Editorial Ausgabe 313/314 – Juli/August 2000

Die Geschichte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist wenig ruhmreich. In den knapp 52 Jahren ihres Bestehens war die OAS stets eine Marionette der USA. Während sie eng mit Despoten wie Batista, Somoza, Stroessner oder Pinochet zusammenarbeitete, schloss sie Kuba 1962 als Mitglied aus. Die US-Interventionen auf der Dominikanischen Republik oder Grenada wurden als Gemeinschaftseinsätze zur „Rettung der Demokratie“ verkauft.Vor wenigen Jahren wurde in die Charta der OAS ein neues Ziel aufgenommen – die „Förderung der repräsentativen Demokratie“. Doch die Nagelprobe ging Anfang Juni beim Treffen der OAS-Außenminister im kanadischen Windsor daneben, als die Versammlung sich nicht dazu durchringen konnte, den offensichtlichen Wahlschwindel in Peru zu verurteilen, entgegen den Schlussfolgerungen einer eigens nach Lima entsandten Beobachterdelegation der OAS. Bei der Entscheidung fiel auch nicht ins Gewicht, dass die peruanische Regierungsmafia um Fujimori und den als Geheimdienstchef amtierenden Mörder und Drogenhändler Vladimiro Montesinos bereits lange vor den Wahlen die Weichen zum Betrug gestellt hatte. Durch Bestechung und Erpressung war es ihr gelungen, die größten Medien, die Legislative und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen.
Allerdings waren die Karten dieses Mal bei der Abstimmung anders gemischt als früher. Ausgerechnet die USA – mit Kanada, Argentinien und Costa Rica im Schlepptau – wollten die peruanische Diktatur an den Pranger stellen. Jene Macht, die sich bislang in Lateinamerika eher als Totengräber demokratischer Grundwerte einen Namen gemacht hatte. Die übrigen dreißig Mitgliedsstaaten der OAS empfanden eine Verurteilung der peruanischen Regierung als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.
Die Zeiten haben sich verändert und sind doch gleich geblieben. Die mittlerweile konkurrenzlos gebliebene Weltmacht USA kann es sich leisten, weniger plump zu agieren. Und die sogenannten „jungen lateinamerikanischen Demokratien“ stimmen ab wie damals, als sie noch von der Armee regiert wurden. Das ist in einigen Fällen wenig erstaunlich. Während in Bolivien niemand anders als der ehemalige Diktator Hugo Banzer auf dem Präsidentenstuhl sitzt, ist im Nachbarland Paraguay immer noch die Colorado-Partei Alfredo Stroessners an der Macht. In Ecuador setzte das Militär direkt den Präsidenten ein. Der Präsident El Salvadors gehört der Arena-Partei an, die einst mit den Todesschwadronen in enger Verbindung stand, und sein guatemaltekischer Kollege versucht sich gerade erst von seinem Ziehvater freizumachen: dem Massenmörder und Putschisten Rios Montt.
Von Ländern wie Venezuela oder Mexiko war erst recht nicht zu erwarten, dass sie sich einer Verurteilung der peruanischen Regierung anschließen würden. Der machtorientierte Präsident Chávez fuhr kurz nach der peruanischen Wahlfarce sogar zusammen mit seinen Kollegen Banzer, Noboa und Pastrana zum Gipfel der Andenstaaten nach Lima und umarmte Fujimori öffentlich. Die mexikanische PRI ist selbst ein gebranntes Kind. Schon 1988 konnte sie nur durch massiven Wahlbetrug den Machtverlust abwenden.
Überraschend ist aber, dass Brasilien, Chile und Uruguay sich den USA nicht anschließen mochten. Die Begründung des brasilianischen Präsidenten Cardoso für seine Politik der Nichteinmischung lässt sich dahingehend interpretieren, dass es ihm um eine von den USA unabhängige Politik und um den Führungsanspruch in der Region geht.
Dabei gibt es wahrlich genügend Gelegenheiten, sich gegen die US-Politik in der Region zu wenden. Zum Beispiel könnte Brasilien die milliardenschwere Militärhilfe für Kolumbien ablehnen, die soeben bewilligt wurde und den Bürgerkrieg weiter schüren wird. Oder den Schuldenerlass auf die Tagesordnung setzen. Aber dass Wahlmanipulationen einer diktatorischen Regierung zu deren inneren Angelegenheiten gerechnet werden, darf nicht hingenommen werden. Selbst dann nicht, wenn sich mit den USA ein zweifelhafter Bündnispartner anbietet.

Fox in Cowboystiefeln

Fast hätte es die zweite Fernsehdebatte der drei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten am 26. Mai wegen eines Zwistes über die Modalitäten des Treffens gar nicht mehr gegeben. So aufgeheizt ist in Mexiko inzwischen die politische Arena fünf Wochen vor den Wahlen am 2. Juli. Aus 90 Minuten Wahlkampfpolemik, von fünf Fernseh- und 150 Radiosendern live übertragen, ging wie auch schon in der ersten Fernsehdebatte Ende April, der PRI-Kandidat als Verlierer hervor. Auf die Frage, welcher der Kandidaten das beste Bild abgegeben habe, stimmten sogar eine größere Anzahl der telefonisch Befragten für Cárdenas als für Labastida. Deutlicher Sieger war auch dieses Mal Vicente Fox, der auf über vierzig Prozent der Stimmen kommen würde, wären am nächsten Sonntag Wahlen.

