer der Katastrophe in der Sierra und der Küste bestimmt ist.“ Und weiter: „Die Ausmaße der Tragödie, die durch die starken Regenfälle ausgelöst wurden, sind nicht nur das Ergebnis eines metereologischen Phänomens, sondern verschärfen sich durch die Inkompetenz und Korruption der Regierung.“ Präsident Zedillo sah sich schließlich bei einem Besuch im Katastrophengebiet genötigt, auf die Anschuldigungen zu reagieren und erklärte, daß die Regierung dafür garantiere, daß die humanitäre Hilfe nicht zu politschen Zwecken eingesetzt würde.
Um die Erklärung des Präsidenten zu kontrollieren und aufgrund des Mißtrauens in die Behörden, bildeten sich spontan Brigaden von aufgebrachten BürgerInnen, die die Transporte in die überschwemmten Gebiete begleiteten. Sie wollten sicherstellen, daß die Hilfe die Opfer und nicht die PRI-Klientel erreichte. Tausende von Freiwilligen beteiligten sich auch am Sammeln von Hilfsgütern. Vor allem die LehrerInnengewerkschaft SNTE spielte eine wichtige Rolle bei der Selbstorganisierung von Hilfeleistungen. Dabei wiederholte sich ein Phänomen, das auch bei anderen Naturkatastrophen in Mexiko zu beobachten war: Die spontan agierenden Menschen entwickelten ein effizientes Netzwerk der Hilfeleistung, während sich staatliche Behörden durch Desorganisation und Inkompetenz auswiesen.

Wahlen im Angesicht von Gewehrläufen

Doch nicht nur die Naturkatastrophe und ihre Folgen machten einen normalen Urnengang unmöglich. In mindestens 30 der 111 Landkreise waren nach Ansicht von Beobachtern aufgrund von Militarisierung und der Aktivität paramilitärischer Gruppen die Wahlen von vornherein nicht durchführbar. Die Regierung nutzte dabei die Katastrophe, um weitere Regionen zu militarisieren. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden 8.000 Soldaten für Hilfe eingesetzt, 2.000 davon wurden dazu aus den Konfliktgebieten in der Selva Lacandona, dem Norden und der Region Los Altos abgezogen. 63.000 bleiben dort stationiert. Jetzt sind nur noch zwei Regionen in Chiapas nicht militarisiert.
Die Durchführung der Wahlen war unter anderem eine Strategie, um zu versuchen, die politische Kontrolle wieder aufzurichten. Im Windschatten der PRI-Kampagne und unter der Protektion des Militärs wurden paramilitärische Gruppen gestärkt. In den Konfliktzonen koordinierten vielerorts die Führer paramilitärischer Gruppen die Wahlkampagne der PRI. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Norberto Santiz López, PRI-Abgeordneter und Schirmherr des MIRA (Antizapatistische Revolutionäre Indígena-Bewegung). So sollte den Zapatistas Territorium abgewonnen werden. Der Wahlkampf führte auf diese Weise die Politik von Integration und Repression fort, mit der die PRI den Zapatismus bekämpft. Einerseits wurden Hilfsgüter verteilt, andererseits wurden die Paramilitärs aufgewertet, die in Verbindung mit Armee und Polizei seit Beginn des Jahres etwa 60 Menschen, meist Sympathisanten der EZLN, ermordet haben und für 20.000 Vertriebene mitverantwortlich sind.
Wie schon bei den Kommunalwahlen im Oktober 1995 organisierte die EZLN einen Wahlboykott, wobei sie die Installation von Wahllokalen in ihrem Einflußgebiet allerdings nicht verhinderte. Die EZLN argumentierte, daß unter den gegebenen Umständen der Militarisierung keine freien Wahlen möglich seien. Auch Arturo Luna, der PRD-Repräsentant vor der Wahlbehörde, schloß sich dem Urteil der Zapatisten an: „Es bestehen nicht die notwendigsten Voraussetzungen für Wahlen in dieser Zone. Es gibt keine Voraussetzungen, wenn Krieg ist. Und hier ist Krieg. Es ist nicht leicht, die Indígenas zum Wählen aufzufordern, wenn ihr Gebiet militärisch besetzt ist und außerdem Paramilitärs agieren.“ Seine Partei stellte daher in den fünf Landkreisen El Bosque, Larrainzar, Chenalhó, Chalchiuitán und Chamula keine Kandidaten auf.
Wie bereits 1995 folgten dem Boykottaufruf der EZLN ein großer Teil der Bevölkerung. Insgesamt gaben nur etwa 40 Prozent der 1,7 Millionen Wahlberechtigten den Stimmzettel ab. In der Selva Lacandona, der stärksten Zapatisten-Hochburg, nahmen nur 14 Prozent an den Wahlen teil, obwohl PRI-Funktionäre Medizin, Lebensmittel und Kleidung für die Stimmabgabe verschenkten. Nach dem Boykott 1995 gründete die EZLN in den Gebieten mit ihrem stärksten Einfluß die „autonomen Landkreise“, die sich bis heute immer weiter ausgebreitet haben. Hier ersetzen von den zapatistischen Sympathisanten aufgebaute Parallelstrukturen die staatliche Verwaltung. Es ist wahrscheinlich, daß die EZLN dieser Strategie weiter folgen wird. Insofern ist das Wahlergebnis letztlich relativ unwichtig, zumindest in den zapatistischen Einflußgebieten.
Nach den Wahlen sprachen Vertreter von Global Exchange und Amnesty International, die die Wahlen beobachteten, von „vielen Irregularitäten“ und „fehlenden Voraussetzungen“. Die PRD fordert die Annullierung der Wahl und eine Wiederholung Anfang nächsten Jahres. Möglicherweise wird eine konstitutionelle Krise, die sich die PRI selbst zuzuschreiben hat, Neuwahlen beschleunigen. Damit der chiapanekische Kongreß zusammentreten kann, hätten mindesten 21 Abgeordnete, die Hälfte aller Mandate, direkt gewählt werden müssen. Da aber in drei Landkreisen aufgrund der Katastrophe nicht gewählt wurde und in San Juan Chamula aufgrund einer Blockade von PRI-Anhängern, die gegen ihre eigenen Parteifreunde protestierten, auch keine Wahlen durchgeführt werden konnten, sind nur 20 Abgeordneten gewählt worden.

“Vorbereitung auf den Volksaufstand”

In der ersten Augustwoche erklärten zwei Comandantes der ERPI in einem mehrere Stunden dauernden Pressegespräch in einer geheimen Wohnung im bekannten Urlaubsort Acapulco (Guerrero), die Ursprünge, Positionen und Ziele ihrer Organisation. Die ERPI repräsentiere die gesamte ehemalige Struktur der EPR im Bundesstaate Guerrero (laut Informationen des militärischen Geheimdienstes etwa 60 Prozent der Gesamtstrukturen der EPR), so die Aufständischen Comandantes Antonio und Santiago. „Während der letzten zwei Jahre unterscheiden sich die Standpunkte der Einheiten in Guerrero immer mehr von denen des Zentralkomitees. „Die Ereignisse zwingen uns dazu, uns schon als eigenständige Kraft zu definieren, mit einer eigenen militärischen Kraft und eigenem politischen Programm und Zielen.“ Die ERPI-Comandantes nennen drei wesentliche Unterschiede zur EPR.

“Sozialismus mit menschlichem Antlitz”

Im Gegensatz zu der den Wahlen wenig Bedeutung beimessenden EPR sieht die abgespaltene Struktur eine Radikalisierung der Bevölkerung während des Wahlprozesses und ein neuentstehendes politisches Bewußtsein durch den Cardenismus (eine nicht nur auf den PRD-Kandidaten bezogene breite politische Strömung). „Wir sahen die Möglichkeit des Wachstums für unsere Organisation und verstanden, daß die Wahlbewegung ein Ausdruck des Kampfes der Bevölkerung ist, und unsere Rolle nicht nur die eines kritischen Beobachters sein kann, sondern wir daran teilnehmen müssen“, so Comandante Antonio. Des weiteren wolle die ERPI die „bewaffnete Selbstverteidigung auf Wunsch der Gemeinden entwickeln, als Antwort auf die Angriffe, die durch Armee, Polizei, Kaziken und ihre Pistoleros erfolgen“. Die Aktionen der EPR hätten hingegen nicht auf den Notwendigkeiten der Dorfgemeinschaften basiert, sondern auf „landesweiten konjunkturellen Ereignissen“. Die ERPI definiere sich als „Armee des Volkes und nicht irgendeiner Partei, wir tun nur das, was die örtliche Bevölkerung mehrheitlich von uns verlangt“, so die Comandantes.
Das Ziel sei ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, basierend auf der Idee der „Volksmacht“ (Poder Popular). Der dritte wesentliche Unterschied sei strategischen Charakters. Während die EPR ausschließlich die Linie des „verlängerten Volkskrieges“ verfolge, wolle sich die ERPI auf einen möglichen Volksaufstand nach den Wahlen im Jahr 2000 vorbereiten. Damit nimmt die Organisation Bezug auf die Wahlen im Jahr 1988, bei denen ein Wahlbetrug der PRI, der dem damals unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Cuauhtémoc Cárdenas wahrscheinlich den Sieg kostete, zu Aufständen und bewaffneten Zwischenfällen in verschiedenen Bundesstaaten führte, weil Bauern zeitweise zu den Waffen griffen, um die Wahlergebnisse in ihren Gemeinden zu verteidigen.
Bezüglich des Massakers durch die Armee in El Charco verkünden die beiden Comandantes, die ERPI habe dort eine Versammlung abgehalten, „um von den Bedürfnissen und Vorhaben der Bevölkerung zu erfahren“. Die Organisation habe sich in einer Phase der „stillen Arbeit“ befunden und „so wären wir auch fortgefahren, hätte es das Massaker nicht gegeben“. Über die Geschehnisse in El Charco habe die ERPI eigene Ermittlungen durchgeführt und sowohl den „für den Verrat Verantwortlichen“, eine Person außerhalb der Gemeinde, wie auch den General an der Spitze der Militäroperation identifiziert. Sie „garantiere, daß diese – trotz Schutz durch die Armee – bestraft werden“.
Auf die von verschiedenen Medien vermutete Nähe zur EZLN angesprochen, erklärt Comandante Antonio, es bestünden keinerlei Verbindungen, und während die Zapatisten im Wesentlichen eine politische Antwort geben würden, führen sie Selbstverteidigungsaktionen durch. Doch der Beitrag der EZLN im politischen Sinne sei sehr wichtig gewesen und „es könne von einer Annäherung gesprochen werden, was Losungen betreffe wie ‘gehorchend befehlen’ oder ‘für alle alles, für uns nichts“. Außerdem würde die ERPI die Initiative der EZLN, eine Volksabstimmung über die Rechte der indianischen Gemeinschaften durchzuführen, ausdrücklich begrüßen. Sie sei ein „Vorbild für die Demokratie im Lande“ und werde daher in den Einflußgebieten der ERPI unterstützt. „Wir denken, daß die Abkommen von San Andrés die legitimen Bestrebungen der Bevölkerung darstellen und im besonderen die der indianischen Gemeinschaften des Landes, die sich die Regierung weigert zu erfüllen“.

In der Tradition von Lucio Cabañas

Der Bundesstaat Guerrero, in dem die ERPI operiert, blickt auf eine lange Guerillatradition zurück. Bereits 1963 führte der Landschullehrer Genaro Vázquez Rojas eine Gruppe zur bewaffneten Selbstverteidigung an, nachdem er den Versuch unternommen hatte, sich bei den Wahlen in Guerrero aufzustellen und nur Repression erfuhr. Die Gruppe wurde in die Berge gedrängt und 1972 zerschlagen. Vázquez Rojas stirbt dabei. 1967 greift in Folge eines Massakers in Atoyac Lucio Cabañas, ebenfalls Landschullehrer, zu den Waffen und gründet die „Hinrichtungsbrigade der Partei der Armen“, die auf breite Unterstützung unter den Armen zählen kann. Er fällt 1974 im Kampf, als die Gruppe von Sicherheitskräften weitgehend aufgerieben wird. Im Laufe der Aufstandsbekämpfung in der Region werden schwere Menschenrechtsverletzungen begangen und über 500 Personen „verschwanden“, viele sollen über dem offenen Meer aus Hubschraubern herausgeworfen worden sein.
Das Massaker von Tlatelolco an StudentInnen im Vorfeld der Olympiade 1968 galt für viele AktivistInnen der städtischen sozialen Bewegungen als Zeichen für die Unmöglichkeit eines unbewaffneten politischen Kampfes. Der Weg einer offenen Oppositionspolitik schien durch die gewalttätige Reaktion der PRI-Regierung versperrt. Es entstanden verschiedene – jedoch kleine – bewaffnete Gruppen in den Städten Mexikos, die in den folgenden zehn Jahren zerschlagen wurden.
Das Kapitel bewaffneter Kampf schien damit für die Regierung, wie für die Linke abgeschlossen zu sein. In den letzten Jahren ist allerdings deutlich geworden, daß die Zerschlagung nur scheinbar war. So wie die EZLN aus der kleinen Gruppe der Fuerzas de Liberación Nacional (FLN) hervorging, die jahrelang in der Klandestinität Aufbauarbeit leistete, so handelte es sich bei der EPR um einen Zusammenschluß verschiedener Gruppen, die aus den Resten der Bewegungen der 60er und 70er Jahre hervorgingen. Hinzu stoßen in den 90ern weitere Gruppen, die jahrzehntelang Organisationsarbeit leisteten und einen günstigen Zeitpunkt zum Handeln abwarteten. Die Arbeit wurde bewußt geheim gehalten und die Parole ausgegeben, sich keinesfalls zu Banküberfällen, Entführungen oder anderen Finanzierungsaktionen zu bekennen.

Aguas Blancas und die Folgen

Nach der EZLN (1.1.1994) tritt als nächste Guerilla die EPR am 28. Juni 1996 in Aguas Blancas (Guerrero) in Erscheinung. Bei einem Gedenkakt für das ein Jahr vorher am gleichen Ort an 17 Mitgliedern der OCSS, der Bauernorganisation der südlichen Sierra, durch die Polizei verübte Massaker, steigt ein bewaffnetes Kommando auf die Bühne und verkündet das Manifest von Aguas Blancas. Darin heißt es, die antidemokratische Regierung müsse gestürzt und die Souveränität der Bevölkerung sowie die fundamentalen Menschenrechte zurückerobert werden, die Forderungen und Bedürfnisse des Volkes müßten erfüllt und die der Verantwortlichen für die politische Unterdrückung, Repression, Korruption und Elend der Bevölkerung bestraft werden. Nur wenige Stunden später findet bei Zumpango del Río, über 100 Kilometer entfernt, ein Gefecht zwischen EPR und Polizei statt. Am 7. August 1996 begleitet die EPR einige Journalisten an einen Ort der Sierra Madre Oriental und verkündet die Existenz der Demokratisch-Revolutionären Volkspartei, PDPR. Die PDPR und die EPR seien das Resultat der Einheit verschiedener bewaffneter revolutionärer Organisationen, die während der letzten 30 Jahre entstanden sind. Etwa zwei Wochen später berichten EPR-Comandantes einer Reporterin in einem Sicherheitshaus in Mexiko-Stadt, daß sie in den zwei Monaten insgesamt 59 Tote und Verletzte bei Militär und Polizei verursacht und Arbeiter- und Volksmilizen im Gebiet des Tals von Mexiko gegründet haben.
Die EPR operiert in mindestens acht der 16 Bundesstaaten Mexikos. Die Erklärung für den Griff zu den Waffen ist die gleiche wie bei der EZLN: Sie sehen sich einem System gegenüber, das keine demokratischen Optionen mehr bietet und gleichzeitig wirtschaftlich und sozial immer größere Teile der Bevölkerung ausgrenzt. Doch der Diskurs der EPR ist in den ersten zwei Jahren sehr hart und lehnt sich an die traditionellen marxistisch-leninistischen Guerillas der 60er und 70er Jahre an. Stets auf Distanz bedacht tauschen EPR und EZLN kleine verbale Spitzen aus. So verkündet die EPR etwa im Hinblick auf Marcos Kommuniqués, man könne „einen Krieg nicht mit Gedichten gewinnen“. Doch die internen Diskussionen scheinen die EPR zu verändern, und ab Mitte 1997 ist eine Wende zu beobachten. Zu den Wahlen in Mexiko-Stadt verkündet die Guerilla einen Waffenstillstand, „um den Wahlprozess nicht zu beeinflussen“ und akzeptiert in einem nachfolgenden Kommuniqué den Weg der Wahlen ebenfalls als „einen Teil des Kampfes um Veränderung“, wenn auch nicht als „ihren Weg“. Die nachfolgenden Erklärungen sind deutlich zurückhaltender und moderater formuliert, verwenden eine Sprache mit Vergleichen aus der Natur und enthalten sogar Nahuatl-Gedichte.
In weiten Teilen der Welt noch als Urlaubsort gepriesen, bezeichnen hohe Ränge des Militärs Mexiko als ein Land im Kriegszustand. Die Flecken auf der Landkarte, die als „Spezialgebiete“ bezeichnet werden und zu denen BesucherInnen mit Touristenvisum keinen Zutritt haben (obwohl das Visum berechtigt, die „gesamte Republik“ zu besuchen und die Sonderzonen offiziell nicht existieren), breiten sich aus.
Die Streitkräfte machen mittlerweile den zweitgrößten Haushaltsposten aus und die Militärausgaben übersteigen jene für Landwirtschaft oder Gesundheitswesen. Mittlerweile sind alle südlichen Bundesstaaten und einige des Zentrums und Nordens Mexikos militarisiert und vor allem im Süden hat der intensive Aufbau paramilitärischer Verbände begonnen

Weitere Guerillas im Wartestand

Laut dem militärischen Geheimdienst der USA existieren 37 Guerillaorganisationen, die in 12 Bundesstaaten Mexikos operieren, laut anderen Quellen sollen es bis zu 300 sein. Doch die Zahlenspielereien sind müßig, da einige Gruppen verschwindend klein sind, während andere wiederum über eine breite Basis verfügen. Außerdem werden auch zunehmend mehr der traditionell zur Selbstverteidigung bewaffneten Bauernorganisationen in die Klandestinität gedrängt und verwandeln sich so langsam in Guerillagruppen.
Allein während der Amtszeit des vorhergehenden Präsidenten Salinas fielen über 300 AktivistInnen sozialer Bewegungen und politischer Organisationen der Repression zum Opfer. Seit Amtsantritt von Ernesto Zedillo im Jahr 1995 ist die Zahl weiter gestiegen.
Diese Erfahrungen, zusammen mit den Ergebnissen der Friedensprozesse in El Salvador oder Guatemala, führen bei vielen zu einer Haltung, wie sie der EZLN-Subcomandante Marcos einmal formulierte: „Die Waffen sind erst das Mittel, mit dem wir etwas fordern und dann das Mittel, mit dem wir es verteidigen werden. Aber keiner der Genossen hat die Vorstellung, die Waffen abzugeben solange er noch lebt. Abgeben! Benutzen ist etwas anderes. Wir sind bereit sie nicht zu benutzen, eine Zeit lang, für immer, aber niemals abgeben. Eines haben wir klar: in dem Moment, in dem die Waffen abgegeben werden, ist alles vorbei. Niemand wird irgend etwas akzeptieren. Niemand. Noch viel weniger im Tausch für einen Stapel Papiere.“

KASTEN:
Eine arme Guerilla sind sie nicht. Die EPR (Ejército Popular Revolucionario), sowie die ERPI (Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente) beziehen laut glaubwürdiger Presseberichte ihre Einkünfte aus Entführungen und Spenden. So sollen sie sich durch die Entführungen von Alfredo Harp Helú, dem Chef der Banamex (Banco Nacional de México), sowie von Angel Losada, dem Besitzer der Kaufhauskette Gigante im März und April 1994 finanziert haben. Die Lösegelder für diese beiden beliefen sich auf 40 US-Millionen Dollar.
Der Großteil des Geldes wird in die Bewaffnung der Organisation investiert. Ihre ökonomische Kapazität erlaubt ihnen, eine Militärstruktur aufzubauen, die unter anderem eine Waffenfabrik und einen Spionageapparat für die nationale Sicherheit der Guerilla umfaßt. Viele Waffen beziehen sie vom Schwarzmarkt, darunter Maschinenpistolen, Handgranaten, kurzkalibrige Waffen wie Browning, Magnum 357, sowie Waffen mit Infrarotausrüstung. Die Frauen in der EPR und der ERPI sind in den Bereichen Gesundheit, Sabotage, Propaganda, Information und Kriegsindustrie tätig. Hinzu kommt eine Gruppe von Mitgliedern, die sich auf die Spionage in Regierungskreisen spezialisiert hat. Diese Gruppe entdeckte, daß die CIA seit Dezember 1997 führende Köpfe von Polizei und Militär zu Paramilitärs ausbildet, um sie auf die Zerschlagung der Guerilla vorzubereiten. I.R.