Moderner Caudillo

Fox ist auch für seine eigene Partei, die PAN, ein Phänomen. Mit ihrer rechtskonservativen kirchen- und unternehmerfreundlichen Politik bietet sie ihm zwar ein Zuhause, ein Parteimensch ist er aber nicht. Als Gouverneur von Guanajuato fing er an, zielstrebig auf eine Präsidentschaftskandidatur hinzuarbeiten und weiteren potentiellen Anwerbern auf den Posten das Wasser abzugraben. So ist es auch nicht in erster Linie seine Partei, die ihn unterstützt, sondern die „Freunde von Fox“.
Dass eine Bevölkerung, für die die Trennung von Staat und Kirche eine unantastbare Errungenschaft der Revolution darstellt, zu so einem großen Maße eine Partei favorisiert, die das Gegenteil verkörpert, ist erstaunlich aber nicht unerklärlich. Vor allem versteht es Fox, sich zu vermarkten. Nach 16 Jahren Tätigkeit als Chef des Coca-Cola-Konzerns in Mexiko ist er auch heute noch mehr Unternehmer als Politiker. Zu seinem großen und kostenintensiven Stab von Beratern und Publicity-Managern gehört auch der einflussreiche und eher linksliberale Intellektuelle Jorge Castaneda, der 1994 Berater von Cárdenas gewesen ist. Mexiko bekommt eine neue Art der Wahlkampfkampagne zu sehen, die den farblosen Parteifunktioär Labastida und den aufrichtigen Moralisten Cárdenas ziemlich antiquiert erscheinen lassen. Für Fox zählen in erster Linie weder die für Cardenas typische Rundreise von Gemeinde zu Gemeinde noch die traditionellen PRI-Slogans in Form von tonnenweise Farbe an allen Mauern und Häusern.
Für ihn werben kurze und pfiffige Werbespots und Videoclips nach der US-Manier des absoluten Nicht-Slogans. Das „Ya“, das „Jetzt“ von Fox wird der Inbegriff für den Wechsel. Fox ist der typische Caudillo mit einem Hang zum Größenwahn. Am liebsten redet er von sich in der dritten Person: „Nicht die PAN wird regieren, sondern Fox“. Mit Cowboy-Stiefeln und machohafter Charro-Manier macht er zwar weder einen seriösen noch einen intelligenten Eindruck. Doch gelingt es ihm, das Bild eines dominanten Machers zu basteln, der für alle Probleme eine schnelle Lösung weiß. „Der Wechsel bin ich“, erklärt Fox dazu ganz unverblümt. Darüber hinaus waren Äußerungen von Fox zu notieren, dass er den Konflikt in Chiapas in einem 15-minütigen Gespräch mit Marcos lösen würde, und die Miss- und Vetternwirtschaft von 71 Jahren PRI-Herrschaft in 71 Tagen beheben würde. Und er scheute auch nicht vor der Vermessenheit zurück mit der er die Nationalpatronin, die Jungfrau von Guadalupe, zu seinem Wahlkampflogo zu machen und sich in die Kategorie der Freiheitskämpfer nach dem Vorbild Miguel Hidalgos und Nelson Mandelas einzureihen.
Das alles hat ihm vielleicht Gespött eingebracht. Geschadet hat es ihm aber kaum. Auch scheinen seine Äußerungen, Mexiko brauche eine starke Führung, nicht viele zu beunruhigen. Sein opportunistisches Gebaren hat erreicht, was es erreichen sollte. Fox wurde zu einer Projektionsfläche für die verschiedensten Hoffnungen. Auffällig ist, dass auch immer mehr Intellektuelle und „Linke“ für Fox Partei ergreifen. In der Tat ist die Situation gerade auch für PRD-Wähler schwierig. Der “voto util”, die nützliche Stimmabgabe macht in Mexiko die Runde. Es scheint immer mehr Leute zu geben, die, da sie Cardenas keine Chance bei den Präsidentschaftswahlen einräumen, dazu neigen aus strategischen Gründen Fox zu wählen. Auf diese Weise rückt die Möglichkeit, eine weitere Legislaturperiode der PRI zu verhindern in greifbare Nähe. Allerdings unterscheiden sich die Parteien von ihrer inhaltlichen Ausrichtung kaum. Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik ist quasi identisch. Mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse bedeutet die PAN sogar einen deutlichen Rückschritt. Ob die PAN also wirklich interessiert sein wird, das politische System zu verändern ist mehr als fraglich. In den letzten Jahren haben in wichtigen Entscheidungen die PRI und die PAN immer mit einer Stimme gesprochen. Mit dem maßlos korrupten und kriminellen PRI-Präsidenten Salinas de Gortari (1988-94), der inzwischen in Mexiko zum Schimpfwort geworden ist, hatten weder Labastida noch die PAN Berührungsängste.
Weder die PAN noch Fox können für eine demokratische Öffnung stehen. Die optimistischen Prognosen gehen davon aus, dass allein ein Machtwechsel nach 71 Herrschaft eine Neustrukturierung des politiscshen Geschehens mit sich bringen würde.
Spannend wird am 2. Juli dabei auch sein, wie die Parteien in den Parlamentschaftswahlen abschneiden werden. Hier könnte die PRI zum zweiten Mal die absolute Mehrheit verlieren.
Ob überhaupt eine Partei die absolute Mehrheit erlangen wird ist sehr unklar, die PRD liegt zur Zeit bei 26 Prozent. In diesem Fall könnte das Abschneiden der kleinen Parteien bedeutend werden, die verschiedene Koalitionen denkbar machen würden. Besser sieht die Lage für die PRD in Mexiko-Stadt aus, wo der Bürgermeister neu gewählt wird. Die PRD genießt nach drei Jahren Regierung Wohlwollen bei den BürgerInnen. Die Erfolge des Ex-Bürgermeisters Cárdenas und seiner Nachfolgerin Rosario Robles, – ineffizientes Haushalten und Korruption der Vorgängerregierung zu bekämpfen, die Luft ein wenig zu verbessern und die Kulturpolitik aufzuwerten, – haben die Menschen trotz Diffamierung der Stadtregierung in den Massenmedien registriert.
Das könnte dem PRD-Kandidaten und ehemaligen Parteivorsitzenden Manuel López Obrador gegenüber Jesús Silva Herzog (PRI) und Santiago Crell (PAN) entscheidende Vorteile verschaffen. Zumal López Obrador nachgesagt wird, er sei der richtige Mann dafür, die zerstrittene PRD wieder zusammenzuführen. Seine moralische Integrität und sein sozialdemokratisches Credo verleihen ihm die Anerkennung und Glaubwürdigkeit wie sie Cárdenas genießt. Ein Sieg in der Hauptstadt könnte bei einem schlechten Abschneiden in den Präsidentschaftswahlen für die PRD als Volkspartei überlebenswichtig sein.

Die PRI wird nervöser

Dass ein Oppositionskandidat in den offiziellen Umfragen schon etliche Wochen vor der Wahl auf 35-40 Prozent der Stimmen kommt, hat es in Mexiko noch nicht gegeben. In der PRI sorgt das langsam für Panik. Je schlechter Labastida sich im Meinungsbild darstellt, desto mehr greifen die so genannten Dinosaurier oder Hardliner der Partei durch. Öffentliche Gelder werden weiter zu Wahlkampfzwecken missbraucht und alle Angestellten des Staats- und Parteiapparat aufgefordert, sich für Labastida ins Zeug zu legen. Dabei könnte sich das Stimmenbarometer schon heute zu Gunsten der PRI verschieben, denn die Umfragen erfassen nur die telefonisch erreichbare (und damit meist städtische) Bevölkerung. Auf dem Land wirken sich die teilweise semifeudalen Strukturen und die Abhängigkeit der armen Kleinbauern von den staatlichen Sozialprogrammen positiv für die PRI aus. Dort kann sie noch viele Stimmen mobilisieren. Die Angstmacherei, alles was nicht PRI ist, sei gleichbedeutend mit Chaos und Anarchie, zieht in den oft von der Opposition regierten Städten nur noch geringfügig. Dennoch sind auch diese Angststimmen nicht zu unterschätzen. Die Angst davor, wozu die PRI fähig sein könnte, wenn sie die Wahl verliert, hat der PRI in der Konfliktsituation 1994 sicherlich viele Stimmen eingebracht. Dabei könne man auch Attentate, um ein Klima der Unsicherheit zu produzieren, nicht ausschließen, erklärte der Sicherheitschef von Fox.
Der PRI wird es dieses Mal nicht mehr möglich sein am Wahltag selbst, das Ergebnis zu ihren Gunsten zu korrigieren, wie es noch 1988 bei dem legendären Absturz des Wahlcomputers der Fall gewesen ist. Dafür gibt es inzwischen eine zu aufmerksame Öffentlichkeit und zu viel unabhängige WahlbeobachterInnen. Auch die Wahlbehörde IFE ist seit der Reform von 1996 von der direkten Einflusssphäre der PRI unabhängig. Daher beschränken sich die Möglichkeiten der PRI einzugreifen auf die Zeit vor den Wahlen. Eine Beeinflussung der Stimmabgabe und des Stimmenkaufs im Vorfeld der Wahlen ist wesentlich schwieriger nachzuweisen oder zu verhindern vorzubeugen.
Zunächst sind da die Medien Die größten Fernseh- und Radiosender stehen klar auf Seiten der PRI, Televisión Azteca und Televisa widmen 40 Prozent ihrer Wahlkampfberichterstattung der PRI. Auf dem Land ist die Situation noch dramatischer. In Chiapas sind es 76 Prozent. Die Ausstrahlung eines Aufklärungsspot über Stimmenkauf der Wahlbehörde wurde zwei Monate lang von der nationalen Radio- und Fernsehkammer CIRT verhindert. Es gibt fast in allen Bundesstaaten Beispiele für politisch motivierte Erpressung. So erhielten 300. 000 chiapanekische Frauen, die alle von den staatlichen Armutsbekämpfungsprogrammen der PRI unterstützt werden einen Wahlprospekt von der PRI, indem es heißt, dass ihnen die Sozialhilfe sicher wäre und eventuell auch erhöht würde, wenn Labastida Präsident würde. Laut einer Umfrage von den zu Wahlen und Demokratie arbeitenden Nichtregierungsorganisationen Alianza Cívica und MUND glauben ein Viertel aller Befragten, dass sie keine staatliche Unterstützung mehr bekommen werden, wenn die PRI die Wahlen verliert. Von denen, die eine solche Unterstützung erhalten sind es sogar 50 Prozent. Sieben Millionen Stimmen hängen an Sozialprogrammen.

Zwischen Repression und Hoffnung

Konnte die Bewegung der Studierenden an der UNAM mit der polizeilichen Räumung und der Verhaftungswelle am 6. Februar beendet werden oder geht sie weiter?

Ricardo Cayetano Martínez: Der gewalttätige Eingriff der Polizei bedeutete für unsere Bewegung einen Schlag, aber nicht das Ende. Der Streikrat mobilisiert weiter, um seine zentralen Forderungen durchzusetzen. Das sind einerseits die kostenfreie öffentliche Bildung und andererseits die Demokratisierung der Universitätsstrukturen, damit alle Gruppen an der Universität – Studierende, Lehrende und Beschäftigte – an den Entscheidungen mitwirken können.
Diese beiden Aspekte vereinigen sich in unserem 6-Punkte-Forderungskatalog, der bis jetzt nicht erfüllt wurde. Deshalb werden wir unsere Bewegung nicht aufgeben. Zur Zeit führen wir sowohl Widerstandsaktionen nach außen wie Demonstrationen durch, als auch eine organisierende Arbeit nach innen. Das heißt, wir versuchen die Universitätsangehörigen wieder zu versammeln. Außerdem laden wir die anderen sozialen Gruppen wie die unabhängigen Gewerkschaften und Kleinbauernorganisationen ein, mit ihren eigenen Forderungen zusammen mit uns zu kämpfen.

Wie sieht die Situation der inhaftierten Mitglieder der Studierendenbewegung aus?

Julia Escalante de Haro: Es sind noch immer neun Mitglieder des CGH in Haft, denen sogenannte „schwere Delikte“ vorgeworfen werden. Außerdem sind sie eines neuen Deliktes angeklagt, das erst kürzlich in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Es handelt sich um die sogenannte „soziale Gefährlichkeit“. Das ist ein völlig subjektiv und willkürlich durch den Richter festgelegtes Delikt. Es wird einfach gesagt, diese oder jene Person ist „sozial gefährlich“, auch wenn nichts weiter gegen sie vorliegt. Daher konnten die neun bisher noch nicht auf Kaution freikommen. Die über 900 anderen Gefangenen wurden auf Kaution vorläufig freigelassen. Die Prozesse werden sich voraussichtlich ein Jahr lang hinziehen. Die schwersten Anklagepunkte wurden praktisch nicht zurückgenommen. Wie mit den Angeklagten weiter umgegangen werden wird, bleibt in den Händen der Richter und der Regierung. Diese kann alle Beweise fabrizieren, die nötig sind, um die Studierenden zu verurteilen. Wir leben nicht in einem Rechtsstaat. Natürlich hängt es auch von der Mobilisierungskraft der Bewegung ab, wie mit den Gefangenen umgegangen wird.

Wie läßt sich die Regierungsstrategie beschreiben?

Ricardo: Während der ganzen Zeit der Bewegung verfolgte die Regierung die Strategie, „dem Fisch das Wasser zu entziehen“. Neben der Repression versuchte sie uns mittels einer Medienkampagne zu isolieren, uns als gewalttätig darzustellen und unseren Forderungen die Legitimität abzustreiten. Die autoritäre Politik ging direkt vom Innenministerium und speziell von Francisco Labastida Ochoa aus, der bis vor kurzem Innenminister war. Jetzt ist er der Kandidat der seit 71 Jahren regierenden PRI für die Präsidentschaftswahlen am 2. Juli. Wie in Chiapas folgt die Politik der Regierung den Studierenden gegenüber den Rezepten der psychologischen Kriegführung und der Aufstandsbekämpfung. Es gab Drohungen, Entführungen, Vergewaltigungen, einige „zufällige“ tödliche Unfälle und andere gezielte Übergriffe auf Mitglieder des CGH. Ich selbst wurde im Herbst zwei Tage lang entführt und verhört. All das hat die Bewegung radikalisiert.
Die Regierung hat sich dem Dialog aus zwei Gründen verweigert. Einerseits wollten sie die Bewegung aus dem Weg räumen, damit sie nicht beim anstehenden Wahlprozess stört. Andererseits geht es darum, eine neoliberale Bildungspolitik durchzusetzen und für Lateinamerika ein Exempel zu statuieren. Die UNAM ist ja die größte Universität Lateinamerikas. Es sollen hohe Studiengebühren eingeführt werden, was bedeutet, dass viele nicht weiter studieren können werden. Es sollen Zulassungsbeschränkungen verschärft werden. Außerdem sollen die autoritären Entscheidungsstrukturen an der Universität abgesichert werden. Seit über 30 Jahren sehen diese so aus, dass lediglich eine Person – der Rektor – das letzte Wort hat. Der Rektor stützt sich auf ein Gremium von 15 Personen. Er ernennt die Direktoren der etwa 40 Institute und angegliederten Schulen. Diese organisieren die Mechanismen, mit denen die Mitglieder des Universitätsrats bestimmt werden. Letztlich bedeutet dies, dass mit antidemokratischen Methoden angebliche Repräsentanten der Akademiker und Studierenden gewählt werden. Ohne demokratische Beratung werden so Entscheidungen gegen den Willen der Universitätsangehörigen durchgesetzt.

Die Studierendenbewegung prägte über Monate die öffentliche Debatte in Mexiko. Wie positionierten sich in diesem Kontext kritische Intellektuelle?