„Stärkung der kommunitären Organisation“

Was ist die COMDDH, wieviele seid Ihr?

Die Organisation besteht in der jetzigen Form seit 1992. Wir sind maestros indígenas, Lehrer aus den ländlichen Indígena-Gemeinden. Auf den Bundesstaat Oaxaca verteilt, gibt es etwa 60 aktive Personen in sieben Regionen.

Worin besteht Eure Arbeit?

Unser hauptsächliches Engagement sind soziale Projekte wie Fortbildung der Campesinos/as, der Aufbau von Alternativen, die zu Selbstversorgung und Autonomie führen sollen. Arbeiten in dieser Richtung finden bereits seit etwa 20 Jahren auf Gemeindebasis statt. Ein weiteres Feld ist jedoch auch die Aufklärung von Morden, zum Beispiel an Lehrern, von Fällen von Verschwundenen etc.

Wie sieht es konkret in den Indígena-Gemeinden aus, in denen Ihr aktiv seid?

Diese Region ist bi- bzw. monolingual, mit so gut wie keiner Infrastruktur – völlig abgelegen. Unsere Hauptanstrengung dort gilt der Stärkung der kommunitären Organisation, der Bewahrung und Wiederbelebung der traditionellen Werte, des kulturellen Erbes, der Wiedererlangung von Würde und Identität. Die Generation der Alten spielt hierbei eine wichtige Rolle, als Bewahrer der Wurzeln, die der Jugend teilweise erst wieder zugänglich gemacht werden müssen.

Wie ist es genauer um die Situation der Jugendlichen bestellt?

Die Indígena-Gemeinden sind in den 90er Jahren natürlich mit der umfassenderen Gesellschaft verknüpft – politisch wie ökonomisch – wenn auch nicht als gleichwertig integriert. Speziell die Jugendlichen spüren den Einfluß der urbanen Welt. Sie wachsen praktisch in zwei Gesellschaften auf und sind sich dessen sehr wohl bewußt, dennoch bleibt die Situation des Kulturschocks nicht aus.

Nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der Massenmedien…

Genau so ist es. Die Massenmedien entwerfen ein Bild von unseren Gemeinschaften als eine Art einheitliche Welt, dabei ist jede einzelne Comunidad ein individueller, spezifischer Kosmos für sich.

Wie versucht ihr, dieser zwiespältigen Realität in Euren Projekten gerecht zu werden?

Wir sehen es als wichtig und grundlegend an, die Sensibilität für die Rückkopplung zwischen Jungen und Alten zu fördern. Eines der Hauptziele unserer Projekte ist, diese zwei Welten im Clinch einander näherzubringen. Die Alten sind die „Professionalisten“ in den Angelegenheiten der traditionellen Kultur, die Sabios, die „Wissenden“. So arbeiten wir zum einen mit ihnen, mit der Zielsetzung, die kulturellen Aspekte, wie etwa die mündlichen Überlieferungen, das traditionelle medizinische Wissen, zu retten. Über Projekte etwa der Alternativ-Medizin kann man auch die Jüngeren einbinden, zum Beispiel beim Anlegen botanischer Gärten, wobei die Alten dann ihr Wissen beisteuern. Wir haben in den Dörfern praktisch zwei verschiedene Denkweisen. Für die Jüngeren ist es nicht leicht abzuwarten, bis sich etwas ändert, es ist für sie schwierig, die Langsamkeit der anderen Generation zu begreifen. Mit den Jahren ändert sich der Rhythmus natürlich, die Leute, die früher meine Schüler waren, sind mittlerweile selbst Eltern von Schulkindern …

Hast Du fortbestehende Kontakte zu Deinem Heimatdorf?

Als ich damals wegging, in die Hauptstadt Oaxaca, haben viele gedacht, ich entferne mich auch innerlich und interessiere mich nicht mehr für ihre Belange. Die Leute achten mein jetziges Engagement – ich habe sie nicht verlassen. Ich zeige ihnen – und was dabei wichtig ist, sind Taten, nicht Worte – was ihre Kultur wert ist, die Erde, die Sprache, die traditionellen Bräuche. Dies ist fundamental für ihr Selbstbewußtsein.

„La tierra“ – die Erde – wie gravierend ist die Landproblematik?

Eben das ist unser fundamentales Problem. Die Erde ist für die Leute in den Comunidades alles, sie hat spirituelle Substanz und Bedeutung, ist mit der Kosmologie und Weltanschauung verbunden. Den Leuten die Erde wegzunehmen ist das Ende für die Comunidades, gleichbedeutend mit Mord, mit Auslöschung.

Um auf die Menschenrechte zukommen: gibt es in der Mixe-Region konkrete Konfrontationen mit dem Militär?

Auch das ist ein sehr problematischer Aspekt. Wir hatten, beginnend im Januar 1994, mehrere Male Übergriffe der Streitkräfte, speziell im Landkreis San José Paraíso. Es kam zu Übergriffen und Belästigungen gegenüber der Bevölkerung. Der Vorwand war, es gebe dort Kontakte zur EZLN oder EPR, bis hin zu einem Waffenlager und einem Trainingsplatz. Es geht um die Unterdrückung der sozialen Bewegungen, die sofort als focos rojos, roze Keimzellen eingestuft werden. Als Folge dieser Ereignisse kam es zu einer administrativen Umstrukturierung, die Gemeinde verlor den Status als Municipio und untersteht jetzt der Verwaltung von Tehuantepec.

Das hört sich nach Interessenkonflikt an …

Es ist so, daß die gesamte Region seit etwa den 40er Jahren von Kaziken kontrolliert wird, die Kaffee anbauen, mit den bekannten Mechanismen der Unterdrückung. Es handelt sich um einen Auswuchs der allgemeinen politischen Dekadenz. Durch die administrative Unterordnung von San José an Tehuantepec verstärkt sich die geographische, regionale Isolierung noch mehr.

Ist das nicht vielleicht auch eine Art Chance zur Autonomie für die sozialen Projekte – ich denke da etwa an Tepoztlan …?

Das ist möglicherweise ein Aspekt. Es ist so, daß sich für diese abgelegene Region einfach niemand interessiert, es kümmert sich keiner um die Anliegen der Bevölkerung.

Wie ist Deine allgemeine Einschätzung der Menschenrechtssituation in Oaxaca?

Die momentane Situation ist Ausdruck der gesamten Problematik der sozio-ökonomischen Krise des Landes. Es gibt in Mexiko keine soziale Kontrolle mehr, und es herrscht auf verschiedenen Ebenen der Regierung Angst. Die „Lösung“ ist bislang, jeden Versuch, sich von der Kontrolle durch den caciquismo zu befreien, pauschal zu unterdrücken. Es handelt sich bei der Gewalt gegen die Campesinos um die verlängerte Unterdrückung seit der Conquista, um die Marginalisierung und Unterwerfung der Indígena-Gemeinden unter die Interessen „der Anderen“. Die Regierung versucht, die Kontrolle aufrechtzuerhalten mittels Korruption und Stimmenkauf. Die Stimmen sind sehr wichtig für die PRI, auch wenn die Region dünn besiedelt ist, so fallen sie doch ins Gewicht. Der Staat hat Angst, da er die politisch-ökonomischen Felle dahinschwimmen sieht, nicht nur was die Stimmen angeht, sondern auch die materiellen Ressourcen.
In San José herrscht eine massive Angst vor selektiven Festnahmen – einer der Praktiken des Krieges niederer Intensität. Vor einigen Jahren etwa tauchte ein Brigadegeneral, Sr. Guillermo Galvan Galvan der 29. Zona Militar (Veracruz, Minantla) unvermittelt in San José auf und inspizierte dort herum, was in einer Schwarzen Liste mit den Namen von Lehrern, den Dorfälteren und weiteren verdächtigen Personen resultierte.

Was macht Eure Organisation in so einem Fall?

Obwohl wir uns natürlich um solche Situationen kümmern, hat unsere Organisation damals nichts über das Thema in Umlauf gebracht, vor dem Hintergrund, daß die Gemeinde zu dieser Zeit im Dialog mit der Regierung (von Oaxaca) stand, um die ebenfalls offene Frage der Vorwürfe im Zusammenhang mit der EPR zu klären: Gibt es Waffendepots, Trainingscamps oder nicht … Eine Angelegenheit, deren Klärung sowohl für die Comunidades wie für die Regierung äußerst wichtig ist, als Beweis für die Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit. Deshalb hielten wir uns mit Veröffentlichungen zurück.

Wie siehst Du die Stimmung in den Comunidades angesichts der Aktionen der EZLN und EPR – werden sie als eher kontraproduktiv oder als bestärkend für das Selbstbewußtsein erfahren?

Die Dorfgremien schätzen die Aktionen der aufständischen Gruppen und Comunidades tendenziell positiv ein. Es entsteht in wachsendem Maße eine quantitativ wie qualitativ andere Einstellung bezüglich der herrschenden Verhältnisse, eine besseres Verständnis dessen, was vorgeht.

„Gewalt ist ihrer Definition gemäß ein krimineller Akt“

Ausgehend von den Schilderungen eines Überlebenden versucht der Dokumentarfilm, der von der mexikanischen Videogruppe Canal 6 de Julio produziert wurde, ein Panorama der politischen Situation in Chiapas zu entwickeln. Über vier Jahre nach dem Beginn des Aufstandes der EZLN hat das Militär den Bundesstaat weitgehend militarisiert. Die Zapatistas verfügen noch immer über großen Rückhalt in der Bevölkerung, aber die selektive Repression zeigt Wirkung. Besonderes Gewicht legt der Film auf die Darstellung der Aktivitäten paramilitärischer Gruppen. Unmißverständlich wird aufgezeigt, wie lokale Politiker der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) im Verbund mit Militärs der Bundesarmee diese Todesschwadrone aufbauen. Ihre Funktion ist die Einschüchterung der Bevölkerung und Übernahme von Aufgaben, die Militär und Polizei nur schwerlich erfüllen können, ohne gleich die ganze Regierung in Rechtfertigungsprobleme zu bringen. Dazu zählte auch das Massaker von Acteal, bei dem mit unbeschreiblicher Brutalität vorgegangen wurde.
Interessant sind insbesondere Passagen des Film, die den Zusammenhang des Aufbaus paramilitärischer Gruppen mit der Strategie der Kriegführung niedriger Intensität aufzeigen. Diese von der US-Armee entwickelte Aufstandsbekämpfungsmethode wird in Chiapas von Offizieren umgesetzt, die in US-Militärcamps wie dem Trainingszentrum für Spezialeinheiten und psychologische Kriegführung in Fort Bragg ausgebildet wurden.
Der professionell gedrehte und geschnittene Film collagiert Interviews mit Betroffenen des Massakers, dem Sozialwissenschaftler und ehemaligen EZLN-Berater Julio Moguel und dem Historiker Andrés Aubry mit Passagen einer Rede von Präsident Zedillo, Aufnahmen von Militärs sowie zapatistischer Basisgruppen, die versuchen, Soldaten am Betreten ihres Dorfes zu hindern. Das Bildmaterial könnte stellenweise aussagekräftiger sein. Die zynische Rede von Präsident Zedillo, die den Film eröffnet, demaskiert die Heuchelei der Regierung aber nachdrücklich. Er verurteilt das Massaker – „Die Gewalt ist ihrer Definition gemäß ein krimineller Akt“ –, gleichzeitig wird deutlich, daß die Paramilitärs von der Regierung aufgebaute Kreaturen sind.
Ein Mangel des 45-minütigen Filmes ist, daß er für mexikanische ZuschauerInnen produziert wurde und deshalb nur für ein Publikum verständlich ist, das die politische Situation in Chiapas und Mexiko einschätzen kann und über Hintergrundwissen verfügt. Für Chiapas-Interessierte ist der Film aber auf jeden Fall ein Gewinn.

„Acteal – Strategie der Todes“ ist ausleihbar bei:
autofocus Videowerkstatt e.V.
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10999 Berlin
Tel: 030-618 80 02
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Korruption und Caudillismo pyramidenförmig

Um den historisch-soziokulturellen Kontext des mexikanischen Wirtschaftsstils verständlich zu machen, kontrastiert die Autorin zu Beginn ihrer Arbeit die unterschiedlichen Zeitauffassung der abendländischen mit der mesoamerikanischen Kultur. Die lineare christliche Zeitvorstellung im neuzeitlichen Europa und europäisch geprägten Nordamerika sieht sie als eine Voraussetzung für die Herausbildung des herrschenden marktwirtschaftlichen Modells; die zyklisch-gegenwartsorientierte Zeitauffassung in Mesoamerika hingegen ist dafür verantwortlich, daß zunächst auch Reichtum angesammelt, danach aber nicht in die Akkumulation weiterer Reichtümer reinvestiert wird, sondern in Ritualhandlungen, Zeremonien, Feste etc. fließt. Das Ökonomische tritt hierbei nicht aus seinem politisch-religiösen Bedeutungszusammenhang heraus. In der mexikanischen Kultur – einer Mischung aus indianischen, spanischen, französischen und US-amerikanischen Einflüssen – verbinden sich diese unterschiedlichen Auffassungen und bilden die Grundlage für den mexikanischen Wirtschaftsstil. Dieser beinhaltet sowohl zielgerichtete akkumulative als auch zyklisch-verausgabungsorientierte Elemente (z.B. den Potlatsch, ein zeremonieller Tausch, dessen Ziel „letztlich keine ökonomischen Erwägungen, sondern das Prestige des Häuptlings und des Clans” ist).
In einer gelungenen Anspielung auf die architektonischen Zeugnisse aus der Zeit der mesoamerikanischen Kulturen beschreibt Rudner den Anfang der mexikanischen Wirtschaft mit einer „revolutionsstaatlichen Pyramide“, ihrerseits bestehend aus einer Vielzahl von miteinander verschachtelten Pyramiden. Die verschiedenen Ebenen laufen jeweils auf einen „patrón” zu, einen „imaginären Vater, dessen Autorität sich die Klientel unterwirft”, von dem sie aber im Gegenzug „beschützt und versorgt wird.” Diese Struktur findet sich in der mexikanischen patriarchalen Großfamilie, in Unternehmen, in informellen Beziehungsnetzen, aber auch in der Staatspartei PRI und im Präsidentialismus des Landes wieder. Anhand dieser pyramidalen Ordnung gelingt es der Autorin, Phänomene wie Korruption, Klientelbeziehungen, Caudillismo etc. aus dem kulturellen Kontext heraus verständlich zu machen, ohne sie von vornherein negativ zu bewerten.