Ricardo: Die linken Intellektuellen näherten sich unserer Bewegung zwar teilweise an, unterstützen uns aber nicht wirklich. Sie erklärten, dass unsere Ziele zwar gerecht seien, sie hielten aber immer eine sehr kritische Distanz zu den Methoden, welche die Bewegung entwickelte. Es gab kaum Intellektuelle, die sich mit der Bewegung verbanden. An bestimmten Punkten führten wir eine Debatte mit Gruppen von Intellektuellen. Zum Beispiel formulierten wichtige Intellektuelle, die zu einem bestimmten Moment soziale Bewegungen wie die Zapatistas unterstützt hatten, einen „Vorschlag der Emeritierten“ mit dem sie sich unserer Bewegung annäherten. Dazu gehörten bedeutende Professoren wie Adolfo Sánchez Vázquez, ein exilierter Spanier, der in Mexiko lebt und marxistische Philosophie lehrt. Wir erkennen an, dass sie verschiedene Positionen in die Debatte einbrachten, aber ihr Vorschlag löste keinen einzigen Punkt unseres Forderungskatalogs.
Allerdings näherte sich die Mehrheit der Intellektuellen dem CGH nicht an und führte mit ihm keine Debatten. Das liegt nicht nur in ihrer Verantwortung, sondern auch in unserer. Die Streikbewegung konnte nicht den Raum für eine Annäherung und Debatte mit den Intellektuellen schaffen.
Das gelang uns aber mit großen Teilen der sogenannten „Zivilgesellschaft“. Es gab eine große Sympathie von Hausfrauen, von Jugendlichen, die keine Studierenden sind. Wir bauten eine enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft der Elektrizitätsgesellschaft auf, die ebenfalls privatisiert werden soll. Von den Eltern der Streikenden und Stadtteilorganisationen wurde die Bewegung intensiv unterstützt.

Warum ist die Auseinandersetzung um Studiengebühren in Mexiko so bedeutungsvoll?

Julia: Die kostenlose Bildung ist ein soziales Recht, das durch die Revolution und nachfolgende soziale Bewegungen erkämpft wurde. Es ist sogar in der Verfassung verankert. Mit den neoliberalen Plänen sollen nicht nur die Studierenden ihrer Rechte beraubt werden, sondern die Bevölkerung insgesamt. Die UNAM wird von der Regierung auch angegriffen, weil sie eine Bastion der Linken ist.
Eigentlich müßte jeder Jugendliche mit Hochschulzugangsberechtigung an der UNAM studieren dürfen. Doch die Zulassungszahlen werden ständig reduziert. Und das, obwohl die Nachfrage steigt, weil Mexiko ein Land mit einer sehr jungen Bevölkerung ist. Es geht schlichtweg um die Zukunftsmöglichkeiten unserer Generation, der in den letzten Jahren durch die neoliberale Politik schon so viel genommen wurde. Die Generation der Streikenden wird in Mexiko als die „Kinder der Krise“ bezeichnet. Seit wir denken können, haben wir nichts anderes als den ständigen Zerfall unserer sozialen Möglichkeiten erlebt. Während die Regierung mit Milliarden-Dollar- Beträgen das private Kreditwesen vor dem Bankrott rettet, sind die Reallöhne der Arbeitenden seit Beginn der 80er-Jahre drastisch verfallen. Die Familien der unteren Mittelschicht, aus der viele der Streikenden kommen, sind durch die Wirtschaftskrise von 1994/95 ruiniert worden.

Die Streikbewegung hat seit April letzten Jahres unterschiedliche Etappen durchlaufen, dabei kam es auch zur Herausbildung verschiedener Strömungen. Was sind die Hintergründe?

Ricardo: In den ersten drei Monaten hatte die Bewegung einen sehr spontanen Charakter und konnte breite Sympathien erlangen. An den Instituten und Schulen trafen sich die Studierenden zu Vollversammlungen, die rotierende Delegierte auf die Versammlungen des Allgemeinen Streikrates schickten. Es entstand eine sehr horizontale Struktur der Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt existierten viele Positionen in der Bewegung, die sich dann in zwei Richtungen entwickelten. Ein Flügel, der den Konflikt schnell lösen wollte, und ein radikalerer Flügel, der argumentierte, dass zuerst mehr Kräfte gebündelt werden müssten bevor erfolgreich verhandelt werden könnte. Die große Mehrheit der Streikenden war aber weder im einen noch im anderen organisiert. Sie hatte zuvor kaum politische Erfahrungen gesammelt. Doch die Politik der moderateren Kräfte stieß viele Streikende ab. Sie wandten sich den radikaleren Kräften zu. Die Medien begannen eine einfache Kategorisierung vorzunehmen. Auf der einen Seite die „guten Moderaten“, auf der anderen die „bösen Ultras“, die angeblich mit der Guerilla zusammenarbeiteten. Diese Kategorisierung stimmte zu keinem Zeitpunkt, denn es gab immer viele verschiedenene Positionen, die von Anarchisten bis zu Maoisten reichte. Die meisten bezogen sich allerdings auch positiv auf die Zapatisten.
Das Problem unserer Bewegung war nicht die Unterschiedlichkeit verschiedener politischer Positionen. Das Problem war, dass die Regierung durch eine gezielte Medienkampagne und Provokationen die Studierenden gegeneinander ausspielen wollte. Dazu kam der wachsende Druck durch die Repression und die Verlängerung des Streiks. All das führte zu scharfen internen Auseinandersetzungen. Dennoch konnte die Bewegung die ganzen zehn Monate des Streiks hindurch Zehntausende mobilisieren. Kurz nach der Räumung am 6. Februar zogen in Mexiko Stadt über 150.000 Menschen in einer der größten Protestdemonstrationen der letzten Jahre durch die Innenstadt und forderten die Freilassung der Gefangenen. An Ostern haben wir das “Erste Internationale Studierendentreffen gegen den Neoliberalismus” organisiert, an dem 2.000 Jugendliche aus vielen Ländern teilgenommen haben. Jetzt geht es uns darum, die Bewegung wieder zu reorganisieren, um den Kampf weiterführen zu können. Zwar gibt es momentan Dialoggespräche zwischen Unileitung und CGH, unsere Forderungen werden wir aber nur durchsetzen können, wenn es uns gelingt, neue Kraft zu schöpfen.