Schuldenkrise und Neoliberalismus

Nicole Rudner beschreibt, wie die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft für ausländisches Kapital sowie die industrielle Modernisierungsstrategie ab 1940 zunächst zu einer Stärkung der mexikanischen Pyramidenwirtschaft führte, später jedoch durch verschiedene innere und äußere Faktoren in eine dramatischen Schuldenkrise mündete. Auf diese Krise reagierte der Präsident Miguel de la Madrid (1982 – 88) unter dem Druck internationaler Institutionen (IWF, Weltbank etc.) mit der Einführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells in Mexiko. De la Madrid und verstärkt sein Nachfolger Carlos Salinas de Gortari (1988 – 94) setzten an die Stelle politischer Maxime das wirtschaftliche Wachstum nach den Gesetzen des Marktes. „Die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen implizierten die Umkehrung des zentralen revolutionsstaatlichen Entwicklungsparadigmas, eines eigenen, originär mexikanischen Entwicklungsweges.” Das „neue Mexiko” erfährt nach Ansicht der Autorin in den letzten fünfzehn Jahren grundlegende Veränderungen, die sich in einem kulturellen Wandel und somit auch in einer allmählichen Veränderung des mexikanischen Wirtschaftsstils niederschlagen.
In der sehr kurz gehaltenen Schlußbemerkung geht die Autorin auf die Ereignisse in Chiapas seit dem 1. Januar 1994 ein. Diese sind ihrer Meinung nach eine Reaktion auf die „neoliberale Konterrevolution” und auf eine Modernisierung, „die unter Demokratisierung die Übernahme des US-amerikanischen Modells versteht”.
Die überzeugende und oft spannend geschriebene Darstellung des mexikanischen Wirtschaftsstils hinterläßt – neben zahlreichen Aha-Erlebnissen – auch Nachdenklichkeit bei der Leserin/dem Leser. Die Beschreibung und Erklärung des spezifisch mexikanischen Wirtschaftsstils ist ein entscheidender erster Schritt in eine Richtung, die momentan dem mainstream völlig entgegenläuft (nach dem das gleiche wirtschaftspolitische Modell fast weltweit umgesetzt wird, ohne den jeweiligen historisch-soziokulturellen Kontext zu berücksichtigen) .
Gerade aus diesem Grund ist das Buch sehr wertvoll und empfehlenswert für alle, die noch keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden haben, welche Lösung es für die wirtschaftliche und soziale Krise Mexikos geben könnte.

Nicole Rudner: Der Mexikanische Wirtschaftsstil, Eberhard Verlag, Schriften zu Lateinamerika, München, 1996. 352 Seiten, 38,- DM (ca. 20 Euro).

Der Preis der Freiheit

Im Zuge der mexikanischen Agrarreform, seit 1915 nationale Politik, wurde Land nicht an Einzelpersonen, sondern an Gruppen von Kleinbauern und Landlosen im Rahmen von ejidos verteilt oder den enteigneten indianischen Gemeinden (comunidades) zurückgegeben. Neben diesem „sozialen Landbesitz“ der ejidos und comunidades, der heute nach offiziellen Angaben mit rund 103 Millionen Hektar über die Hälfte der Agrarfläche Mexikos umfaßt, blieb der landwirtschaftliche Privatbesitz innerhalb der Grenzen des gesetzlich definierten „Kleinbesitzes“ (pequeña propiedad) zugelassen. Der Privatsektor umfaßt sowohl private minifundistas (mit Klein- und Kleinstflächen), die kaum die Selbstversorgung ihrer Familien sicherstellen können, als auch Agrarunternehmen. Letztere konnten sich häufig mit Hilfe von Ausnahmegenehmigungen, durch legale Aufteilungen an Strohmänner und Familienmitglieder oder illegale Machenschaften über die offiziellen Landbesitzbeschränkungen hinwegsetzen.
Aber auch der sogenannte soziale Sektor ist überaus heterogen. Ejidos und comunidades unterscheiden sich nicht nur durch ihre Ausstattung mit Land, Wasser, Infrastruktur und Kapital, sondern auch hinsichtlich ihrer Vermarktungsmöglichkeiten beträchtlich. Innerhalb dieser Gemeinschaften haben sich infolge lokaler Machtkämpfe oder als Folgewirkung von Regierungsprogrammen und Entwicklungsprojekten im Laufe der Jahre wirtschaftlich, politisch und sozial stark differenzierte Gruppen herausgebildet. Das Spektrum reicht von Subsistenzbauernfamilien, die mit Brandrodungsfeldbau Gemeinschaftsland bewirtschaften, bis zu Mittel- und Großbauernfamilien, die intensiven Bewässerungsanbau unter Einsatz von Maschinen, Pflanzenschutz- und Düngemitteln in individuellen Parzellen für den Markt betreiben. Nur ein geringer Teil der ejidos und comunidades produziert und vermarktet kollektiv. Viele ejidatarios und comuneros beschäftigen Lohnarbeiter. Da die Landrechte innerhalb des sozialen Sektors an eine begrenzte Zahl von Mitgliedern (meist Männer) vergeben und nur ungeteilt abgetreten oder vererbt werden durften, gibt es heute viele Personen, die zwar in ejido-Dörfern und comunidades leben, jedoch keine formalen Landrechte besitzen. Sie bewirtschaften meist gepachtete Flächen oder verdingen sich als Lohnarbeiter. Pacht- und Lohnarbeitsverhältnisse wie auch der Verkauf ejidaler und kommunaler Landrechte waren bis zur jüngsten Änderung der Agrargesetzgebung in der Regel illegal. Sie wurden aber dennoch sehr häufig praktiziert.
Mit wenigen Einschränkungen hat die mexikanische Agrarpolitik ejidos und comunidades gegenüber dem Sektor der privaten Agrarunternehmen paternalistisch doch äußerst stiefmütterlich behandelt. So war der verteilte Boden meist von schlechter Qualität. Nur während kurzer Phasen kam es zu tiefergehenden Veränderungen der Besitzverhältnisse und Machtstrukturen auf dem Land. Von Anfang an dominierten Politiker aus dem liberalen Lager die nationale Agrarpolitik, denen es um die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse ging. Obwohl sie häufig eine agraristische Rhetorik verwendeten, war eine umfassende Landverteilung von ihnen nie beabsichtigt. Staatliche Hilfen und der Ausbau von Infrastruktur konzentrierten sich seit den vierziger Jahren auf eine kommerzielle, exportorientierte Agroindustrie in privaten Händen. Ejidos, comunidades und private minifundistas sollten lediglich preiswerte Grundnahrungsmittel, insbesondere Mais, produzieren und damit indirekt die Löhne in der Industrie und den Städten subventionieren. Kreditpolitik und staatliche Hilfen wurden meist als politische Kontrollinstrumente mißbraucht, anstatt durch langfristige und angepaßte Förderungsmaßnahmen einen selbstbestimmten Anbau und eine Kooperation bei der Produktion zu gewährleisten.

Der Neoliberalismus auf dem Vormarsch

Seit der Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre hat sich die Lage der Kleinbauernfamilien dramatisch verschlechtert. Dies ist Folge einer bereits unter den Präsidenten José López Portillo (1976-82) und Miguel de la Madrid (1982-88) auf Druck der Geberländer begonnenen und 1986 im Zuge des Beitritts Mexikos zum GATT verstärkten neoliberalen Wirtschaftspolitik. Sie war im Agrarsektor durch die drastische Reduzierung staatlicher Hilfen und den Preisverfall vieler Agrarprodukte gekennzeichnet. Diese Politik wurde mit Blick auf Mexikos Integration in den Nordamerikanischen Binnenmarkt (NAFTA, 1994) unter Carlos Salinas (1988-94) noch verschärft und wird von seinem Nachfolger Ernesto Zedillo nur geringfügig verändert weitergeführt.
Mit dem Beitritt zum NAFTA verpflichtete sich Mexiko, weitere Handelsschranken abzubauen und den Markt der bislang subventionierten Grundnahrungsmittel und anderer Agrarprodukte für den internationalen Wettbewerb zu öffnen. 1993 wurde zur Abfederung des Preisverfalls für die Dauer von 15 Jahren die Direkthilfe PROCAMPO eingeführt, die nach der Größe der Produktionsfläche bemessen wird und bislang nicht ausreichte, die realen Einkommensverluste der Landbevölkerung auszugleichen. Zudem treffen die Gelder häufig erst so spät ein, daß sie im laufenden Anbauzyklus nicht mehr für den Kauf von Produktionsmitteln verwendet werden können.
Ihr wahltaktischer Einsatz hat PROCAMPO 1994 den Spitznamen „PRI-CAMPO“ eingebracht. Tatsächlich ermöglichen die Registrierungspraktiken die völlige Kontrolle der Produktion. Zukünftig soll es, so ein Mitarbeiter des Landwirtschaftsministeriums in Campeche, mit Hilfe US-amerikanischer Satellitentechnik sogar möglich sein zu überprüfen, wer mit welcher Art von Produkten welche Flächen bestellt.
Nach der Durchsetzung der neuen Leitlinien der staatlichen Agrarbank (BANRURAL) Ende der achtziger Jahre wurden nur noch „lukrative“ Projekte gefördert. So erhielten Kleinbauernfamilien kaum noch Produktionskredite. Darlehen aus dem Wohlfahrtsprogramm PRONASOL, die sogenannten „créditos a la palabra“, die vor allem zur Armutsbekämpfung beitragen sollten, reichten in der Regel nicht aus, um die Produktion zu finanzieren. Häufig mußten sie für den laufenden Lebensunterhalt ausgegeben werden und konnten daher nicht zurückgezahlt werden.
Allein zwischen 1988 und 1993 verringerte sich nach amtlichen Angaben die von BANRURAL mit Krediten unterstütze Anbaufläche für Mais von 7.234.000 auf 1.054.000 Hektar. 1991 erhielten nur noch 19,4 Prozent aller landwirtschaftlichen Produzenten Zugang zu Krediten, einschließlich der créditos a la palabra, während es Mitte der 80er Jahre noch zwischen 40 und 50 Prozent waren. Von den Bauernfamilien, die weniger als zwei Hektar Land bewirtschafteten, hatten 1991 sogar nur 9,6 Prozent Kredite erhalten, obwohl sie immerhin 34,1 Prozent aller Produktionseinheiten repräsentierten.
Zu den Einkommensverlusten bei der Vermarktung der Anbauprodukte und der äußerst restriktiven Kreditpolitik kam die Explosion der Produktions- und Lebenshaltungskosten. Insbesondere nach der Währungskrise im Dezember 1994 stiegen die Preise für wichtige Produktionsmittel (Benzin, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, Saatgut etc.) und notwendige Haushaltswaren, aber auch die Kreditzinsen ins Uferlose.
Das Liberalisierungsprogramm beinhaltet unter den Leitbegriffen „schlanker Staat“ und „Dezentralisierung“ die Reorganisation, Abwicklung oder Privatisierung von Behörden, staatlichen und parastaatlichen Firmen, Banken und Versicherungen. Für ehemals preiswert bereitgestellte öffentliche Dienstleistungen, wie technische Beratung und die Erstellung von Gutachten, müssen nun Privatfirmen beauftragt und hohe Summen bezahlt werden.

Die Neuordnung der Agrargesetzgebung

Einer der umstrittensten Aspekte der neoliberalen Agrarpolitik ist die 1992 in Kraft getretene Neuordnung der Agrargesetzgebung. Verpachtungen, Assoziationen mit privaten Investoren und Landverkäufe wurden durch die Abänderung des Verfassungsartikel 27 und seiner Ausführungsgesetze (Ley Agraria, Ley Forestal, Ley de Aguas Nacionales) legalisiert. Es geht dabei nicht nur um das Agrargesetz, sondern auch um die Ley Forestal, das Forstwirtschaftsgesetz und die Ley de Aguas Nacionales, das Gewässergesetz. Ejidales und kommunales Land wird Produzenten individuell übereignet. Hierzu ist eine aufwendige Prozedur notwendig, bei der Landbesitzfragen geklärt und dokumentiert werden sollen. Dies erfolgt im Rahmen des Regierungsprogramms PROCEDE, das von der 1992 neu geschaffenen Aufsichtsbehörde Procuraduría Agraria (PA) mit massiver staatlicher Finanzierung vorangetrieben wird. Ejidatarios (bzw. comuneros) können, sofern die Versammlung der Mitglieder zustimmt, unter anderem Titel für ihre Hausgrundstücke und Zertifikate für vorhandene Anbauparzellen erhalten. Der Titel berechtigt zur beliebigen Parzellennutzung, ohne daß die ejidalen Autoritäten konsultiert werden müssen. Ihre Veräußerung unterliegt jedoch Beschränkungen. Parzellenzertifikate dürfen nur innerhalb der Gemeinschaften verkauft werden. Werden sie allerdings durch eine weitere Entscheidung der Versammlung in Besitztitel (dominio pleno) umgewandelt, können sie ebenso wie die Titel für die Hausgrundstücke auf dem freien Markt gehandelt werden. Nach offiziellen Angaben wurden bis Dezember 1997 rund die Hälfte der 29.681 mexikanischen ejidos und comunidades mit Titeln und Zertifikaten ausgestattet. Nur wenige von ihnen (nach offiziellen Angaben 419 bis Februar 1997) vollzogen bislang allerdings den Schritt zur Umwandlung der Parzellenzertifikate in Besitztitel. Zwar ist die Teilnahme an PROCEDE formal freiwillig, doch werden die Dokumente inzwischen von Banken als Sicherheit für Produktionskredite eingefordert und müssen bei den Regierungsbehörden zur Beantragung von PROCAMPO und anderen staatlichen Hilfen vorgelegt werden.
Die neue Agrargesetzgebung von 1992 machte jedoch nicht nur die Privatisierung des sozialen Landbesitzes möglich, sondern erklärte zudem die Landverteilung für beendet, was die Hoffnungen vieler Landloser zunichte machte. Außerdem wurde Aktien- und Handelsgesellschaften erstmalig erlaubt, Ländereien zu besitzen. Sie können sogar bis zum 25-fachen des gesetzlich definierten Kleinbesitzes umfassen, womit Großgrundbesitz faktisch wieder zugelassen ist.
Entsprechend der Heterogenität des sozialen Sektors wird die Neuordnung der Agrargesetzgebung unterschiedlich aufgenommen. Viele ejidatarios und comuneros hoffen, leider oft vergeblich, mit ihren Titeln und Zertifikaten Zugang zu Krediten zu erhalten. Andere begrüßen die Möglichkeit, ihr Land formal dokumentieren und nun offen verpachten oder verkaufen zu können. Damit sind sie nicht mehr der Willkür der oft korrupten Autoritäten innerhalb ihrer Gemeinschaften unterworfen, denen vielfach die Zuteilung der Ländereien oblag. Ein Teil der ejidatarios und comuneros kann oder will seit langem nicht mehr ausschließlich von der Landwirtschaft leben und sucht in anderen Bereichen ein Auskommen. Früher drohte bei längerer Abwesenheit der Verlust der Landrechte.
Zahlreiche ejidos und comunidades verweigern jedoch trotz des Drucks der Regierung ihre Teilnahme an PROCEDE. Die Gründe sind vielfältig und reichen vom Mißtrauen gegenüber den Mitarbeitern der PA über unlösbare Landkonflikte bis zur Furcht, zukünftig Grundsteuern bezahlen zu müssen oder ihr Anrecht auf Land im Falle von Mißernten und durch Überschuldung zu verlieren. Viele Mitglieder von ejidos und comunidades befürchten aber auch, daß die Privatisierung des sozialen Landbesitzes die bereits bestehende Individualisierung der Produktion und Vermarktung noch verstärken wird, was eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen erschweren würde.

Folgen der neoliberalen Politik im Agrarsektor

Auch wenn die Folgen der neuen Agrargesetzgebung wahrscheinlich erst in einigen Jahren in ganzem Ausmaß deutlich werden, beweisen zahlreiche Studien bereits heute, daß die neoliberale Politik die Krise der kleinbäuerlichen Produktion noch verschärft hat. Das zeigt Leonard (1998) am Beispiel von ejidos in der Sierra de Los Tuxtlas, Veracruz. Zum Beispiel hat die formale Aufteilung des Gemeinschaftslandes im Rahmen von PROCEDE dazu geführt, daß Ländereien, die bislang informell allen Teilen der dörflichen Bevölkerung offen standen, plötzlich nicht mehr genutzt werden durften. Gleichzeitig nahmen, begünstigt durch das lokale Vorkaufsrecht, Landverkäufe innerhalb der ejidos zu. Dies verstärkte die bestehenden ökonomischen Unterschiede: Reiche wurden reicher, Arme ärmer.
Ähnliches konnten auch De Janvry und seine Kollegen (1996) bei ihrer Analyse von Haushaltsdaten aus 276 mexikanischen ejidos beobachten. Hier kam es zwischen 1990 und 1994 zu beträchtlichen Landkonzentrationsprozessen innerhalb der Gemeinschaften. Deutlich hatten kleinbäuerliche Betriebe mit weniger als zwei Hektar Wirtschaftsfläche Land an mittlere und größere Betriebe abgegeben. Gleichzeitig mußten sich viele campesinos aufgrund von Kapitalmangel aus der Marktproduktion zurückziehen und wirtschafteten mit möglichst geringem Kapitaleinsatz fast ausschließlich für die Selbstversorgung ihrer Familien. Besonders in wirtschaftlich attraktiven Gebieten haben Landverkäufe und Verpachtungen auch an Außenstehende zugenommen. Viele Kleinbauernfamilien sind aus Geldmangel gezwungen, Teile ihres Landes zu vermieten, zu verkaufen oder „Assoziationen“ mit privaten Investoren einzugehen. In der Regel übernehmen die Kapitalgeber bei diesen Verbindungen, bei denen es sich meist um verkappte Verpachtungen handelt, das Management, bringen Technologie, Saatgut etc. mit, während die Kleinbauernfamilien dafür ihr Land und, wenn möglich, ihre Arbeitskraft meist zu niedrigsten Preisen überlassen müssen.

Der Rückzug in die Subsistenzproduktion

Zahlreiche regionale und überregionale Protestbewegungen wie z.B. die Schuldnerbewegung der Barzonistas und der zapatistische Befreiungskampf in Chiapas sowie das Erstarken der Oppositionsparteien gegenüber der herrschenden PRI machen deutlich, daß sich politischer Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik auf breiter Front formiert hat. Die Währungskrise vom Dezember 1994 und die damit einhergehende Verteuerung von Grundnahrungsmittelimporten zeigen, daß der Beitritt zum Nordamerikanischen Binnenmarkt kein Allheilmittel ist.
Diese Erfahrung und der wachsende politische Widerstand haben Präsident Zedillo inzwischen dazu bewegt, den Anbau von Grundnahrungsmitteln wieder stärker zu fördern. So wurden die PROCAMPO-Zahlungen ausgeweitet und die Maispreise leicht angehoben. Gleichzeitig wird durch das Programm „Kilo por Kilo“ verbessertes Saatgut preiswert verteilt. Doch begünstigen staatliche Produktionshilfen und Förderungsmaßnahmen zur Infrastrukturverbesserung im Rahmen der „Alianza para el Campo“ (seit Dezember 1995) sowie die öffentlichen und privaten Kredite weiterhin fast ausschließlich mittlere bäuerliche Betriebe und Agrarunternehmen. Damit wird die seit Jahrzehnten bestehende Hauptrichtung der mexikanischen Agrarpolitik fortgesetzt.
Nach Auffassung der Regierungen Salinas und Zedillo haben nicht die ungleiche Behandlung der Kleinbauern gegenüber privaten Agrarunternehmen, sondern vor allem die vermeintlich unklare Landbesitzstruktur in ejidos und comunidades sowie der staatliche Paternalismus zur gegenwärtigen Agrarkrise beigetragen und ein unternehmerisches, eigenverantwortliches Handeln ihrer Mitglieder verhindert. Ejidatarios und comuneros sollten deshalb mit der neuen Agrargesetzgebung von den „Fesseln ihres eigenen Landes“ befreit werden. Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Zwangslage, in der sich die meisten Kleinbauernfamilien innerhalb und außerhalb des sozialen Sektors befinden, erscheint diese Argumentation geradezu zynisch. Konfrontiert mit dem Preisverfall ihrer Agrarprodukte, ohne Kapital, Infrastruktur und mit schlechtem Marktzugang haben sie allen liberalen „Befreiungsmaßnahmen“ zum Trotz auch weiterhin keine Chance, selbstbestimmt an der Marktproduktion teilzunehmen. Stattdessen werden sie immer mehr zum Rückzug in die Subsistenzwirtschaft gezwungen und sind nicht selten genötigt, ihre Arbeitskraft und ihr Land zu niedrigsten Preisen zu verkaufen.