Interview: Boris Kanzleiter / Dario Azzellini

So ein Unsinn

Ohne „eine klare Pro- oder Contraposition“ beziehen zu wollen, versuchten in der April-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten Alexander Jachnow und Anne Becker die seit über einem Jahr anhaltenden Studierendenproteste in Mexiko-Stadt zu analysieren. Und hier liegt auch bereits ein Grundproblem. Wer in einem Konflikt zwischen autoritärem Staat, Repression und Gewalt einerseits und für soziale Rechte Kämpfende – trotz all ihrer möglichen Fehler – andererseits keine Position beziehen will, verlässt das Terrain der Solidarität.
So landen die AutorInnen nach einem zudem widersprüchlichen argumentativen Eiertanz bei dem Schluss, die „Apolitisierung und Selbstfixierung der meisten mexikanischen Jugendlichen“ habe „durch den Streik eher zu- als abgenommen.“ Während weltweit Solidaritätsgruppen, Menschenrechtsorganisationen, Nobelpreisträger wie José Saramago, Schriftsteller wie Manuel Vázquez Montalbán und Wissenschaftler wie Immanuel Wallerstein von der mexikanischen Regierung nach der polizeilichen Räumung der UNAM am 6. Februar in Protestnoten forderten, die Repression gegen die Studierenden zu stoppen, resümieren die LN-AutorInnen lakonisch „Siege hat keiner zu feiern. Schade für den Streik.“
Dass der Streik nicht erfolgreich war, ist aber nicht „schade“, sondern eine schmerzhafte (vorläufige) Niederlage. „Schade“ ist dagegen, dass diese in einer Zeitschrift aus der Solidaritätsbewegung wie den LN, auf eine so rotzige Weise abgetan wird.
Zur Sache: Im ersten Satz des Artikels wird die „Mystifizierung des Streiks als eine dynamische studentische Bewegung mit großer politischer Tragweite“ kritisiert. Anscheinend haben sich die AutorInnen trotz ihrer „persönlichen Erfahrungen vor Ort“ nicht so recht mit der politischen Entwicklung in Mexiko befasst. Ansonsten dürfte ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass der beinahe zehnmonatige Streik an der UNAM die quantitativ und qualitativ wichtigste Jugendbewegung in Mexiko-Stadt seit 1968 ist.
Mehrere Tausend Jugendliche haben über Monate hinweg die Institute der Universität sowie zahlreiche ihr angegliederte Schulen besetzt. Immer wieder gelang der Streikbewegung die Mobilisierung von Zehntausenden auf Demonstrationen. Und dies durchaus nicht nur zu Beginn der Bewegung im letzten Frühjahr und nach der polizeilichen Räumung am 6. Februar, wie die AutorInnen behaupten, sondern auch in den angeblich „ereignislosen Wochen“ des Herbstes.
So demonstrierten beispielsweise am 6. November 30.000 Studierende gegen die manipulative Berichterstattung der Fernsehanstalten und blockierten trotz heftigster Repressionsandrohungen und der provokativen Präsenz von 2.000 Polizisten in Kampfmontur stundenlang die zentrale Verkehrsachse Periférico. Das alles, nachdem ein paar Tage zuvor zwei Studierende bei einer Straßenblockade von Polizisten fast tot geprügelt worden waren. In den gleichen „ereignislosen Wochen“ erfasste die Steikbewegung auch einige Landschullehrerschulen im gesamten Land (erinnert sei an die Auseinandersetzungen in El Mexe, Hidalgo) und Gewerkschaften von Beschäftigten im Bildungssektor.
„Dynamisch“ ist zum Beispiel, dass bis zum letzten Tag des Streiks etwa tausend gewählte Delegierte der besetzten Institute und Schulen an den Marathonversammlungen des Allgemeinen Streikrates (CGH) teilnahmen. Dort diskutierten sie konzentriert teilweise mehrmals die Woche in nächtlichen Plenarsitzungen, die sich oft länger als 20 Stunden hinzogen. Mobile Brigaden sammelten täglich Spenden in der Metro, Hunderte wohnten fast ein Jahr lang in den besetzten Unigebäuden.
„Große politische Tragweite“ heißt zum Beispiel, dass kaum ein Tag verging, ohne dass die Studierendenbewegung auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Topstories der Nachrichten auftauchte – meist in verleumdenden Schlagzeilen. Alle politischen Kräfte mussten sich zur Studierendenbewegung erklären. PRI und PAN denunzierten sie, die PRD verhielt sich gespalten, zahlreiche außerparlamentarische soziale Bewegungen, viele unabhängige Gewerkschaften sowie EZLN und andere Guerillas solidarisierten sich.
Die Studierendenbewegung war ganz zweifellos „eine dynamische Bewegung mit großer politischer Tragweite“. Indem die AutorInnen dies abstreiten, gehen sie den ersten Schritt zur Denunziation der Bewegung. Letztlich übernehmen sie die Argumentation der PRI, die stets behauptete, der Streik würde von außeruniversitären Gruppen gegen den Willen der Studierenden geführt. Damit legitimierte die seit 71 Jahren regierende Staatspartei auch die polizeiliche Räumung.

Eine mediale Verleumdungskampagne

Es soll nicht abgestritten werden, dass die aktive Partizipation an der Streikbewegung im Laufe der Monate abgenommen hat. Alles andere wäre auch verwunderlich. Die Studierenden kommen zu einem erheblichen Teil aus schlecht verdienenden Familien und stehen unter großem wirtschaftlichen Druck. Vielen blieb keine andere Wahl, als Arbeiten zu gehen, während der Streik sich stetig verlängerte.
Eine andere Gruppe mag sich aus berechtigter Furcht vor dem beständig wachsenden Repressionsdruck aus der Bewegung zurückgezogen haben. Ein dritter Teil ist durch die harten internen Auseinandersetzungen im CGH frustriert worden.
Doch statt dies primär der Studierendenbewegung anzulasten, muss genau an dieser Stelle eine Analyse der Regierungsstrategie ansetzen, die darauf abzielte, die Streikenden am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Die PRI versuchte mit unterschiedlichen Taktiken den Streik zu verlängern und gleichzeitig Spaltungstendenzen innerhalb der Bewegung zu provozieren und zu vertiefen. Der Streik sollte durch eine mediale Verleumdungskampagne gesellschaftlich isoliert und durch das Einschleusen von Spitzeln und Provokateuren von innen zersetzt werden. Im Laufe der Monate würde die Bewegung – so das Kalkül der PRI – an Kohärenz verlieren, so dass zum finalen Repressionsschlag angesetzt werden könnte, der dann ja auch erfolgte.
Statt die Regierungsstrategie – die im übrigen mit der Aufstandsbekämpfungsstrategie gegen die Zapatistas viele Gemeinsamkeiten hat, wie der renommierte La Jornada Kommentarist und UNAM-Professor Luis Javier Garrido immer wieder betont – zu denunzieren, suchen die AutorInnen den schwarzen Peter bei den Opfern dieser Strategie. Sie behaupten, die Verlängerung des Streiks liege in der Verantwortung des CGH, der gut gemeinte Kompromissangebote der Regierung einfach abgelehnt habe. „Ein fast pathologisches Misstrauen, selbst gegenüber verbindlichen Angeboten oder integeren Personen hat die Verhandlungen bis zur Unmöglichkeit erschwert“, meinen sie. Von welchen „verbindlichen Angeboten“ und „integeren Personen“ die beiden reden, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Sie werden es niemals lüften können, weil beides schlicht nicht existierte.

Verhandeln und verhaften

Die Strategie der Regierung bestand darin, Kompromisse vorzutäuschen, welche die Bewegung nicht annehmen konnte, wollte sie sich nicht aufgeben. Ein Beispiel: Als im Dezember verhandelt wurde, inhaftierte die Polizei knapp 200 CGH-Anhänger auf einer Kundgebung vor der US-Botschaft. Hätte der CGH in dieser Situation weiter verhandeln sollen oder war es nicht notwendig, die Freilassung der Inhaftierten zur Vorbedingung zu machen? Dass die Regierung den Abbruch der Verhandlungen wollte, wird daran deutlich, dass die Straßenschlacht, welche zur Massenverhaftung führte von identifizierten Provokateuren angezettelt worden war. Medial wurde von der Regierung dann der CGH und seine „maximalistische Haltung“ für das Scheitern verantwortlich gemacht. Und Jachnow/ Becker fällt nichts besseres ein, als diese Argumentation zu übernehmen.
Dabei müssten sie es besser wissen. In ihrem Artikel heißt es schließlich: „Die Demokratisierung des Landes ist wieder eindeutig rückläufig. Das bietet keine gute Vertrauensbasis.“ Das Konzept, Verhandlungen vorzutäuschen und gleichzeitig die Repression zu verschärfen, ist allen BeobachterInnen in Mexiko durch den Umgang der Regierung mit dem Abkommen über „Indigene Rechte und Kultur“ vom Februar 1996 bekannt. Die Umsetzung des damals zwischen Regierung und EZLN abgeschlossen Abkommens wird bis heute von Präsident Zedillo blockiert. Bei der Vorsicht des CGH, sich nicht auf Scheinkompromisse einzulassen, stand diese Erfahrung im Hintergrund und kein „pathologisches Misstrauen“.
Über die Einschätzung der Bewegung und über taktische Fehler des CGH kann und muss diskutiert werden. Natürlich haben die in ihrer Mehrzahl zwischen 16- und 23-jährigen Jugendlichen während der letzten Monate viele Fehler gemacht. Aber über eines kann – unserer Meinung nach – nicht diskutiert werden, jedenfalls nicht in einer Zeitschrift, die sich als solidarisch mit emanzipatorischen sozialen Bewegungen in Lateinamerika versteht. Nämlich, dass der „harte Kern der Streikenden“ die gewalttätige Räumung des Campus „selbst provoziert“ habe, wie die AutorInnen schreiben. Diese Aussage kann man als Legitimation der polizeilichen Räumung und der anschließenden Verhaftung und teilweise Folterung von knapp tausend Streikenden verstehen. Sie ist absurd: Glauben die AutorInnen wirklich, dass der CGH bewusst darauf hin gesteuert hat, sich selbst in den Knast zu bringen und langwierige, kostspielige und Kräfte raubende Gerichtsverfahren durchstehen zu müssen?

“Entpolitisierung“ durch Streik?

Die Widersprüchlichkeit des Artikels, welche nahe legt, dass die AutorInnen sich eigentlich nicht so recht klar waren, was sie nun wie analysieren wollten, zeigt sich auch an anderer Stelle. Da ist die Rede davon, dass eine Vielzahl von Medien „eine massive Verleumdungskampagne gegen die Streikenden betrieben“. Ein Satz später wird dem CGH unterstellt, er habe durch sein „aggressives Auftreten gegenüber Journalisten… Sympathien vergrault.“ Was denn nun? Hätten die Streikenden Journalisten und Medien wie Televisa, die sie tatsächlich permanent mit erfundenen Horrorstorys verleumdeten, auch noch selbstverleugnende Freundlichkeit entgegen bringen sollen? Oder ist eine aggressive Reaktion von Jugendlichen, die einen monatelangen Kräfte zehrenden Streik führen, der ihre soziale Existenz gefährdet, auf die Hetzberichterstattung nicht verständlich? Würde jemand in Deutschland auf die absurde Idee kommen, die studentischen Kampagnen gegen die BILD-Zeitung nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 als „irrational“ zu bezeichnen?

Debatte entfacht

Die Grundproblematik der Analyse der AutorInnen liegt in ihrem fehlenden Verständnis der sozialen und politischen Prozesse Mexikos. Während in Mexiko unter Soziologen eine Debatte entfacht wurde, wie die (politisch und sozial) bereits verloren geglaubte „Generation X“ eine solche Bewegung hervorbringen konnte, reden sie von einer angeblichen „Entpolitisierung“, die der Streik unter den mexikanischen Jugendlichen verursacht habe.
Seit dem zapatistischen Aufstand 1994 hat keine soziale oder politische Bewegung in Mexiko so viel Aufmerksamkeit erlangt, so viele Bündnisse hervorgebracht und Diskussionen zwischen verschiedenen Sektoren provoziert wie der UNAM-Streik – an den AutorInnen scheint dies vorbeigegangen zu sein. So war die Streikbewegung an der UNAM, deren Impuls auch andere Hochschulen und Bildungseinrichtungen folgten, die erste Bewegung, die in Mexiko die Prinzipien des Zapatismus wieder aufgriff und versuchte, sie politisch umzusetzen – dass dies nicht immer gelang, kann dem CGH kaum zum Vorwurf gemacht werden. Schließlich gelingt dies unter den Umständen des Belagerungszustandes nicht einmal den Zapatistas selbst. Das Verdienst der streikenden Jugendlichen ist es aber, die Eigenständigkeit bewahrt zu haben – eine Lehre aus dem Zapatismus und von über 70 Jahren des Kooptierens politischer und sozialer Bewegungen durch die PRI. Davon steht allerdings kein Wort im Artikel. Das ist „schade“.

Wer sich aus erster Hand über den Streik an der UNAM informieren will, kann im Mai/ Juni eine der 20 Veranstaltungen besuchen, welche zwei Mitglieder des CGH in verschiedenen deutschen Städten durchführen werden. Die genauen Termine finden sich unter http://www.nadir.org/fels

Sinn und Unsinn eines Streiks

Am 20. April 1999 begann an Mexikos großer staatlicher Universität, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) der längste Streik seit ihrem Bestehen. Erst am 6. Februar 2000 kam es zu einem erzwungenen und vielleicht nur vorläufigem Ende. Dieses Ende bietet nun die Gelegenheit sich kritisch mit dem Streik auseinander zu setzen, seinen Sinn zu hinterfragen und seine Wirkung zu beurteilen, ohne eine klare Pro- oder Contraposition beziehen zu müssen. Doch ist es angesichts der verhärteten Fronten und vielen Facetten des Streiks keineswegs einfach, sich ein Bild zu machen.
Kritik soll nicht an jenem Streik geübt werden, der von der Mehrheit der Studierenden beschlossen worden war, und der als Reaktion auf die Privatisierungsversuche der öffentlichen Bildung begonnen hatte. Deshalb ist es nicht das Anliegen dieses Artikels weiter auf die jetzige Situation der UNAM einzugehen. Diese steht angesichts des geräumten Campus, der eingesperrten AktivistInnen und des bisher recht kläglichen Versuchs der Universitätsleitung zur Normalität zurückzukehren schon wieder unter ganz anderen Vorzeichen. Sie ist von einem erneuten Aufleben breiter Bündnisse zur Unterstützung der Streikenden, insbesondere der Inhaftierten, geprägt.
Für das Verständnis des Streiks erscheint es uns wesentlich, nicht Anfang und Ende oder die verschiedenen, verhältnismäßig wenigen „Höhepunkte“, sondern seinen Verlauf die ereignislosen Wochen und über die eingefrorenen Fronten zu betrachten.

Streikverständnis

Das Wesen eines jeden Streiks ist es, denjenigen unter Druck zu setzen, der am meisten von dem bestreikten Objekt profitiert. In der Wirtschaft ist das Objekt die Fabrik und der Geschädigte der Betreiber. In einem Bildungsstreik ist das Druckmittel zwar ebenso die Schädigung des Betreibers und dessen Ansehen, die Nachteile für die Streikenden sind aber ganz anderer Art: Sie bringen sich nicht um ihren Lohn, sondern um ihre Zeit, die sie bis zum Abschluss benötigen. Jeder (Uni-)Streik verlangt einen Grundkonsens: Der Betreiber (der Staat), die Leitung (das Rektorat) und die Streikenden (die StudentInnen) müssen gleichermaßen an der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit interessiert sein.
Die extrem lange Dauer der Campusbesetzung zeigt jedoch, dass dieser Grundkonsens nicht von allen akzeptiert wurde. Lager gab es in allen Parteien. Die Durchführung der extramuros, das heißt von Unterricht außerhalb des Campus, waren ein Kompromiss für diejenigen die schnell fertig werden wollten bzw. mussten – und eine erste Spaltung unter den Studierenden. Die Dauer des Streiks war es auch, die ihn immer mehr in eine Absurdität hineinmanövrierte, die kein Verständnis mehr fand.