Zum Weiterlesen:
Schüren, Ute 1997: „Land ohne Freiheit“: Mexikos langer Abschied von der Agrarreform. In: Karin Gabbert u.a. (Hrsg.): Lateinamerika Analysen und Berichte 21: Land und Freiheit. Bad Honnef, S.33-65.

Leonard, Eric: Las reformas estructurales y su impacto sobre la movilidad social en las agriculturas ejidales de la Sierra de los Tuxtlas, Veracruz. Vortrag gehalten auf dem nationalen Kongreß „Políticas de ajuste en el campo mexicano: Efectos y respuestas“, 1.-4. März 1998 in Querétaro, Mexiko

De Janvry, Alain u.a.: Ejido Sector Reforms: From Land Reform to Rural Development. In: Randall, Laura (Hrsg.) 1996: Reforming Mexico’s Agrarian Reform, Armonk, London, S.71-106.

Krieg niederer Intensität jetzt ohne Vermittlung

In Mexiko ermordet die Armee Zivilisten, weil sie Frieden will. Bischof Samuel Ruiz beschuldigte in einer scharf formulierten Erklärung die mexikanische Regierung, den Dialog mit den aufständischen Zapatisten einseitig aufgekündigt zu haben. Er selbst und Mitglieder der katholischen Kirche in Chiapas seien konstanten Drohungen und Aggressionen von Seiten der Regierung, des Militärs und der Paramilitäts ausgesetzt. Als Ruiz seine Erklärung verfaßte, mit der er am 7. Juni von seinem Amt als Vermittler zurücktrat, wußte er noch nicht, daß die Bundesarmee bereits ein weiteres Massaker an den zivilen Unterstützern der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) plante.

Neue Überfälle

In den frühen Morgenstunden des 10. Juni überfielen die Militärs in einer gemeinsamen Operation mit Polizeikräften und Paramilitärs die Ortschaften Chabajeval und Union Progreso im zapatistischen autonomen Landkreis San Júan de Libertad. Eine gemeinsame Erklärung aller 32 zapatistischen Landkreise, die sich unabhängig von staatlichen Institutionen konstituiert haben, schildert den Hergang der Ereignisse so: Einige hundert Militärs überfielen das Dorf Union Progreso, zerstörten Häuser und schlugen auf Zivilisten ein. Flüchtende wurden beschossen, ein junger Mann wurde dabei getötet. Soldanten schleppten sechs Verletzte zurück ins Dorf und exekutierten sie dort. Gleichzeitig wurde auch das in der Nähe gelegene Chavajeval von einer großen Anzahl Militärs und Polizisten gestürmt, von Helikoptern und Flugzeugen unterstützt. Mehrere hundert Dorfbewohner versuchten in die Berge zu flüchten und wurden dabei mit scharfer Munition und Tränengas beschossen. Zwei Männer wurden ermordet, eine große Zahl wurde festgenommen und ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Wenn sie uns tote Genossen zurückbringen, die sie lebend festgenommen haben, wurden sie von Bundessoldaten und der Polizei exekutiert, erklärt das Kommuniqué.

Die Version des Militärs

Innenminister Francisco Labastida Ochoa dagegen behauptet, das Militär sei von Milizen der EZLN beschossen worden und habe erst dann reagiert und auch nur, weil es “Frieden herstellen” wolle.
Bereits am 7. Juni war es zu einem brutalen Militäreinsatz im Bundesstaat Guerrero gekommen. Auch hier behauptet das Militär, beschossen worden zu sein. Aber auch in diesem Fall widersprechen alle Zeugenaussagen der offiziellen Version. Im Dorf El Charco hatten sich nach Angaben von Einwohnern Guerilleros der Revolutionären Armee des aufständischen Volkes (ERPI), einer bewaffneten Gruppe, die mit der in verschieden Regionen Südmexikos operierenden Revolutionären Volksarmee (EPR) in Verbindung steht, mit Repräsentanten verschiedener Dorfgemeinschaften getroffen.
Die klandestine Versammlung in der Dorfschule wurde der Armee bekannt, die daraufhin die Gemeinde stürmte und elf Personen exekutierte. Es hat kein Gefecht gegeben, das war ein Massaker, erklärte ein lokaler Politiker der linken Oppositionspartei PRD. Nach Zeugenaussagen und einer Erklärung der ERPI waren nur einige der elf Getöteten tatsächlich Mitglied der Guerillakolumne. Erika Zamora Pardo, eine Überlebende des Guerilla-Kommandos berichtet, sie sei in den auf ihre Verhaftung folgenden Tagen gefoltert worden. Sie wurde von der Armee mit Elektroschocks und Drohungen zu Aussagen bewegt, die die offizielle Version bestätigen. Mittlerweile sind ihre Eltern und Geschwister von Paramilitärs entführt worden, und Nachbarn der Familie haben die Presse informiert.

Repressionen statt Verhandlungen

Die mexikanische Regierung unter Präsident Ernesto Zedillo von der seit beinahe 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) steuert durch die Verweigerung eines Dialogs mit der EZLN und den konstanten militärischen Druck auf die oppositionellen Bauernorganisationen auf den offenen Ausbruch des Bürgerkriegs in Mexiko zu. Nicht nur in Chiapas, auch in den südlichen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca münden die Konflikte zwischen linken oppositionellen Bauernvereinigungen mit lokalen PRI-Machthabern und Grundbesitzern immer öfter in bewaffnete Auseinandersetzungen. Dabei setzen Militär und Regierung auf einen offensiven Repressionskurs, der nur notdürftig mit Lippenbekenntnissen zum Verhandlungswillen kaschiert wird. EZLN, EPR, ERPI und die zahlreichen weiteren lokal oder überregional verankerten Guerillagruppen reagieren auf diese Politik mit dem Aufbau ihrer Strukturen, ohne auf die offenen Provokationen einzugehen.

Albright löst diplomatische Spannungen aus

Für Verstimmung bei der mexikanischen Regierung sorgte unterdessen eine Erklärung der US-Außenministerin Madeleine Albright. Die Internationalismus-Referentin Bill Clintons sah sich nach den Ereignissen der letzten Wochen dazu genötigt, öffentlich zu erklären, die US-Regierung fordere Mexiko zu einer friedlichen Lösung in Chiapas auf. Dabei benutze sie das Wort pressing, das mit dem spanischen presionando übersetzt wurde, was “Druck ausüben“ bedeutet. Dies wurde von mexikanischen Abgeordneten als eine unstatthafte Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes und als Beleidigung gewertet. Nach diplomatischem Naserümpfen erklärte nun Mexikos Außenministerin Rosario Green, die Aufregung sei fehl am Platz, da Albright schlecht übersetzt worden sei. Eigentlich habe sie nur gemeint, daß der Konflikt bald gelöst werden müßte. Der Sprecher des Weißen Hauses, James Rubin, stellte schließlich klar, daß die USA Mexiko nicht drängten, sondern um eine friedliche Verhandlungslösung bitten.
In jedem Fall scheint der beleidigte Tonfall der mexikanischen Regierung gerechtfertigt, ist es doch das US-Verteidigungsministerium, das die mexikanische Armee mit Spezialisten in der Kriegführung niederer Intensität und modernen Waffen ausrüstet. Darauf wies auch Amnesty International in Washington hin, das bereits am 12. Juni vor einer möglichen Menschenrechts-Katastrophe in Chiapas und Guerrero gewarnt hatte. 1500 mexikanische Militärs wurden laut William F. Schultz, Präsident von ai in den USA, in den letzten Monaten in den USA ausgebildet. Amnesty International forderte den US-Kongreß in einem Bericht vom 17. Juni auf, die Beteiligung mexikanischer und in den USA ausgebildeter Truppen an Menschenrechtsverletzungen darzulegen.

Rückkehr zu den Waffen

Die oder das EPR (je nachdem ob die Übersetzung Revolutionäres Volksheer oder Revolutionäre Volksarmee lautet) ist seit ihrem Auftauchen die umstrittenste Guerilla Mexikos. Als sie am 28. Juni 1996 auf einer Gedenkfeier zum ersten Jahrestag eines durch die Polizei an Bauern der OCSS (Organización Campesina de la Sierra del Sur) in Aguas Blancas verübten Massakers erstmals in Erscheinung trat, sprach der dort anwesende Cuauhtemoc Cardenas, Gallionsfigur der größten linken Oppositionspartei Mexikos PRD, von einer „Pantomime“. Er ging – wie viele andere auch – von einer Provokation seitens der Regierung aus. Kurze Zeit später mußte er jedoch seine Äußerung (die sofort ihren Platz im Diskurs der Regierungspartei PRI fand) zurücknehmen. Die Gerüchteküche brodelte dennoch weiter und das wahre Gesicht der EPR war aus einem Brei von gezielt gestreuten Regierungslügen und historisch bedingten Zweifeln einiger Linker kaum herauszudestillieren.
Doch die Zeit zeigte, daß die EPR offensichtlich in mehren Bundesstaaten existent und handlungsfähig ist, sie verfügt unter anderem in Oaxaca und Guerrero über eine beträchtliche soziale Basis und ist – ungeachtet der politischen Bewertung – alles andere als eine Pantomime.
Mißtrauen und Desinformation sind dennoch auch außerhalb Mexikos groß. Der Film „Rückkehr zu den Waffen“ leistet von daher einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung der Guerillabewegung, indem er keine Urteile fällt, sondern den Ursprüngen der EPR nachgeht.
Der Film ist in verschiedene Blöcke unterteilt. Zum Einstieg zeigen Videoaufnahmen der Polizei, die seinerzeit der Öffentlichkeit zugespielt wurden, das Massaker von Aguas Blancas. Zu sehen ist, wie am 28. Juni 1995 Polizeitruppen wahllos in eine Gruppe von LandarbeiterInnen schießen, wobei 17 Personen getötet und 20 schwer verletzt werden. Es folgt eine Rückblende: In den gleichen Regionen waren bereits in den 60er und 70er Jahren mit den Gruppen um Genaro Vasquez und Lucio Cabañas Guerillas entstanden. Immer wieder war es das politische System, das die Dorfschullehrer und Bauernmilizen in die Sierra zwang und immer wieder entlud sich die Repression massiv an der Landbevölkerung.

Aus der Welt der Mythen in die Realität

Mit dem Historiker Lorenzo Meyer führt ein Interviewpartner durch den Film, der in diesen so gerne in die postmoderne Beliebigkeit abgleitenden Zeiten analytisch präzise noch Ursache und Wirkung zu unterscheiden vermag, der weder glorifiziert noch verurteilt, sondern erläutert. Er zeigt politische Dynamiken und Entwicklungsstränge auf, die die EPR in einen historisch-sozialen und kulturellen Kontext stellen und die „Pantomime“ aus der Welt der Mythen zurück in die Realität holen.
Der Film führt nochmals eindrücklich vor, wie das mexikanische System den verschiedenen Versuchen, Beteiligung, Mitbestimmung, Selbstbestimmung zu fordern und zu praktizieren immer wieder den Weg abgeschnitten hat. Wie die Studentenbewegung von 1968 zusammengeschossen und im Blut ertränkt oder die PRD 1988 um ihren Wahlsieg betrogen wurde. Optierte nach 1968 nur eine Minderheit von StudentInnen für den Weg der Waffen und wurde gnadenlos nahezu aufgerieben, zeigte sich 1988 auf den Straßen und in den Dörfern eine breitere Bereitschaft den Sieg an den Urnen bewaffnet zu verteidigen, doch der Konflikt eskalierte schließlich nicht auf der bewaffneten Ebene. Beide Male resultierte daraus eine große Frustration der Linken, doch die Geschichte der EPR und die aktuelle Entwicklung in Mexiko, im Rahmen derer Guerilla-Gruppen tatsächlich wie Pilze aus dem Boden schießen, zeigen, daß die strukturellen Ursachen der Konflikte sicher nicht mit „Panzern und Hubschraubern“ zu beseitigen sind, wie Lorenzo Meyer anmerkt.
Mit der Darstellung verschiedener Grundlagen und Aktionen der EPR, einem Exkurs über die zunehmende Militarisierung Mexikos, einem Bogen zur EZLN und der Darstellung der Regierungslinie ergibt der Film ein für 1996 rundes Bild, das heute zwar auf jeden Fall noch aktualisiert werden müßte, jedoch eine solide Informationsbasis darstellt.
So erinnerte zwar die anfänglich strenge ML-Rhetorik der EPR stark an die Guerillas der 70er Jahre und ihrem Vokabular haftete oft der Muff chinesischer Parteitage an. Doch schon in puncto „revolutionäres Subjekt“ bahnen sich Unterschiede zu den typischen Gruppierungen unter dem Banner bärtiger Männer an. Nicht nur von Arbeitern und Bauern ist die Rede bei der EPR, sondern auch von „Frauen, Indígenas, Behinderten, Marginalisierten, organischen Intelektuellen und Straßenkindern“.
Die EPR scheint eine Organisation zu sein, die wandlungsfähig ist und in der interne Diskussionen zu erheblichen Veränderungen führen können. Allzu gern wurde und wird vergessen, daß auch die Aussagen der EZLN zu Beginn härter waren und sich ihr Diskurs erst mit der Zeit änderte. Ein vehementer Kurswechsel ist zumindest seit den Wahlen in der mexikanischen Hauptstadt im Sommer 1997 auszumachen. Die EPR hatte im Vorfeld einen Waffenstillstand ausgerufen, um den Wahlvorgang in keiner Weise zu beeinflussen, und veröffentlichte im nachhinein eine sehr ausgewogene und verhältnismäßig moderate Erklärung in der der Wahlsieg der PRD in der Hauptstadt begrüßt und in einen breiteren Rahmen eines Kampfes um Veränderung gestellt wurde. Und ergingen zu Beginn noch verbale Schläge an die EZLN, wie etwa, daß „der Krieg nicht mit Gedichten gewonnen werde“, finden sich in aktuelleren EPR-Erklärungen Nahuatl-Verse und Bilder aus der Natur.
Die bei Pressekonferenzen vorgeführte gute Bewaffnung der EPR und einige militärische Aktionen, deren Härte schlecht in die politische Dynamik des jeweiligen Zeitpunktes paßten, machten die EPR schnell zu den „Bad Guys“. In den Hintergrund gerät dabei, daß die soziale Basis der EPR ebenfalls aus Indígenas und Campesinos besteht und, daß diese kaum weniger als in Chiapas von paramilitärischen Aktionen, willkürlichen Verhaftungen und Ermordungen, Repression sowie Militarisierung betroffen sind.

Film erhältlich bei: autofocus Videowerkstatt, Lausitzer Str. 10, Aufg. B, 10999 Berlin, Tel.: 030 / 61 88 002.

Samba, Coca und Tore, die überall lauern.

Wie alle männlichen Einwoh-
ner Uruguays wollte ich einmal Fußballer werden.“ Aus dem Jugendtraum, zu dem sich Eduardo Galeano in seinem 1997 erschienenen Buch „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ bekennt, ist nichts geworden. Zum Glück, denn ob der Fußballer Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und damit eines der wichtigsten Bücher der letzten 30 Jahre über diesen Kontinent geschrieben hätte, ist zumindest sehr fraglich. So aber hat der leidenschaftliche Fan, „Der Spieler mit der Nummer Zwölf“, sich selbst aufgestellt und erzählt Geschichten und Anekdoten über das Spiel, das überall auf der Welt so viele Menschen in seinen Bann zieht .
Zu Beginn des Buches, das im Original unter dem Titel „El fútbol a sol y sombra“ erschienen ist, beschreibt der Uruguayer in seinem typischen anekdotischen Stil alles, was zum Spiel dazugehört: der Fan, der Schiedsrichter, das Stadion, der Ball werden hin und her gespielt und im Licht, aber eben auch im Schatten betrachtet. Auch historische Kuriositäten gräbt Galeano aus. Wer wußte schon, daß erst 1938 drei argentinische Tüftler aus Córdoba den Ball erfanden, der der Vorgänger des heutigen runden Leders ist. Sie erfanden eine Blase mit Ventil, die man mit einer Pumpe aufblasen konnte. Seitdem ist es möglich zu köpfen, ohne sich an dem Netz zu verletzten, das vorher den Ball zusammengehalten hatte.
„Verrückte, das sind verrückte Engländer“, so zitiert Galeano aus den Erinnerungen eines Journalisten. Der hatte als Kind verwundert seinen Vater gefragt, warum die blonden Jungen gleich neben dem Irrenhaus andauernd gegen einen Ball treten.