Wem nützt der Streik?

In der Jornada, der größten, gemäßigt linken Tageszeitung des DF, wurde am 27. 1. 2000 von dem Historiker Pablo González Casanova die Frage aufgeworfen, wem denn der Streik nütze. Statt selbst eine Antwort darauf zu geben, kam die Gegenfrage: wem wird es nützen, wenn die UNAM wieder geöffnet wird? Allein aus dieser Abwägung erkennt man schon die verworrene Situation, die sich entwickelt hatte, und die alle schädigen musste. Bleibt die Frage, wem die Bestreikung der Uni hätte nutzen können. Das ist eine provokante Frage, die man gern zum Schluss stellt. Sie scheint in diesem Zusammenhang jedoch berechtigt zu sein, da es wichtig ist zu klären, ob die politische Landschaft Mexikos von diesem Streik hätte profitieren können.
Die Solidarität und Unterstützung von außen war nicht dynamisch genug, um tatsächlich ein neues Kapitel in der politischen Geschichte des Landes zu beginnen. Die linksoppositionellen Gruppen in Mexiko-Stadt und im Land hatten keine Möglichkeit sich mit den Zielen des Streiks über die grundlegenden Forderungen hinaus zu identifizieren. Der Konsens, dass Bildung öffentlich bleiben müsse, bot anfänglich die Basis einer großen Koalition. Als schließlich die Unterhändler die Annulierung der Studiengebühren anboten – und sei es auch, wie der Streikrat CGH behauptete, nur zur Täuschung – war diese breite Basis weg und machte gewissem Unverständnis Platz.
Dynamisch nach außen war der Streik selbst auch nur zu Anfang. Die UNAM – immerhin die größte Universität Amerikas – konnte nicht die Basis sein für eine breite Bewegung. Die Diskrepanz zwischen Öffentlichkeit und StudentInnen war groß und konnte, trotz vieler guter Versuche, kaum überwunden werden. In einer Vielzahl von Medien wurde eine massive Verleumdungskampagne gegen die Streikenden betrieben und die „AnführerInnen“ als universitätsfremde Personen diffamiert, die die Studierenden manipulieren würden. Aber auch der CGH vergraulte sich die Sympathie durch sein aggressives Auftreten gegenüber Journalisten. So ließ die eher antiintelektuelle Haltung der streikenden Generación Güey (siehe LN 308 Interview), und die Angst vor Vereinnahmung durch politische Kreise wie der PRD, weder viel Spielraum für eine Kommunikation mit den „Köpfen“ der offiziellen linken Opposition, noch wurden die Massen – la raza – erreicht. Die berechtigte Forderung nach Eigenständigkeit führte zur Isolation der Bewegung. Und spätestens seit September ließ das politische Wirken nach außen zugunsten der Beschäftigung mit sich selbst stark nach.

Macht und Machbarkeit

Ein Grund dafür war sicherlich die starke Identifikation der AktivistInnen mit den neu geschaffenen Umständen. Experimente wurden gemacht: mit neuen Strukturen, mit einer kollektiven Lebensform auf dem Campus und mit der Reizbarkeit staatlicher Instanzen. Es wurde aber auch mit den Möglichkeiten der Verweigerung, mit Zwängen und mit Konfrontation – und damit mit Macht experimentiert. Vom CGH als Ganzem, von seinen Gruppen und Gruppierungen und letztendlich von jedem einzelnen. Es ist schwierig zu beurteilen, wie basisdemokratisch, wie Konsensfähig oder wie dogmatisch der Streikrat war und ist. Für ein Resümee wäre es verheerend zu behaupten, es hätten sich in den über neun Monaten seiner Dauer nicht alle üblichen gruppendynamischen Prozesse abgespielt, die sich unter solchen Bedingungen entwickeln. Und das heisst neben Solidarität und Gemeinsinn auch Profilierungssucht, versteckte Hierarchien und Versuche, Andersdenkende auszubooten. Der CGH verlor nach und nach an Pluralität, da sich viele mit den internen Strukturen nicht mehr identifizieren konnten oder sich diskriminiert fühlten. Gleichzeitig sorgte die zweifelhafte Persönlichkeit mancher Anführer unter den StudentInnen, aber auch unter dem Rest der Bevölkerung, für Misstrauen. Ohne in die Falle der die ganze Zeit brodelnden Gerüchteküche tappen zu wollen, kann man davon ausgehen, dass einige Köpfe der Bewegung mit der PRI gemeinsame Sache gemacht haben und angehalten wurden einer Dialoglösung auch von innen entgegen zu wirken.

Ausweglose Situation

Trotz dieser massiven Kritik soll hier nicht der Versuch unternommen werden, den gesamten Streikrat als eine Art Selbsterfahrungsgruppe oder noch schlimmer als eine Art Verschwörungsorgan darzustellen. Denn die unvorstellbare Hetze, die Repression und die inszenierten Übergriffe wogen schwer. Sie hatten die aktiven Studierenden leiden lassen und sie quasi von Anfang an verbittert. Die Medien logen, AktivistInnen wurden verschleppt und schwer misshandelt, einige sogar ermordet.