So kam der Fußball
nach Lateinamerika…
Die Frage, wer mit diesen Verrücktheiten angefangen hat, wird letztendlich wohl nie entschieden werden. Doch waren es unbestreitbar die Engländer, die neben Eisenbahnen, Manchester-Kapitalismus und anderen nützlichen Dingen auch den Fußball mit (höchst britischen) Regeln nach Lateinamerika exportierten. Genauer gesagt, an den Río de la Plata. Dort fand auch 1889 das erste „Länderspiel“ zwischen Montevideo und Buenos Aires statt, das eben die britischen Handelsvertreter und Diplomaten unter sich ausmachten. Ziemlich schnell allerdings wurde der Fußball immer weniger englisch und immer mehr südamerikanisch. Die Mützen, Hüte und schweren „Manfield-Stiefel“ wurden abgelegt, Trikots wurden erfunden, Brasilien lieferte Capoeira und Samba als Zugaben, die La-Plata-Länder den Tango. „Wie der Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vorstädten aus. Und so entstand an den Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Spieler der „toque“, die typisch südamerikanische Art des Dribblings: der Ball, der wie ein Instrument gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle der Musik.“
Viele Porträts der oft glücklichen, meist aber auch tragischen und einsamen Helden des Mannschaftsports Fußball zeichnet Galeano in seiner kleinen Geschichtsschreibung nach. So das Schicksal des ersten schwarzen Fußballers in Lateinamerika, des Uruguayers Andrade oder des krummbeinigen Brasilianers Garrincha, der bei der WM 1962 zum besten Spieler gewählt wurde, aber seinen Tod „arm, im Suff und einsam“ starb.

Uruguayische Höhenflüge
Überall auf der Welt heißt Fan sein auch parteiisch sein. Und wenn ein Chronist des Fußballs aus einem Land kommt, in dem schon die Kinder als Anhänger von Nacional oder Peñarol auf die Welt kommen, dann ist es vielleicht auch verständlich, daß Galeano seine Landkarte der Fußballwelt anders zeichnet als die Geographen. Und zumindest in der Vergangenheit war Uruguay im Fußball eine Weltmacht. Schließlich hat es zwei Olympiasiege und zwei WM-Titel errungen. 1924 gewann die Mannschaft aus Uruguay bei der Olympiade in Frankreich als erste südamerikanische Mannschaft die Goldmedaille. Auf dem Weg dahin hatten sie aber allerlei Demütigungen zu überstehen: Im Spiel gegen Jugoslawien wurde die Fahne verkehrt herum aufgezogen (mit der Sonne nach unten) und anstelle der Nationalhymne wurde ein brasilianischer Marsch gespielt. Das Spiel aber gewann Uruguay mit 7 : 0. Heute ist von diesem Glanz allerdings nicht viel übriggeblieben, außer einer grenzenlosen Selbstüberschätzung. Der uruguayische Soziologe Rafael Bayce beschreibt das so: Im Vorfeld der WM 1986 wurden in einer Umfrage die einheimische Bevölkerung und die in anderen Ländern nach den Chancen der einzelnen Teams befragt. Die Meinung über die bundesdeutschen Kicker von Deutschen und Nichtdeutschen war ungefähr gleich, und auch die Brasilianer schätzten ihre Mannschaft nicht viel besser ein als der Rest der Welt. Die Spanier überschätzten ihre Truppe nach dieser Umfrage etwa sechsmal, die Uruguayer jedoch etwa 45mal gegenüber den Befragten in anderen Ländern. Ein schon pathologisches Anzeichen von Realitätsflucht, wie Bayce anmerkt.
Die schönste Geschichte im Buch stammt übrigens nicht vom Autor selbst. In „Tor durch Sanfilippo“ des argentinischen Schriftstellers Osvaldo Soriano spielt der Held ein „Fußballspiel“ im Stadion San Lorenzo nach. Zwischen Kochtöpfen, Käse und Knackwürsten erzielt José Sanfilippo noch einmal „das schnellste Tor der Geschichte“, diesmal allerdings in einem riesigen Einkaufszentrum von Buenos Aires, das Stadion ist inzwischen abgerissen.

Schattenseiten
Wie immer bei Galeano ist auch seine kleine Geschichte des Fußball nicht zu trennen von dem, was sich jenseits des Spielfeldes abgespielt hat. Natürlich erzählt er auch vom „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador im Jahr 1969. Und von der WM 1978 in Argentinien. Während die holländischen Vizeweltmeister sich weigerten, den Führern der argentinischen Diktatur die Hand zu geben, steht stellvertretend für die deutsche Haltung ein Zitat von Berti Vogts, dem damaligen deutschen Mannschaftskapitän: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Aber nicht nur davon, auch von Nationalismus, der Macht der FIFA und von dumpfer Gewalt ist die Rede. Kommerz buchstabiert Galeano von A wie adidas bis Z wie Zirkusaffen (die Spieler) durch.
Nach dem Endspiel der WM 1970 in Mexiko zwischen Italien und Brasilien titelte die englische Presse: „Ein solch schöner Fußball müßte verboten werden“. Wenn es dieses Jahr mit ähnlichen Lobeshymnen nichts werden sollte, ist Galeanos Buch sicher eine kleine Entschädigung. Wenn doch, dann ist es eine prima Zugabe. Brasilien überrollte übrigens Italien damals mit 4 : 1.
Eben dieses Spiel, das WM-Fi-
nale zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970, ist für den englischen Journalisten Chris Taylor die Geburtsstunde des lateinamerikanischen Fußballs. Was angesichts der triumphalen Erfolge in den vorhergegangenen 50 Jahren doch etwas verwundert. Aber wie auch immer, die „beste, die erregendste Mannschaft der Welt“, wie er das brasilianische Team von 1970 bezeichnet, nicht gesehen zu haben, stimmt schon etwas betrüblich.
Taylors 1998 erschienenes Buch „Samba, Coca und das runde Leder“ ist das Resultat von „Streifzügen durch das Lateinamerika des Fußballs“, wie es im Untertitel heißt. Streifzüge, die er zwischen 1995 und 1997 unternommen hat, einem Zeitraum, der von der Qualifikationsrunde zur WM in Frankreich beherrscht wurde. Nie wird er auf den 223 Seiten des Buches aber betriebsblind: immer versucht er auch die Hintergründe des Spiels zu vermitteln, das Spielfeld des Fußballs hat für ihn die Größe des gesamten Kontinents, die Protagonisten sitzen nur allzu oft an den Hebeln der Macht und lassen die oben erwähnten Zirkusaffen bzw. die Spieler tanzen. Und doch, trotz der politischen, historischen und sozialen Informationen ist es ein Buch über Fußball. Über den Fußball, wie er sein könnte und sein sollte und eben ein Buch über den Fußball, wie er tatsächlich ist.

“Hoffnungslos nostalgisch“
Seine Reise beginnt Chris Taylor am Río de la Plata. Eduardo Galeano hätte sicher seine Freude daran, daß die erste Station auf den Streifzügen des fußballverrückten Engländers Uruguay ist. Mit einer ungeheuren Detail- und Faktenkenntnis spielt sich der Autor akribisch von dort bis nach Mexiko vor. Auch eine Art der Geschichtsschreibung.
Charakteristisch für den Fußball in Uruguay, Argentinien und Brasilien sind die großen Duelle zwischen den ewigen Rivalen Peñarol und Nacional, Boca Juniors und River Plate, Flamengo und Fluminense. Wer wie warum zu welchem Verein gehört und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, beschreibt Taylor in einer bewundernswerten Neutralität. Wer einige Zeit in einem dieser Länder verbracht hat, kann es kaum vermeiden, irgendwann einmal Stellung dazu beziehen, welcher „sein“ Verein ist, Ausländer oder nicht. Das wird auch Chris Taylor nicht anders gegangen sein, anmerken läßt er es sich aber nicht.
Der Fußball in Uruguay ist für ihn „hoffnungslos nostalgisch“. Das Land lebt von und in seiner Vergangenheit, die auch schon mal deprimierende Gegenwart wird ausgeblendet. Spätestens seit der WM 1986 gilt Uruguay allgemein aber als unwürdiges Team von Grätschern und Rauhbeinen, daran haben auch die internationalen Erfolge von Nacional und Peñarol wenig geändert. Die „garra charrúa“, einst Ausdruck für Mumm, Kampfgeist und Wildheit ist heute zu einem Synonym für Nachtreten und den Gegenspieler wüst von den Beinen zu holen, geworden. Außer den Uruguayern selbst war dann auch wohl niemand traurig, daß das Land die Qualifikation zur WM 98 in Frankreich nicht schaffte. Argentinien: Die WM 1978, das Ballspektakel fürs Vaterland unter der Militärdiktatur, die Rivalität zwischen den wechselnden ehemaligen Nationaltrainern „El Narigón“ (Große Nase) Bilardo und „El Flaco“ (Der Hagere) Menotti und natürlich das Phänomen Maradona sind die Stationen von Chris Taylor. Das politische Potential des Fußballs wird hier besonders offensichtlich. Die Militärdiktatur wußte dieses geschickt auszunützen. Dagegen half auch nicht der „Waffenstillstand“, den die Montoneros, eine peronistische Stadtguerilla für die Dauer der WM 1978 verkündeten. Ihre Hoffnung, daß sich das Interesse der Welt auf die Verbrechen der Militärjunta richten würde, ging im Siegestaumel beim Gewinn des Titels unter. Ein Titel, durch den der linke Intellektuelle Menotti die Wünsche der Militärs erfüllte.

Andenluft und Fußballtoto
In Bolivien findet Taylor Vereine mit solch schönen programmatischen Namen wie The Strongest, Destroyers oder Always Ready, auch hier kam der Fußball mit der englischen Eisenbahn Ende des letzten Jahrhunderts an. Heute geht es in Bolivien vor allem um eins: der gefährlichste Gegner ist für das Land die Höhenangst der Anderen. Seit der Empfehlung der FIFA von 1995, internationale Spiele ab einer Höhe von über 3.000 Metern über dem Meeresspiegel zu verbieten, sind die bolivianischen Fans außer sich vor Wut und die Souveränität scheint ähnlich bedroht wie vor 150 Jahren, als das Land im „Krieg um den Pazifik“ seinen Zugang zum Meer verlor. Wer hat die Bolivianer denn gefragt, ob sie bei 40 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit in Bahia in den brasilianischen Tropen spielen wollen. In Kolumbien sind es die Drogenkartelle, die eher offen als verdeckt bei jedem Spiel mit auflaufen. Die Mannschaften des Cali-Kartells traten in den achtziger Jahren gegen die des Medillín-Kartells an. Unsummen wurden unter der Regie der Drogenbosse verwettet. Und das nicht nur auf das Ergebnis. Auch darauf, wer den ersten Eckball schießt, wer zur Halbzeit führt, auf nahezu alles. Wurde eine Rechnung danach nicht eingehalten, wurde schon mal mit der Waffe abgerechnet. Viel verändert hat sich bis heute nicht. 1997 stellte eine Untersuchung fest, daß 80 Prozent des Kapitals bei den Topvereinen in den Händen der Drogenkartelle liegen. Trotzdem hat der kolumbianische Fußball aber auch durch seine internationalen Erfolge Aufsehen erregt. Mit einem historischen 5:0 Sieg in Buenos Aires qualifizierte sich die Mannschaft 1993 für die WM in den USA und wurde dort als Geheimfavorit gehandelt. Tatsächlich endete der Ausflug aber in einem Debakel und ein Spieler überlebte die Niederlage nicht. In „Eigentor in den Tod: Warum Andrés Escobar sterben mußte“ beschreibt Taylor dieses dunkle Kapitel. Der Kolumbianer wurde nur wenige Tage nach seinem verhängnisvollen Eigentor im Spiel gegen die USA in seiner Heimatstadt Medellín erschossen. Im Gerichtssaal wurde behauptet, daß der Killer sechs Schüsse abfeuerte und dazwischen jeweils Tor brüllte.

Kommerz, Korruption
und Abhängigkeiten
Nicaragua, „Das Land, das der Fußball vergaß“, durchstreift Chris Taylor hauptsächlich deshalb, weil es eines der wenigen Länder in Lateinamerika ist, in dem der Fußball keine Rolle spielt. Entsprechend geht es in dem Kapitel auch fast mehr um Baseball, den aus den USA importierten Nationalsport, als um Fußball. Aber der Autor sieht einen Hoffnungsschimmer: in der kleinen Stadt Diriamba, von dem Verlag das „Schalke Nicaraguas“ genannt, hat er eine Ecke ausgemacht, in der das Herz für Fußball schlägt.
Nur auf der letzten Station seiner Streifzüge, auf dem Spielfeld Mexiko verläuft sich der Autor. Zu undurchschaubar ist das Geschäft mit dem Fußball. Mannschaften werden nach Bier-sorten benannt oder umgekehrt, und Televisa, das größte Fernsehunternehmen der spanischsprachigen Welt, besitzt neben den Übertragungsrechten auch noch gleich die Vereine selbst. Zu undurchsichtig auch das bizarre Gestrüpp der Ersten Liga, die in vier Gruppen mit vier (oder auch fünf) Mannschaften unterteilt ist. Über Auf- und Abstieg wird nach jeweils drei Saisons entschieden, die durchschnittliche Punktzahl aus allen Runden ist entscheidend. Ähnlich der Situation in der Politik, ist auch der Fußball in Mexiko ein unentwirrbares Knäuel von Kommerz, Korruption und Abhängigkeiten. Trotzdem glauben aber die Mexikaner, ihr Fußball sei sauber. Nicht daß sie es nicht besser wissen würden, die seit jetzt 69 Jahren regierende PRI, die Partei der Institutionalisierten Revolution, hat dafür zu viel Anschauungsunterricht geliefert; sie wollen die Wahrheit nicht wissen.
Obwohl vom Stil her sehr unterschiedlich, haben die Fußballbücher von Eduardo Galeano und Chris Taylor doch vieles gemeinsam. Die Verfasser outen sich als leidenschaftliche Fans und beide versuchen, das Spiel mit dem runden Leder, bei dem die Tore lauern, auf ihre ganz eigene Weise zu schildern. Und beide schreiben über viel mehr als nur über das Spiel mit „dem rollenden Runden im flachen Eckigen“ (A. Mitscherlich). Der eine als Schriftsteller, der andere als Journalist. In ihrer gemeinsamen Unterschiedlichkeit ergänzen sich die beiden Bücher deshalb hervorragend. Ein perfekter Doppelpack für alle diejenigen, die vor dem Spiel und nach dem Spiel immer noch nicht genug von der „Droge“ Fußball haben. Aber genauso für die anderen, die es auch geben soll: wer immer schon mal verstehen wollte, wieso man in Begeisterung ausbrechen kann, wenn 22 Verrückte nach einem Ball treten, der ist vielleicht nach der Lektüre weniger ratlos
Natürlich darf in beiden Büchern auch nicht der Querpaß auf den neben Pelé und Maradona berühmtesten Fußballer des lateinamerikanischen Kontinents fehlen, einen asthmakranken Torhüter aus Argentinien mit dem Vornamen Ernesto, der später in Kuba und dann in Bolivien seinen Teil zur lateinamerikanischen Identität beitrug. Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Eduardo Galeano „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag 1997, Wuppertal, 277 Seiten.
Chris Taylor „Samba, Coca und das runde Leder“, Schmetterling Verlag 1998, Stuttgart, 223 Seiten.

Der Präsident der NichtwählerInnen

Costa Rica wird ab dem 8. Mai 1998 einen neuen Präsidenten haben: Miguel Angel Rodríguez vom christdemokratischen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC). Er löst nach der Wahl vom Februar 1998 seinen Vorgänger José María Figueres vom sozialdemokratischen Partido Liberación Nacional (PLN) ab. Ein neuer Präsident alle vier Jahre ist an sich nicht ungewöhnlich in Costa Rica, das sich gerne selbstgefällig als die „Schweiz Mittelamerikas“ bezeichnet. Auch vor der Gründung der II. Republik vor einem halben Jahrhundert wurde das in der Verfassung enthaltene Verbot einer unmittelbaren Wiederwahl eines Amtsinhabers strikt beachtet.
Costa Rica ist nun definitiv nicht mehr der nahezu sichere Erbhof der Sozialdemokratie in Lateinamerika. War es vor den 80er Jahren lediglich zweimal rechten Parteien gelungen, die Spitze der Exekutive zu erobern, so wechseln sich seit der Präsidentschaft des Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias (PLN) von 1986 bis 1990 die Kandidaten der beiden großen Parteien des Landes, PLN und PUSC, in schöner Regelmäßigkeit in der Casa Presidencial ab. Die Wahl des Christdemokraten Calderons im Jahre 1990 kann vom PLN nun nicht mehr als kleiner ‘Betriebsunfall’ interpretiert werden.
Bereits 1994 war es der sozialdemokratischen PLN nicht gelungen, die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten zu stellen. Der damalige Sieg ihres Kandidaten Figueres war weniger der Partei und einer ihr ‘in Treue fester’ Klientel zu danken, als vielmehr dem Umstand, daß jener sich erfolgreich als ‘Macher’ gerieren konnte und vom Nimbus seines Vaters ‘erleuchtet’ wurde, der nicht nur ‘Begründer’ des PLN, sondern auch mehrfacher Präsident des ‘Neuen’ (sozialdemokratischen) Costa Ricas war.

Talfahrt für den PLN

Die 98er Wahl wurde für den PLN zum Desaster: Die Präsidentenschärpe geht an ein PUSC-Mitglied, die Parlamentsfraktion verkleinert sich von 28 auf gerade noch 22 Diputados (also nur noch 40,4 und nicht mehr 49,1 Prozent der Sitze) und nur noch fünf von 81 Kommunalparlamenten werden in Zukunft von einer absoluten PLN-Mehrheit beherrscht werden. Bei diesen Zahlen wundert es nicht, daß es dem PLN in keiner der sieben Provinzen des Landes gelungen ist, die Mehrheit der Abgeordnetenmandate zu erringen.
Beließe man es bei dieser Betrachtung, so entstünde unweigerlich der Eindruck, die Pfleglinge der Konrad-Adenauer-Stiftung, die PUSC, hätten einen Sieg auf der ganzen Linie zu verbuchen gehabt. Doch weit gefehlt: zwar siegte Rodríguez mit 46,85 Prozent der Stimmen, doch sein Hauptgegner vom PLN, José Miguel Corrales, lag nur 2,41 Prozentpunkte beziehungsweise knappe 34.000 Stimmen hinter ihm.
Hinzu kommt, daß die christlich-soziale Union keine absolute Mehrheit im Parlament hat, sondern lediglich 27 von 57 Abgeordneten stellt und nur in knapp 46 Prozent der Cantones mit einer eigenen Mehrheit allein regieren kann.
Wer sind nun die eigentlichen ‘Gewinner’ der Wahlen von 1998? Die Gewinner sind zum einen die ‘Parteien’ der NichtwählerInnen beziehungsweise der Ungültig-Stimmenden. Diese steigerten ihren Anteil unter den wahlberechtigten BürgerInnen beim Kampf um das Präsidentenamt um mehr als 50 Prozent und konnten fast ein Drittel für sich verbuchen. Damit sind sie jetzt die neue ‘Dritte Kraft’, die nahezu so stark ist, wie jede der beiden bisherigen traditionellen Parteien PUSC und PLN. So stark wie im übrigen noch nie seit Ende der 50er Jahre. Damals reagierte man auf ein vergleichbares ‘Hoch’ dieser ‘Fraktion’ mit der Umdeklarierung des Wahlrechts in eine BürgerInnenpflicht. Eine Nichtbefolgung derselben zog und zieht allerdings keine Sanktionen nach sich. Dennoch war dieser Akt ausreichend, um seither eine hohe Wahlbeteiligung zu gewährleisten.
Zum anderen sind die Gewinner der Wahlen eine Reihe von Klein-, Kleinst- und Regionalparteien, die zusammen beim Kampf um das Präsidentenamt 8,8 Prozent der gültigen Stimmen errangen. Um ein Vielfaches größer war ihr Erfolg bei der Parlamentswahl: Fast 332.000 Stimmen entfielen auf KandidatInnen einer der bei der Wahl von Diputados angetretenen Kleinparteien, so daß nun nahezu jede vierte der überhaupt gültigen Stimmen (genau 23,9 Prozent) den beiden traditionellen Parteien vorenthalten wurde. Aufgrund der Stimmenverteilung auf eine solche Vielzahl von Parteien errangen sie allerdings nur gut 12 Prozent der Parlamentsmandate. Insofern wird ihr Gewicht im nationalen Parlament selbst weit unter ihrer gesellschaftlichen Relevanz liegen. Was die kommunale Ebene anbelangt, so ist hier die Situation eine andere: in 39 von 81 Gremien werden VertreterInnen aus ihren Reihen das Zünglein an der Waage darstellen, soweit es nicht zu Koalitionen oder Absprachen zwischen den beiden Großparteien kommt.

Zünglein an der Wage

Interessant dürfte sein, wie sich Rodríguez eine parlamentarische Mehrheit verschafft. Eine Möglichkeit besteht in einer intensiveren Zusammenarbeit mit dem PLN, was allerdings angesichts der Tradition des bipartidismo im Lande wenig wahrscheinlich ist. Denkbar ist auch der ‘Einkauf’ der fehlenden beiden Stimmen oder ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten. Unabhängig davon, welchen der beiden Wege man gehen wird, eine Erhöhung des Ansehens der Parteien und Institutionen und des Vertrauens in diese ist von keinem derselben zu erwarten.
Zu klären bleibt allerdings, wie es zu einer solchen Situation gekommen ist. Die Krise des zentralamerikanischen Landes hat nicht erst gestern begonnen. Den zu ihrer Beendigung versuchten Rezepten blieb bislang ein allgemein überzeugender Erfolg versagt. Nachdem der PLN weitgehend abgewirtschaftet hatte, hatte man es mit dem ‘jungen’ Calderon von der PUSC versucht. Als der Junior, von 1990 bis 1994 im Amt, die in ihn gesetzten Erwartungen allerdings nicht erfüllte, erhielt der Sohn desjenigen, der einst mit Waffengewalt seinen Vater von den Schalthebeln der Macht entfernte, sein Sozialstaatsmodell aber übernahm und ausbaute, seine Chance, die er aber ebenso wie sein Vorgänger verspielte. Als Calderon und Figueres Mitte 1996 auch noch zu kooperieren begannen, hatte sich ein Bild herausgeschält, das auf folgenden Nenner gebracht wird: „Wenn die PRI in Mexiko ein Monster ist, so haben wir in Costa Rica auch eins, aber ein Monster, das sogar zwei Köpfe hat: PUSC und PLN.“

Viel Geld, wenig Erfolg

Der Wahlkampf trug wenig dazu bei, diesen Eindruck zu verwischen. Der jetzt gewählte Rodríguez hatte seine Kampagne seit Mitte ’96 weitaus professioneller angegangen als die potentiellen ‘Thronanwärter’ in den Reihen des PLN, die zudem untereinander stark zerstritten waren. Der PLN hatte zudem noch unter dem wachsenden Sympathieverlust ‘seiner’ Regierung Figueres zu leiden.
Berücksichtigt man allein die Quantität des bei der Wahlschlacht eingesetzten Materials, so hätte der PUSC eigentlich einen haushohen Sieg davontragen müssen: in den ersten sechs Monaten 1997 gab die Partei mehr als 123 Millionen Colones – und damit fast dreimal soviel wie der PLN – für Fernsehwerbung aus. Sie verdoppelte in den letzten drei Monaten diese Summe sogar noch und übertrumpfte so den Gegner um mehr als das Zehnfache. Allein die WählerInnen honorierten diese Anstrengungen finanzkräftiger Kreise hinter dem PUSC nur bedingt.
Mehr als die Hälfte der im Rahmen einer länderver- gleichenden Studie in Costa Rica Befragten mochten den Parteien auch nicht nur das geringste Vertrauen entgegenbringen, was im Vergleich zu den anderen zentralamerikanischen Ländern diesem ‘Hort der Demokratie’ einen Spitzenplatz auf der negativen Rangliste beschert. Auch gegenüber dem Parlament und der Regierung sind in Costa Rica die Vorbehalte so groß wie in keinem seiner Bruderländer.
Insofern war es fast gleichgültig, mit welchen Themen man hausieren ging, und nur folgerichtig, wenn zunehmend an die Gefühle der Umworbenen appelliert wurde. Der PLN beschwor seine Dekade del oro während der Gründungszeit der II. Republik, der PUSC die wenigen Heroen des Landes aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und die allseits geliebte Virgen de los Angeles. Beide Präsidentschaftskandidaten gerierten sich als brave Söhne ihrer Kirche, um so wenigstens den Glanz einer angesehen Einrichtung auf sich abstrahlen zu lassen.
Ansonsten war der Wahlkampf nicht nur arm an Inhalten, sondern noch ärmer an Konzepten. Wurde die Wahl in früheren Zeiten nicht ‘nur’ als staatsbürgerliche Pflicht vollzogen, sondern enthusiastisch als „FIESTA cívica“ gefeiert, und zwar nicht ausschließlich von oben, wurde sie nun von den BürgerInnen in einer Art und Weise durchgezogen, als ob es darum ginge, ob man lieber Skylla oder Charybdis den Untergang verdanken will.
Zum Schluß noch eine gute Nachricht: die Repräsentanz der Frauen ist zwar noch weit entfernt davon, als angemessen bezeichnet zu werden, gleichwohl war sie noch nie so gut wie heute. Konnte bis in die 70er Jahre hinein mit zwei Ausnahmen allein der PLN überhaupt Frauen in seinen parlamentarischen Reihen aufweisen, so ist der Frauenanteil in politischen Ämtern bei beiden Großparteien inzwischen auf nie gekannte Höhen geklettert. Beim PLN verfügen Frauen über 26,1 Prozent der Mandate, beim PUSC sind es immerhin noch 18,5 Prozent, so daß nun auf 11 von 57 Parlamentssesseln Frauen sitzen. Noch überraschender aber ist, daß nicht nur beide StellvertreterInnen von Rodríguez Stellvertreterinnen sind, sondern daß dies auch bei einem PLN-Sieg nicht anders gewesen wäre.Man darf gespannt sein, inwieweit diese Entwicklung einen positiven Einfluß auf den weiteren Verlauf der Dinge haben wird.

Mexikanische Regierung im Alleingang

Dies ist der Eindruck, nachdem Präsident Ernesto Zedillo Mitte März einen Gesetzesentwurf unterzeichnete und ins Parlament einbrachte, der den Verfassungsartikel zu den Rechten und der Kultur der Indígena-Völker in Mexiko ändern beziehungsweise ergänzen soll. Der Kompromißvorschlag der COCOPA, vor längerer Zeit vorgestellt und von den Zapatisten gutgeheißen, ist damit hinfällig geworden.
Die Regierung erklärt, die Gesetzesinitiative halte sich vollständig an den Geist der mit den Zapatisten geschlossenen Abkommen von San Andrés vom Februar 1996. Die damals von beiden Seiten niedergelegten “politischen Absichten” seien nun in juristische Formeln umgewandelt worden. Zur Begründung für den Alleingang wird auf die anhaltende Weigerung der EZLN verwiesen, direkte Gespräche mit der Regierung zu führen. Die Zapatisten dürften nicht länger die Entwicklung des Landes bremsen. Innenminister Francisco Labastida spricht von einer zweiteiligen Strategie für Chiapas. Auf der einen Seite sollten die Rechte der Indígena-Völker berücksichtigt werden, auf der anderen Seite gehe es um den Friedensschluß mit der EZLN.
Diese Trennung ist für einen Teil der Opposition nicht nachvollziehbar. Porfirio Muñoz Ledo von der linksgerichteten PRD erklärte, ohne eine Einigung zwischen Regierung und Zapatisten sei mit Gesetzes- und Verfassungsreformen “nichts gewonnen”. Die Nationale Vermittlungskommission hat sich ebenfalls gegen die präsidentielle Initiative ausgesprochen. Sie stimme nicht mit den Vereinbarungen von San Andrés überein und sei als einseitiger Schritt abzulehnen.

Zweiteilige Strategie

Die Regierung fühlt sich offenbar aber ihrer Sache sicher. Dazu hat sie guten Grund. Parallel zur Aktion des Präsidenten hat auch die konservative PAN einen Entwurf zur Indígena-Gesetzgebung ins Parlament eingereicht. Regierungspartei PRI und die PAN haben gegenseitige Verhandlungsbereitschaft über die kaum voneinander abweichenden Initiativen verkündet. Zusammen könnten sie ein Gesetz ohne Schwierigkeit mit der notwendigen Mehrheit durchbringen.
Die Zapatisten und die sie unterstützenden Gemeinden sind militärisch keine Gefahr und von der Bundesarmee eingekreist. Nach wie vor schüchtern paramilitärische Gruppen die Zivilbevölkerung ein.
Das Massaker von Acteal, bei dem 45 Indígenas am 22. Dezember 1997 von Paramilitärs ermordet wurden, gerät bereits in Vergessenheit. Versteckt kann die mexikanische Regierung damit drohen, die aufgehobenen Haftbefehle gegen die zapatistische Führung könnten wieder eingesetzt werden, falls es nicht zum “Dialog” komme.
Die EZLN ist in der Defensive. Für sie ist das Regierungsvorgehen ohne Gesichtsverlust nicht hinnehmbar. Andererseits hat sie wenig Reaktionsmöglichkeiten. In den letzten Jahren hat sie immer wieder auf die zivile Opposition gegen die Regierung gesetzt.
Dieser Druck war nicht stark genug. Eine Stellungnahme der EZLN zur jüngsten Entwicklung steht noch aus. Im Raum steht die Befürchtung der PRD-Fraktion an die Adresse der Abgeordneten aller Parteien: “Machen Sie sich nicht zu Komplizen einer Initiative, die zur Erneuerung der Feindseligkeiten beitragen kann.”

Allgegenwärtige Bedrohung der Zivilbevölkerung

Die „Internationale zivile Beobachtungskommission für Frieden und Menschenrechte“ bildete sich aus dem Netzwerk, das bei den beiden Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus in Chiapas 1996 und Spanien 1997 entstanden ist. Sie umfaßte etwa 200 Personen aus Europa, Lateinamerika und Kanada. Ungefähr eine Woche vor der Ankunft der Beobachtungskommission begann eine üble Pressekampagne gegen AusländerInnen, die sich angeblich in die inneren Angelegenheiten Mexikos einmischten, die Indígenas aufwiegelten und mit den ZapatistInnen sympathisierten. Die meisten Beiträge endeten in der rituellen Forderung nach sofortiger Ausweisung der „AusländerInnen, die sich nicht an die mexikanischen Gesetze halten“. Diese Kampagne hatte aber auch zur Folge, daß das Medieninteresse an der Beobachtungskommission kräftig geschürt wurde und über ihre Arbeit breit berichtet wurde.

Mexikanische Regierung drohte mit Ausweisung

Die mexikanische Regierung hatte uns unmißverständlich klargemacht, daß jede politische Stellungnahme oder Erklärung unserer Kommission als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet würde und unsere sofortige Ausweisung zur Folge hätte. Damit war der Spielraum für das Programm der Kommission klar begrenzt: Wir mußten uns darauf beschränken, in Gesprächen Informationen zu sammeln, konnten aber ausnahmslos mit allen beteiligten Parteien Kontakt aufnehmen. So trafen wir uns
– mit der betroffenen Bevölkerung: dem Congreso Nacional Indígena, Vertretern von Gemeinden aus der Nordzone von Chiapas, Autonomen Gemeinderäten, Vertretern mehrerer Flüchtlingslager, politischen Gefangenen, religiösen und Frauenorganisationen, der nationalen Vereinigung demokratischer AnwältInnen, mit JournalistInnen und Intellektuellen.
– mit verschiedenen Institutionen und Behörden der Zentralregierung (dem Innenminister, der Außenministerin, dem Generalstaatsanwalt, dem Verhandlungsführer der Regierung und der Präsidentin der nationalen Menschenrechtskommission) und Vertretern der Regierung von Chiapas.
– mit Mitgliedern der chiapanekischen PRI und PAN, mit dem PRI-Abgeordneten Samuel Sánchez Sánchez, der gleichzeitig Vertreter der paramilitärischen Organisation „Paz y Justicia“ ist; mit staatlichen und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen; den Vermittlungsinstanzen CONAI und COCOPA; dem mexikanischen Roten Kreuz und der COSEVER, die über die Umsetzung der Abkommen von San Andrés wacht.
Einige andere Treffen konnten hingegen nicht durchgeführt werden: Mit den Militärs der mexikanischen Bundesarmee kam trotz mehrerer Anfragen unsererseits – angeblich aus Termingründen – kein Gespräch zustande. Die Anfrage bei Präsident Ernesto Zedillo blieb unbeantwortet. Die Kommandantur der EZLN mußte unsere Anfrage um einen Gesprächstermin ablehnen, weil sie nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien von der Regierung erhielt.
Nach mehreren Treffen in Mexiko-Stadt reiste die ganze Kommission am 17. Februar nach San Cristóbal. Von dort fuhren wir in die entferntesten Winkel von Chiapas. Anschließend trafen wir uns mit verschiedenen Institutionen in San Cristóbal und Tuxtla Gutiérrez. Am 24. Februar fuhr eine erste Gruppe nach Mexiko-Stadt zu Gesprächen mit den mexikanischen Regierungsstellen. Der Rest der Kommission folgte am 25. und 26. Februar. Offizielles Ende der Kommission war der 28. Februar.
Während unseres Aufenthaltes in Chiapas wurde uns auf drastische Weise deutlich, wie ungeschützt die Zivilbevölkerung der allgegenwärtigen bewaffneten Bedrohung ausgeliefert ist: Am 21. Februar traf sich ein Teil der Kommission mit 110 Delegierten von Gemeinden aus dem konfliktreichen Norden von Chiapas. Dieses Gebiet liegt im Einflußbereich der paramilitärischen Gruppe „Paz y Justicia“. Wenige Stunden nach dem Treffen wurde einer der Gemeindevertreter, José Tila López García, auf dem Rückweg in seine Gemeinde in einem Hinterhalt ermordet. Die Überlebenden des Überfalls, darunter der Vater des Ermordeten, machten „Paz y Justicia“ dafür verantwortlich. Beweise gibt es natürlich keine, aber die Botschaft ist klar: Sicherheitsgarantien gibt es zwar für die Kommissionsmitglieder, aber nicht für die mexikanische Bevölkerung, die sich mit der Kommission trifft.

Mord an Gesprächspartner

Wir beschlossen, am 23. Februar unser Programm zu ändern und einen Teil der Kommission nochmals in die Gegend zu schicken, einmal um eine in der Nähe gelegene Ortschaft zu besuchen, die uns dringend darum gebeten hatte, und zum anderen, um der Familie des Ermordeten einen Besuch abzustatten und ihr unser Beileid auszusprechen. Kurz vor dem Ziel wurden die beiden Busse aber von etwa 200 Personen an der Weiterfahrt gehindert und zur Umkehr gezwungen. Nach Auskunft unserer ortskundigen BegleiterInnen handelte es sich dabei um PRI-Angehörige.
Diese beiden Vorfälle sagen einiges über die Überwachung aus, der unsere Arbeit zweifellos unterlag, und sind ein gutes Beispiel für die zweigleisige Strategie der Regierung: Auf der einen Seite zeigte sie sich bei den offiziellen Treffen mit der Kommission gesprächsbereit, während sie gleichzeitig den Volksorganisationen unmißverständlich drohte, die sich mit uns treffen wollten.
Teil der Regierungsstrategie war auch, daß während unserer Anwesenheit sämtliche Militärsperren abgezogen wurden. Auf dem Rückweg von unserem Besuch im Norden von Chiapas sahen wir die Armee bereits wieder mit dem Aufbau ihres kurz zuvor verlassenen Militärpostens beschäftigt. Nachdem die Kommission eigentlich schon wieder nach Mexiko-Stadt abgereist war, fuhren noch ein paar Leute auf eigene Initiative in einige Dörfer und wurden so Augenzeugen der Rückkehr der mexikanischen Armee auf ihre alten Positionen.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Auf unserer Reise konnten wir uns davon überzeugen, daß die Menschenrechte in Mexiko andauernd und massiv verletzt werden. Dabei sind in den Einflußgebieten der Paramilitärs vor allem bewaffnete Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, wie Brandstiftungen, Vertreibungen, Landraub, Morde, Entführungen, aber auch willkürliche Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung. Selbst Regierungsstellen geben mittlerweile zu, daß Teile des Bundesstaates „unregierbar“ geworden sind und der Rechtsstaat nicht mehr eingehalten werden kann.
Die unbestrittene Existenz von 7 – 12 bewaffneten paramilitärischen Gruppen (Paz y Justicia, Los Chinchulines, Máscara Roja etc.) ist für die weitere Entwicklung des Konfliktes äußerst folgenschwer. Die Anwesenheit der paramilitärischen Gruppen in den Indígena-Gemeinden führt zu einer Verlagerung des Konfliktes zwischen der EZLN und der Regierungsarmee in die Dörfer. Plötzlich stehen sich die Bewohner des selben Dorfes bewaffnet gegenüber. Dieser Aufbau von paramilitärischen Gruppen ist ein Teil des Aufstandsbekämpfungskonzepts. In einem vor kurzem bekannt gewordenen Strategiepapier des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Plan de Campaña Chiapas 94) ist zu lesen, daß zur Unterstützung der militärischen Operationen paramilitärische Organisationen geschaffen und ausgerüstet werden sollten. Weitere Elemente dieses Konzepts sind Desinformation, andauernde Militärpräsenz in den Dörfern mit dem Vorwand, sich um soziale Belange zu kümmern, Abstempelung sozialer Organisationen als Sympathisanten der Aufständischen, Morde und Morddrohungen gegen VertreterInnen von Volksorganisationen, willkürliche Verhaftungen, Folter etc.
So herrschen in den Dörfern und Gemeinden Chaos, Rechtlosigkeit und Willkür. Konflikte entstehen zum Beispiel dadurch, daß Paramilitärs im großen Stil ganze Dorfgemeinschaften vertreiben und ihr Land an andere Familien verkaufen. Diese bezahlen für das Land und fühlen sich gegenüber den Vorbesitzern im Recht. Durch solche Methoden entstehende Auseinandersetzungen werden dann von der Regierung als „interethnische Konflikte“ abgetan. Bei jeder bewaffneten Eskalation hat die Regierungsarmee einen guten Vorwand einzugreifen. Das ermöglicht den Militärs, sich dauernd in der Nähe der Dörfer aufzuhalten. Der immer wieder geäußerte Verdacht, die Armee versuche auf diese Weise, ihr taktisches Ziel – die Liquidierung der EZLN-Führung – zu erreichen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Bericht an Parlamente und Organisationen

Angesichts der zugespitzten Situation in Mexiko wird die Kommission ihren Bericht an das Europäische Parlament und an die Länderparlamente übergeben, die in der nächsten Zeit ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und Mexiko verabschieden wollen. Diese Unterzeichnung sollte unserer Ansicht nach an die Einhaltung bestimmter Bedingungen geknüpft werden (z.B. die Umsetzung der Friedensverträge von San Andrés). Der Kommissionsbericht soll außerdem bei der jedes Frühjahr stattfindenden UNO-Menschenrechtskommission in Genf vorgestellt werden. Es gibt Überlegungen, eine permanente Delegation der Beobachtungskommission in Chiapas zu installieren.

„Es gibt keinen unpolitischen Schriftsteller“

Sie sind ein Schriftsteller, der sich vor allem mit politischen und sozialen Themen auseinandersetzt. In Mexiko sind Sie besonders aufgrund Ihrer kritischen Haltung bekannt. Würden Sie sich als einen engagierten Schriftsteller bezeichnen?

Carlos Monsiváis: Nun, nicht mit diesem Begriff. Der Begriff „Engagement“ ist zu häufig mißbraucht worden. Die Bezeichnung „engagierter Schriftsteller“ wird mit einer bestimmten Etappe der französischen Politik in Verbindung gebracht, der Kulturpolitik Sartres. Später bezeichnete man jene als „engagiert“, die die kubanische Revolution unterstützten; dann scheiterte der Castrismus. Wenn man vom engagierten Schriftsteller spricht, dann bezieht man sich auf eine Art und Weise, sich in die Politik einzumischen, die mißbraucht wurde und einen schlechten Ruf hat. Ich würde mich eher einen escritor participante, einen „beteiligten Schriftsteller“ nennen, der klar von einem linken Standpunkt aus schreibt. Aber den Begriff „engagiert“ würde ich nicht benutzen.

Wenn wir einmal bei dem Begriff von Sartre bleiben, sind Sie trotz des gerade Gesagten der Meinung, daß es so etwas wie eine Verantwortung des Schriftstellers a priori gibt, die ihn auf irgendeine Weise zwingt, sich zu engagieren?

Nein, ich glaube nicht. Für mich selbst empfinde ich diese Verantwortung durchaus, aber ich möchte das keineswegs so verallgemeinern, daß wir alle diese Verpflichtung hätten. Im Augenblick ist das größte Engagement eines Schriftstellers in Lateinamerika, glaube ich, seine Verantwortung bei dem, was er tut, und die kritische Arbeit. Die Aufgabe des Autors ist es, sich für eine Kultur zu engagieren, die drastisch zurückgegangen ist. Man liest sehr wenig, und man liest sehr schlecht. Es gibt eine ganz klare Tendenz dahingehend, Literatur einfach zu vernachlässigen. Bereits in diesem Sinne führt der Schriftsteller einen sehr wichtigen Kampf, in seinem eigenen Interesse. Die Art und Weise, wie er dabei seiner Aufgabe gerecht wird, ist Sache jedes einzelnen. Ich würde mich weigern, hier als Richter aufzutreten.

Das heißt, so etwas wie ein Engagement für die Literatur, auch für das Lesen, für die Worte…

…für die Worte und für die Aufgabe, so gut zu schreiben, wie man kann. Alles andere, alle Forderungen nach einem besonderen Engagement von Schriftstellern, hat letztlich in die Katastrophe geführt. Gegenwärtig stehen wir anderen Problemen gegenüber: dem Aufschwung der elektronischen Medien und einer geradezu dramatischen Abwesenheit eines Sinns für Kultur bei den Regierungen. Dem gilt es entgegenzuwirken. Wir Schriftsteller haben die Verantwortung, uns um das Fortbestehen und die Bereicherung von Kultur und Literatur zu bemühen.

Abgesehen davon, wie Sie persönlich zu Ihrer Berufung oder Verantwortung als Schriftsteller stehen, gibt es ja heutzutage Autoren, die jene Verantwortung ablehnen und die sich als „unpolitisch“ bezeichnen. Wie sehen Sie diese Tendenz, die sich insbesondere nach 1989 abzeichnete?

Wenn diese Autoren das von sich sagen, bitte sehr. Aber es stimmt nicht. Es gibt nicht so etwas wie einen unpolitischen Schriftsteller. Entweder ein Autor unterstützt gewisse demokratische Formen und die Entwicklung zivilisatorischer Werte, oder er unterstützt deren Annullierung und die Fortsetzung von Ungleichheit. Aber gut, wenn sie sich als „unpolitisch“ bezeichnen, ist das ihr Problem. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, ich sage nur, daß es nicht möglich ist. Man kann nicht unpolitisch sein, heutzutage noch weniger. Ein Schriftsteller, der sich kraft seiner Autorität in einem bestimmten Moment nicht zu gewissen Erscheinungen, die seine Mitmenschen betreffen, äußert – und zwar in seiner Eigenschaft als Autor und nicht außerhalb seines Berufs –, der sich nicht gegen Barbarei, Fanatismus oder Fundamentalismus wendet, dem scheint seine Arbeit selbst nicht viel zu bedeuten. Eins ist jedoch klar: Ein Autor, dem Themen, wie AIDS oder Ungerechtigkeit gleichgültig sind, dem auch egal ist, was mit der Demokratie geschieht, der würde das auch in seinen Werken auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringen. Niemand kann bezüglich solcher Themen unpolitisch sein.
Gut, zum Beispiel bei der Poesie, da schreibt jeder, wie er will. Seine Verpflichtung besteht darin, eine Lyrik höchster Qualität hervorzubringen, und zwar im Rahmen formaler Grenzen. Das Thema spielt dabei zunächst keine Rolle. Wenn aber dieser Dichter, weil er eine öffentlich präsente Person ist – die öffentliche Präsenz der Autoren hat nach wie vor noch großes Gewicht in Lateinamerika –, Themen wie Ungleichheit, AIDS, Rückständigkeit, Fundamentalismus aufgrund seiner unpolitischen Haltung niemals berührt, so wird er automatisch zu einem Instrument der Rechten. Daran besteht kein Zweifel.

Meinen Sie, daß jene Autoren, die von sich sagen, „ich bin engagiert für die
Literatur“, die sich als „unpolitisch“ bezeichnen, daß sie…

… nicht die traurigen Erfahrungen der Autoren machen möchten, die die realsozialistischen Regimes unterstützten. Sie möchten nicht die Erfahrungen der Autoren der 30er, 40er, 50er Jahre wiederholen, die an Stalin, an den Stalinismus glaubten und die Kubanische Revolution als eine Demokratie feierten. Darin haben sie recht. Jedoch wenn sie ausgehend von dieser Vorsicht beschließen, Politik aus ihrer Arbeit auszuschließen und sich zu keinem Thema mehr zu äußern, werden sie am Ende von der Rechten instrumentalisiert.

Das heißt, eine klare Parteinahme von Schriftstellern zu konkreten politischen Entscheidungen steht nicht mehr auf der Tagesordnung, sondern Autoren wenden sich heutzutage eher allgemeineren Ideen und Werten wie
zum Beispiel der Demokratie zu?

Ja. Aber es kann auch niemand aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit verhindern, daß sich ein Schriftsteller in einer politischen Partei oder für eine bestimmte Sache engagiert. Ich habe die Kandidatur von Cuauhtémoc Cárdenas unterstützt, und ich stehe politisch auf der Seite der Linken. Nicht etwa, weil ich sie außerordentlich schätzen würde, sondern weil ich mich gegen die Rechten, den Fundamentalismus und die Korruption der PRI wende. Das ist meine Entscheidung. Niemand kann mir das mit dem Argument „das einzige Engagement des Autors gilt der Literatur“ verbieten. In diesem Sinne glaube ich, jeder sollte das tun, was er möchte. Die Erfahrungen mit dem Stalinismus sollten uns nicht in die Arme eines „rechten“ Stalinismus treiben, der mir verbieten würde, mich gegen die Armut auszusprechen.

Stimmt es, daß Paco Ignacio Taibo II Senator für Kultur in der Stadt-Regierung von Cárdenas wird?

Es scheint so, mir ist aber nicht bekannt, daß es schon bestätigt wurde.
(Anm. d. Red.: Paco Ignacio Taibo II war für den Posten des Kultursenators von Mexiko-Stadt im Gespräch, er hat ihn aber letztendlich nicht angenommen.)

Meinen Sie nicht, daß ein Autor, der nicht nur eine Kandidatur unterstützt, sondern selbst einen Posten in der Regierung annimmt, leicht vereinnahmt werden könnte, vom Regierungsapparat geschluckt, so daß er die kritische Distanz verlieren würde?

Sicherlich. Aber wenn wir bedenken, wieviele Schriftsteller in Mexiko für die Regierung arbeiten, die selbstverständlich öffentlich ihr ausschließliches Engagement für die Literatur bekräftigen, grenzt es dann nicht an Zynismus, wenn diese mit den Privilegien eines Funktionärs ausgestatteten Autoren ihren Kollegen vorhalten, daß sie einen Posten in einer politischen Partei annehmen? Ich glaube, diesbezüglich gibt es keine allgemeingültigen Ansichten; jeder hat für sich selbst zu entscheiden.

Die Zeitschrift viceversa schreibt, daß Sie ein großer Verlust für die Literatur sind, weil Sie sich ihr kaum noch widmen.

Ich glaube nicht, daß ich für irgend jemand ein Verlust bin. Ich tue, was ich tue. Daher bin ich in jeder Hinsicht ein Gewinn für mich selbst, und nichts sonst. Man ist da schon wieder dabei zu verallgemeinern.

Man kam zu dieser Schlußfolgerung, weil Sie ja für die Literatur berufen sind, aber nur noch für Zeitungen schreiben.

Mag sein. Aber ich habe eine Wahl zu treffen. Das ist keine politische Entscheidung, sondern eine Frage, die mein Leben betrifft. Wenn hier jemand etwas zu beklagen hat, dann bin ich das, und ich bin es auch, der wählen muß.

Dieselbe Zeitschrift schreibt, Sie hätten eine Art „Ästhetik des Widerstandes“ hervorgebracht. Bedeutet dieses Konzept, die Grenze zwischen Literatur und Politik aufzuheben?

Nein, überhaupt nicht. Das ist eine persönliche Angelegenheit. Ich glaube nicht, daß ich eine „Ästhetik des Widerstandes“ hervorgebracht habe. Das ist eine sehr geschwollene und förmliche Bezeichnung. Ich habe einfach meine Arbeit getan, das ist alles.

Man bezeichnete Sie auch schon als Moralist. Diese Bezeichnung ist, zumindest in Deutschland, mit negativen Assoziationen verbunden.

Das ist sie auch für mich. Denn man geht dabei von der Perspektive Frankreichs des 18. Jahrhunderts aus, die man auf die lateinamerikanische Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts anwendet. Aus der heutigen lateinamerikanischen Perspektive ist ein Moralist das Schlimmste, was es geben kann. Denn das ist eine Person, die sich gegen das Benutzen von Kondomen und Meinungsfreiheit wendet, die die religiöse Bildung in öffentlichen Schulen einführen will und Presse- und Filmzensur befürwortet.

Abschließend noch eine Frage zur Globalisierung und dem Einfluß der Massenmedien, eine Entwicklung, in der das geschriebene Wort scheinbar mehr und mehr an Gewicht verliert. Welche Rolle wird dem Schriftsteller im kommenden Jahrtausend zukommen?

Das ist schwer vorauszusagen. In diesem Moment ist Mexiko, kulturell gesehen, mit 100 Millionen Menschen und – optimistisch geschätzt – vielleicht einer halben Million Lesern nicht das rückständigste Land in Lateinamerika. Aber der Beruf des Autors wird von einer kleinen Minderheit ausgeübt. Seine Präsenz in der Gesellschaft geht zwar bei weitem über seine literarische Tätigkeit hinaus. Allerdings muß ihm seine Bescheidenheit sagen, daß er einer Minderheit angehört, obwohl seine Arbeit unverzichtbar ist, und daß er wiederum von einer immer kleiner werdenden Minderheit gelesen wird.
Übersetzung: Katrin Neubauer

Blutige Weihnachten in Chiapas

Plötzlich kommt ein Lastwagen mit etwa 40 Männern, begleitet von einem Polizeifahrzeug, entgegen. Die Überlebenden aus Acteal erkennen mehr als ein Dutzend der Mörder ihrer Angehörigen wieder. Sie blockieren die Straße und versuchen, die Männer vom Lastwagen zu zerren. Um einen Aufruhr zu verhindern, greift die Seguridad Publica ein und rettet die Verdächtigen vor der aufgebrachten Menge ins Polizeifahrzeug.
Der Trauerzug setzt sich wieder in Bewegung. Keine zwanzig Meter von dem Ort, an dem die meisten der 45 Toten den Schüssen der Paramilitärs zum Opfer fielen, schaufeln Dutzende von Männern seit dem frühen Morgen zwei große Massengräber. Dort werden auch die Särge aufgereiht. Leichengeruch liegt in der Luft.
Die mexikanische Tageszeitung La Jornada bezeichnet den Angriff auf das Dorf Acteal im Bezirk Chenalho im Hochland von Chiapas als das größte Massaker an Zivilisten seit 1968. Der etwa 70 Kilometer nordöstlich von San Cristobal de las Casas gelegene Bezirk hat in den letzten Monaten häufig für Schlagzeilen gesorgt: Chenalho, wo 30 000 Menschen verteilt auf 61 Gemeinden leben, ist seit August 1995 gespalten. Einerseits besteht die alte Verwaltung der Regierungspartei PRI weiter, andererseits eine autonome Gemeinde, die sich als zivile Unterstützungsbasis der EZLN versteht. Die von der PRI dominierte Verwaltung beruft sich auf die Wahlen vom Oktober 1995, zu deren Boykott die EZLN aufgerufen hatte, und bei denen die Wahlbeteiligung unter 25 Prozent lag. Beide Bezirksverwaltungen agieren seit nunmehr zweieinhalb Jahren parallel, wobei die autonome Verwaltung mit Sitz in Polho jegliche staatliche Hilfe ablehnt. Hinzu kommt noch eine dritte Gruppe im Bezirk Chenalho, die sich 1993 aus Protest gegen behördliche Willkür gegründet hat, die mit der autonomen Gemeinde zusammenarbeitet, sich aber nicht der EZLN zuordnen möchte und gegen jede Gewalt ausspricht. Sie nennt sich Sociedad civil Las Abejas. Ausnahmslos dieser Gruppe gehörten die Opfer von Acteal an.
Mit der Konstituierung der autonomen Gemeinde begann auch der Terror: Nach Informationen des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas in San Cristóbal zwingen die PRI-Gemeindevorstände die ansässigen Familien, Schutzgelder zu bezahlen, von denen Waffen und Munition gekauft werden. In zahlreichen Gemeinden wurden BewohnerInnen, die derartige Maßnahmen verweigerten, vertrieben. Anfangs pflegten die Aggressoren, selbst die verlassenen Hütten zu beziehen und sich als reine PRI-Gemeinden neu zu konstituieren. Doch in den letzten Monaten eskalierte die Gewalt: Auf Plünderungen folgten immer häufiger Brandstiftungen und Morde. Bereits vor dem Massaker von Acteal hatte der Konflikt mindestens 29 Tote gefordert und es befanden sich im Bezirk Chenalho sechs- bis siebentausend Menschen auf der Flucht. Sie leben in notdürftig errichteten Flüchtlingslagern, unter Bananenblättern oder Plastikplanen, ohne Latrinen, gesundheitliche Versorgung und ausreichende Nahrung. Manche sind seit Monaten da, andere erst seit ein paar Tagen. Viele sind aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und der nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt erkrankt. Mehrere Kleinkinder sind in den letzten Tagen gestorben.

Paramilitärs schießen in Gottesdienst

Die autonome Gemeinde Polho verteilt die Hilfsgüter, die zuweilen mit LKW aus der Hauptstadt kommen. Einige der Lager sind jedoch nur zu Fuß auf langen Märschen durch den Schlamm zu erreichen. Polho, wo immer nur einige hundert Menschen lebten, hat mittlerweile etwa 5.000 Flüchtlinge zu versorgen.
Dieses Dorf, gleich neben der Gemeinde Acteal, war es, das die PRI- Anhänger gemeinsam mit Angehörigen des Partido Cardenista, einer von der PRI aufgebauten Scheinopposition, am 22. Dezember angegriffen haben. Gegen elf Uhr morgens – gerade wurde in der kleinen Holzkapelle Kleidung vom Roten Kreuz verteilt, während einige der katholischen Abejas-Mitglieder für den Frieden beteten – fielen die ersten Schüsse. Auf die Kapelle, in der und um die sich rund 350 Menschen drängten, ging ein Kugelhagel von zwei Seiten nieder.
Auch als der Trauerzug aus Polho drei Tage später in Acteal zur Beerdigung eintrifft, sind die Spuren noch gut zu erkennen: Berge von Kleidung in der panikartig verlassenen Kapelle, Einschußlöcher in den Holzplanken und Baumstämmen. Nur die Blutspuren an den Bäumen haben Militär und Polizei, die den Ort drei Tage lang besetzt und abgeriegelt hielten, zum Teil mit Machetenhieben abgeschält. Doch in einer Mulde am Hang, in der einige vor den Schüssen Zuflucht gesucht hatten, liegen noch blutgetränkte Kleidung und Tüten mit hastig zusammengerafften Sachen.
Hier, so erzählt ein Mann, habe er in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember gut dreißig Tote gefunden, die kreuz und quer übereinander lagen. “Ich stand oben an der Böschung vor diesem schrecklichen Bild und habe heruntergerufen, ob noch jemand lebt. Eine Frau hatte sich auf ein kleines Mädchen geworfen und es so vor den Kugeln geschützt, und zwei verletzte Frauen habe ich noch aus dem Leichenberg gezogen. Alle anderen waren tot.” Die meisten Opfer hatten Einschußlöcher im Genick und im Rücken. Sie wurden aus etwa vier Meter Abstand, von oben, in der Mulde erschossen, in der sie Schutz gesucht hatten. Direkt an der Kante fand man die Patronenhülsen. Neun der Opfer waren Männer, alle anderen Frauen und Kinder, einschließlich eines Neugeborenen.

Polizei schaut weg

Bereits um 12 Uhr jenes 22. Dezember, also noch während des Massakers, haben italienische Fotografen aus der Ferne einen Polizeitransporter in Acteal fotografiert. Doch der örtliche Polizeichef, Comandante Jesús Rivas, will mit seinen Leuten erst vier Stunden später ins Dorf gekommen sein – zu dem Zeitpunkt also, an dem nach Aussage der Zeugen aus Polho die Detonationen geendet haben. Alles sei ruhig gewesen, so Rivas, die Menschen hätten sich bei seinem Eintreffen in den Häusern verschanzt und geweigert, mit ihm zu sprechen. Und obwohl die Kaserne der Polizei zwischen Polho – wo jeder die Schüsse gehört hat – und Acteal liegt, will die Polizei nichts derartiges vernommen haben. Mittlerweile ist allerdings bekannt, daß die Polizei nur zweihundert Meter von der kleinen Kirche entfernt stand und sich darauf beschränkte, ein paar Mal in die Luft zu schießen. Als dies die Angreifer mit roten Mützen und Halstüchern nicht abschreckte, überließen sie Acteal den Paramilitärs, der Mascara Roja. Diese benutzten Gewehre und Munition, die nicht frei verkäuflich und der Armee vorbehalten sind. Nachdem sie etwa eine Stunde lang auf ihre Opfer eingeschossen hatten, verbrachten sie weitere vier Stunden damit, sie mit Macheten zu verstümmeln. Einigen wurden Hände und Füsse abgehackt, schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt, die Embryos herausgerissen und vielen Kindern die Köpfe aufgeschlagen.

PRI-Bürgermeister als Drahtzieher

Über eine Woche nach dem Überfall auf Acteal sind 39 Angreifer inhaftiert, darunter auch Jacinto Arias Cruz, der Bürgermeister des Bezirks Chenalhó. Er hatte am ersten Tag noch öffentlich geleugnet, daß es in Acteal Tote oder Verletzte gegeben habe. Doch die Anschuldigungen gegen den PRI-Bürgermeister sind eindeutig. Er soll Drahtzieher des Massakers und der seit Monaten anhaltenden Vertreibungen und Morde im Chenalhó sein. Arias Cruz, der über hervorragende Verbindungen zu der Regierung des Bundesstaates Chiapas verfügt, wird bisher lediglich “Anstiftung” zu dem Angriff vorgeworfen.
Inmitten einer Gruppe von Journalisten und Schaulustigen steht auf dem Hauptweg des Dorfes Polho “Luciano”, der Repräsentant der autonomen Zapatistengemeinde und örtliche Verbindungsmann zur EZLN. Sein Gesicht spärlich mit einem Halstuch verdeckt, übersetzt er für die Presse immer neue Berichte von Augenzeugen aus dem Tzotzil. Unter Tränen erzählt Maria Perez Perez, wie Bürgermeister Arias Cruz am Samstag vor dem Massaker eine Versammlung einberufen habe, an der die Vorstände von fünf PRI-Gemeinden des Bezirks teilgenommen hätten. Dort habe er die Gemeindevorstände angewiesen, jeweils 25 bewaffnete Männer für den Überfall auf Acteal zur Verfügung zu stellen. Der Koordinator der Paramilitärs sei Tomas Mendez, ein ehemaliger Militär aus der Gemeinde Los Chorros, die auch als Zentrale der Paramilitärs bekannt ist. Von dem geplanten Angriff erfuhr Maria Perez Perez noch am Samstag von ihrem Ehemann, der Mitglied des Rates von Chenalhó ist. Die Tzotzil-Indianerin wollte daraufhin ihre Familie vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Doch auf dem Weg wurde sie von der Polizei von Chenalhó verhaftet und verbrachte vier Tage im Gefängnis, wo sie von der Polizei geschlagen wurde und nichts zu Essen bekam.

“Mein Mann ist ein Mörder”

Juana Vasquez Perez, eine kaum zwanzigjährige Tzotzil-Indianerin aus Acteal, denunziert ihren eigenen Ehemann als Mörder und Paramilitär. Sie hält ein Foto hoch, wahrscheinlich ihr Hochzeitsfoto, von dem sie ihr eigenes Konterfei abgerissen hat. Zu sehen ist ein junger Mann. “Das ist er, Armando Vasquez Luna aus Quextic, er ist ein Mörder!” ruft sie erregt. Sie hat bei dem Massaker ihre Mutter und zwei Schwestern verloren. Nun ist sie zu ihrem Bruder nach Polho geflohen. Ihr Mann sei bei der PRI, berichtet sie, während der Großteil ihrer Familie zu Las Abejas und ihr Bruder in Polho zu der zivilien Unterstützungsbasis der EZLN gehöre. Da die Angreifer aus den Nachbargemeinden rekrutiert wurden, kann “Luciano” schon zwei Tage später eine komplette Namensliste aller 140 Männer verlesen, die an dem Massaker beteiligt waren.
In den Tagen nach dem Massaker von Acteal kamen Gerüchte auf, daß bewaffnete Gruppen 3.500 Flüchtlinge in einem weit abgelegenem Lager namens X’Cumumal umzingeln wollen. Eine parlamentarische Delegation der oppositionellen PRD aus Mexiko-Stadt hat in der Zwischenzeit gemeinsam mit dem Roten Kreuz und unter Militärbegleitung das Lager erreicht. Auf dem Weg kann die PRD-Delegation noch 400 weitere Flüchtende “befreien”, die in zwei verschiedenen PRI-Gemeinden seit Wochen gefangengehalten und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Doch die Situation in vielen Gemeinden ist nach wie vor unklar: Das Militär hat viele Straßen gesperrt, und auf den einsamen Bergpfaden fühlen sich mittlerweile nur noch die Paramilitärs sicher.

KASTEN:
Das geplante Massaker

Der Schock nach dem Massaker vom 22. Dezember sitzt tief. Das Signal, das von ihm ausgeht, läßt keine Zweifel: Die mexikanische Regierung und die lokal herrschenden Familien in Chiapas lassen nichts unversucht, den Aufstand der indianischen Kleinbauern um jeden Preis zu unterdrücken. Der Dialog hat keine Chance mehr, wenn sich bei den Mächtigen nicht doch noch die Bereitschaft einstellt, auf langangestammte Privilegien zu verzichten. Doch damit ist nicht zu rechnen.
Die Reaktion der Regierung war zwar einerseits die Absetzung des Gouverneurs von Chiapas und des Innenministers sowie die Inhaftierung von am Massaker beteiligten Paramilitärs. Aber gleichzeitig verstärkt Präsident Zedillo die Truppen der Bundesarmee in Chiapas weiter und versucht, das Blutbad als einen “Konflikt zwischen Dorfgemeinschaften” hinzustellen, mit dem die Regierung nichts zu tun hätte. Dabei kam die Order für das Massaker zweifelsfrei und bewiesenermaßen von ganz oben. Seit dem 1. Januar patroullieren Militärs in aggressiver Weise durch die Dorfgemeinschaften der EZLN, und am 12. Januar, während in ganz Mexiko über 200.000 Menschen gegen das Massaker protestierten, feuerten Angehörige einer Polizeispezialeinheit in eine Demonstration in Ocosingo, töteten eine junge Frau und verletzen ihr Kleinkind sowie einen Mann schwer.
Die bestialische Art und Weise, wie die völlig wehrlosen 45 Frauen, Kinder und Männer in Acteal in einem stundenlangen Blutbad ermordet wurden, schockiert, doch das Massaker kommt alles andere als überraschend. Zwischen dem 14. Februar 1995 und dem 7. Januar 1998, der Regierungszeit des jetzt zurückgetretenen Gouverneurs Julio César Ruíz Ferro, sind in Chiapas über 1500 Indígenas der Strategie des “Krieges der niedrigen Intensität” zum Opfer gefallen. 800 von ihnen wurden von paramilitärischen Gruppen erschossen. In den Lateinamerika Nachrichten kommentierten wir die Zuspitzung der Situation kontinuierlich. (vgl. zuletzt LN 282 und 283)
Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), mit der der überwiegende Teil der Opfer der Gewalt der letzten Jahre sympathisierte, hat auf die doppelgesichte Eskalationsstrategie der Regierung mit fast unbegreiflicher Geduld und mit konstanten Versuchen reagiert, einen friedlichen und würdevollen Weg aus der Situation zu finden. Doch wie lange kann sie diesen Weg noch weitergehen, ohne ihre eigene Existenz auf das Spiel zu setzen? Und was kommt dann?
Einen eskalierenden Krieg kann jetzt nur noch die mexikanische Oppostionsbewegung und die internationale Öffentlichkeit aufhalten. Eine Entwicklung, wie wir sie aus dem Guatemala der 80er kennen, kann nur verhindert werden, wenn die mexikanische Regierung gezwungen wird, die Bedingungen für einen gleichberechtigten Dialog mit der EZLN zu schaffen. Das bedeutet konkret, daß die Vereinbarungen von San Andrés vom Februar 1996 über “Indianische Rechte und Kultur” endlich als Gesetzesvorlagen den Parlamenten zugeführt werden müssen. Gleichzeitig müssen die paramilitärischen Organisationen (Paz y Justicia, Los Chinchulines, Máscara Roja, Movimiento Indígena Revolucionario Antizapatista, Alianza San Bartolomé de los Llanos, Los Degolladores, Fuerzas Armadas del Pueblo und die Brigada Tomás Munzer) entwaffnet und aufgelöst werden sowie die Bundesarmee aus den Konfliktgebieten zurückgezogen werden.
Boris Kanzleiter

“Der Krieg wird in den höchsten Sphären der Regierung geplant”

Wie kann der mexikanische Innenminister Emilio Chauyffet (mittlerweile zurückgetreten, d. Red.) weiterhin darauf beharren, es handele sich bei dem Massaker von Acteal um das Ergebnis von “interkommunitären” Konflikten. Schließlich besteht kaum mehr ein Zweifel daran, daß Mitglieder der Regierungspartei PRI in den Überfall paramilitärischer Gruppen involviert waren?

So soll versucht werden, einen Konflikt zu verdunkeln, der Teil eines umfassenderen, staatlich geplanten Krieges ist. Als religiöses Problem konnte die Situation in der Region Chenalho nicht dargestellt werden, da sowohl der Bürgermeister von Acteal als auch der Bürgermeister der autonomen Gemeinde von Chenalho Presbyterianer sind. Also wird nach einem anderen Vorwand gesucht. Und deshalb wird der Konflikt als interkommunitär dargestellt. Der Innenminister versucht die Regierungsstrategie zu verheimlichen, die darin besteht, nicht die Armee sondern die PRI-Basis auf die EZLN loszujagen, und so Konflikte an der Basis auszulösen.

Die Regierungsstrategie scheint darauf hinauszulaufen, öffentlich zu erklären, daß alle Konfliktparteien, also Paramilitärs und EZLN, “verhandeln” müßten. Das Ergebnis solcher Verhandlungen kann dann natürlich nur die Rückkehr zum vorherigen Status Quo sein. Wie wird die Conai gegenüber einer solchen Strategie reagieren?

In der Geschichte von Chiapas hat es bereits zwei Mal Indianer-Kriege gegeben, die auch Aufstände gegen die Marginalisierung, den Rassismus, die Armut und die Ausbeutung waren. Auch damals wurden von Regierungsseite andere Konfliktursachen vorgeschoben. Heute werden paramilitärische Gruppierungen geschaffen, um sie der EZLN gegenüberzustellen. Die Regierung will dann als Vermittler auftreten, obwohl sie doch die Hauptverantwortung für diese Strategie trägt. Als Conai sprechen wir weder für die Regierung, noch für die EZLN. Wir wollen die Seiten nur einander näherbringen und die Verhandlungen erleichtern. Aber man darf nicht vergessen, daß die EZLN fünf Bedingungen gestellt hat, um die Gespräche mit der Regierung wieder aufzunehmen. Eine davon ist die Auflösung der paramilitärischen Gruppen. Die Verhandlungen sollen mit der Regierung und nicht mit den Paramilitärs stattfinden. Diese Bedingung wurde bisher nicht erfüllt. Und hier ist die Regierung gefragt und nicht die EZLN.

Eine ähnliche Situation existiert auch in Kolumbien, wo die Guerilla es ablehnt, mit den Paramilitärs zu verhandeln, da sie die Gesamtverantwortung bei der Regierung sehen. In den letzten Monaten erinnert die Situation in Chiapas stark an Guatemala und Kolumbien …

Ja, es ist das gleiche Schema, auch wenn sich die Situation in Mexiko doch unterscheidet. Die EZLN ist unter anderen Bedingungen entstanden. Es gab keine Sowjetunion und auch kein sandinistisches Nicaragua mehr. Kuba ist auch keine Unterstützung, die Berliner Mauer ist gefallen, und wir befinden uns mitten in einem Prozeß nationaler und internationaler Neuordnung der Kräfte. Dann spielt natürlich auch die Form eine Rolle, in der sich die EZLN auf internationaler Ebene bewegt hat. Das hat zu einer großen Solidarität geführt, so daß es bisher nicht zu einem Vernichtungskrieg wie anderswo gekommen ist, und wie es die Regierung ursprünglich vor hatte. Diese Bedingungen schaffen für die Zivilgesellschaft Möglichkeiten zu intervenieren. International wird von der Solidaritäts-Bewegung etwa versucht, Mexikos Ökonomie zu treffen. Zum Beispiel wird versucht, Druck auszuüben, damit die Staaten der EU sich gegen die Ratifizierung des Abkommens mit Mexiko aussprechen, wenn es nicht eine minimale Respektierung der Menschenrechte gibt.

Wie sieht die “Kriegsführung niederer Intensität” in Mexiko genau aus?

Zentral ist, daß die Regierung natürlich nicht zugibt, daß Krieg herrscht. Zudem kann man beobachten, daß die Paramilitärs genau in den Gebieten der EZLN auftauchen und geographisch eine Barriere Richtung Küste und dem Gebiet der geplanten interozeanischen Verbindung bilden. (Siehe LN 283) Dort sind die besseren Böden und in dieser Region sollen auch Freihandelszonen entstehen. Daher soll es dort, wo die unmittelbaren ökonomischen Interessen stark sind, ruhig bleiben, während es ansonsten egal ist, ob sich die Indios umbringen. Hier wird das ganze Gebiet vom Aufbau paramiltärischer Gruppen erfasst. Wenn wir uns die Karte anschauen, so stellen wir fest, daß überall erst die Nationalpolizei Seguridad Publica Präsenz zeigt. Sie schürt die Konflikte in den Gemeinden. Irgendwann tauchen dann Leichen auf und die Polizei präsentiert der Öffentlichkeit die Situation als Gemeindekonflikt, Hexerei oder anderes. Alldem liegen natürlich politische Konflikte zugrunde: Die Leute sind aufständisch geworden, sie wollen diese Regierung nicht mehr, aber auch nicht den Krieg. Es ist offensichtlich, daß dieser Krieg in den höchsten Sphären der Regierung geplant wird, und so dienen auch viele Regierungsumbildungen einzig dem Ziel, diese Kriegsführung zu verfeinern. Es wurde bereits nachgewiesen, daß jede paramilitärische Gruppe an einen Abgeordneten gebunden ist. Man sieht also, es handelt sich um ein gut durchdachtes Schema, mit dem die PRI-Gemeinden militärisch organisiert werden. Das ganze läuft in direkter Verbindung mit einer zunehmenden Militarisierung der Region. So findet sich dann auch unter dem Dokument, das die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia von Seiten der Regierung mehrere Millionen Pesos für “Anbau und Viehzucht” zukommen läßt, keine einzige Unterschrift aus der zuständigen Behörde. Dafür aber die des Oberbefehlshabers der 7. Militärregion, Mario Renan Castillo. Die paramilitärischen Gruppen sind der Vorhang, hinter dem sich die Armee versteckt. Militär und Polizei bilden die Paramilitärs für den Krieg gegen die zapatistischen Gemeinden aus, tauchen aber selbst nicht auf und können so für die Taten nicht angeklagt werden. Daß die PRI-Gemeinden sich die Hände schmutzig machen, oder der Bürgermeister von Chenalho inhaftiert wird, ist ein tragbares Opfer, solange Polizei und Armee sauber bleiben. Dieses Vorgehen ist einerseits die Folge davon, daß Armee und Polizei in bestimmte Gebiete nicht mehr eindringen konnten und – auf Kosten der 45 Toten – andererseits der Vorwand, um jetzt genau dort hinein vorzudringen. Das System und die Regierung tauchen nicht mehr auf. So soll verhindert werden, daß man sie verantwortlich machen kann.

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