Wunsch nach Gerechtigkeit

Angesichts dieser Situation wuchs der Wunsch nach Gerechtigkeit: Danach, dass die ganze Bevölkerung begreife, um was es geht und was alles wirklich geschehen ist. Dass nicht nur ein Kompromiss gefunden wird, sondern sich etwas nachhaltig verändert.
Gleichzeitig verbirgt sich hinter den Äußerungen, man wolle zum „Märtyrer“ werden oder „Geschichte machen“ nicht der platte Stumpfsinn einiger StudentInnen, sondern ein Ausdruck von Fatalismus, ein Ausdruck davon, in diesem System nichts mehr zu verlieren zu haben oder an nichts mehr zu glauben. Diese Aussagen sind damit auch die Antwort auf eine soziale und politische Realität. Der Zustand des noch nicht entschiedenen Kampfes und das Eintreten für ihre Forderungen macht in einem solchen Moment viel mehr Sinn. Der Kampf, weil er immer die Möglichkeit eines Sieges mitdenkt und die Forderungen, weil sie zu einem Teil Streikidentität wurden. Wie dieser Sieg hätte konkret aussehen sollen, spielt dabei vielleicht gar keine so große Rolle. Aber mit diesen Sehnsüchten war man in eine ausweglose Situation geraten, die die Angst vor der Rückkehr zur Normalität bestärkte.
Von Ausweglosigkeit zu reden unterstellt, dass die Forderungen niemals hätten erfüllt werden können – trotz der diversen Zusagen der staatlichen Stellen. Ein fast pathologisches Misstrauen, selbst gegenüber verbindlichen Angeboten oder integeren Personen hat die Verhandlungen bis zur Unmöglichkeit erschwert. Die Schwierigkeit, in einem eigentlich rechtsfreien Raum Verbindlichkeiten zu regeln, erklärt die Haltung der Streikenden. Die PRI ist nicht nur Staatsregierung, sie ist der Staat. Die latente Rechtsbeugung rechtfertigt jedes Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen. Der noch amtierende Staatspräsident Zedillo war als Mann der Gesetze angetreten, er wollte die Vetternwirtschaft und Korruption, die eine besondere Blüte unter seinem Vorgänger Salinas gehabt hatten, bekämpfen. Viel ist nicht passiert. Die Demokratisierung des Landes ist wieder eindeutig rückläufig. Das bietet keine gute Vertrauensbasis.
Auch das die Oppositionspartei PRD zur Zeit die Stadtregierung stellt, konnte den CGH nicht verhandlungsbereiter machen. Ihr fehlte jede klare Haltung gegenüber den Streikenden.
Das Ausland hat sich als Beobachter oder gar als Garant für die Erfüllung der Zusagen immer wieder disqualifiziert. Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Welt verhindern zusätzlich die Kritik an der mexikanischen Regierungspolitik. Zudem kann man in Sachen neoliberalistischer Bildungspolitik kaum vom Ausland erwarten, dass es sich gegen die Einführung von Studiengebühren in Mexiko aussprechen würde.
Insofern war die polizeiliche, gewalttätige Räumung des Campus eigentlich abzusehen. Der harte Kern der Streikenden hatte sie selbst provoziert. Denn es ließen sich immer weniger Indizien dafür finden, dass sie an einer Beendigung der Besetzung interessiert gewesen wären.
Der Sonderfall Mexiko führte zu der paradoxen Situation, dass mit demokratischen Spielregeln verhandelt wurde, beide Seiten sich aber bewusst waren, dass dazu die Basis fehlte. In Umkehrung einer populären Parole also: no se puede – es geht nicht.
Das Konzept des Streikrats war es auch schon lange nicht mehr, einmalig bessere Studienbedingungen für ein kostenloses Studium auszuhandeln, sondern in die Hochschulpolitik eingebunden zu werden, als autonome, außerparlamentarische Opposition. Die Installierung einer solchen „Kontrollinstanz“ hätte vielleicht eine gewisse Garantie für die Einhaltung der Verhandlungsergebnisse darstellen können. Doch ist auch diese Chance vertan.
VerliererInnen sind besonders diejenigen, deren Verteidigung sich die AktivistInnen auf die Fahnen geschrieben hatte: die mittellosen StudentInnen, die sich die Gebühren nicht hätten leisten können. Viele von diesen konnten sich auch den Verlust von zwei Semestern nicht leisten: einige brachen ihr Studium ganz ab.
Es ist anzunehmen, dass über Jahre hinaus die meisten Studierenden der UNAM nicht mehr für einen Streik votieren würden, selbst, wenn im nächsten Sexenio, also der neuen Amtszeit des im Juli zu wählenden Präsidenten, ein neuer Versuch gemacht wird, Studiengebühren zu erheben. Die Erfahrung, die mit einem Gefühl der Macht und Machbarkeit begonnen hatte, ist traumatisch geworden. Die Apolitisierung und Selbstfixierung der meisten mexikanischen Jugendlichen hat durch den Streik eher zu- als abgenommen.
Ob nun die neoliberalistischen Kräfte davon profitieren werden, sei allerdings dahingestellt. Denn auch sie haben Prellungen davon getragen und ein neuer Angriff auf die öffentliche Bildung scheint zumindest erst einmal vom Tisch.
Siege hat keiner zu feiern. Schade für den Streik.

„Es siegt derjenige mit dem längeren Atem“

Nicht nur Chiapas ist heute Opfer einer immer stärkeren Militarisierung, auch in den Nachbarstaaten Oaxaca und Guerrero ist das Militär immer präsenter. Kann man allgemein von einer Militarisierung der Gesellschaft in Mexiko sprechen?

Ochoa: Die Bedeutung des Militär wächst allgemein in Mexiko. Vor allem übernimmt das Militär Funktionen der Polizei, wie die der öffentlichen Sicherheit. Gleichzeitig wird das Militär an allen strategisch bedeutsamen Punkten im Land verstärkt stationiert, um das gesellschaftliche Leben zu kontrollieren. Das ist aus zwei Gründen gefährlich: Zum ersten, weil Soldaten nicht für solche Aufgaben ausgebildet sind. Und zum zweiten, weil mit der Militarisierung auch die Menschenrechtsverletzungen durch Militärs zugenommen haben.

Was bedeutet das für die betroffene Bevölkerung in diesen Bundesstaaten?

Ochoa: Die Situation der Kleinbauern ist alarmierend. Zwar ist die Region sehr reich an natürlichen Ressourcen, aber die Regierung beutet diese Reichtümer aus, ohne dass die Gemeinden in irgendeiner Weise davon profitieren würden. Ein Beispiel sind die fatalen Auswirkungen der Waldrodungen auf die landwirtschaftliche Produktion. Viele Bauern haben sich in ihren Gemeinden organisiert, aber alles was mit der Verteidigung der Interessen der Gemeinden zu tun haben könnte, wird von der Regierung mit Repression beantwortet. Zum Beispiel verteidige ich zwei Campesinos aus Guerrero in einem Prozess gegen einige Militärs, die zurzeit in Untersuchungshaft sitzen. Sie hatten eine Umweltschutzorganisation gegründet, um gegen die illegalen Waldrodungen durch US-amerikanische Firmen und den mit ihnen verbündeten Kaziken in ihrer Heimat zu protestieren. Sie wurden von Militärangehörigen entführt, gefoltert und dann aufgrund von vermeintlich begangenen Straftaten inhaftiert.

Auch Sie wurden Opfer von Übergriffen und haben Morddrohungen erhalten. Vermuten sie dieselben Täter hinter den einzelnen Übergriffen?

Ochoa: Zuerst einmal gingen die Angriffe und Morddrohungen nicht nur gegen mich, sondern auch allgemein gegen das Zentrum. Nun zu mir: Am 9. August 1999 wurde ich von Unbekannten entführt, ausgefragt und bedroht. Sie ließen mich wieder frei, nahmen mir aber meine Tasche mit all meinen persönlichen Sachen weg. Seitdem wurden mir immer wieder Drohbriefe geschickt, in denen sie mir zum Beispiel eine meiner Visitenkarten, versehen mit einem schwarzen Kreuz mitschickten oder meinen Wahlausweis unter der Haustür durchsteckten. Als sie in der Nacht des 28. Oktobers in mein Haus eindrangen, nachdem ich einen Tag zuvor von einer Gerichtsverhandlung aus Guerrero zurückgekommen war, hinterließen sie mir an diesem Abend auch meine Tasche, die sie mir im August weggenommen hatten. Es war gerade ihr Anliegen, mir zu verstehen zu geben, dass sie dieselben wären. Damals nahmen sie mir mit Chloroform das Bewußtsein, verbanden mir die Augen und unterzogen mich einer neunstündigen Befragung. Schließlich fesselten sie mir Arme und Beine und ließen mich auf meinem Bett zurück. Vorher öffneten sie aber noch den Gashahn des Boilers und machten alle Fenster und Türen zu. Zum Glück konnte ich mich befreien, da sie mich nicht an das Bett festgebunden hatten.

Wurden denn Ermittlungen aufgenommen?

Ochoa: Ja und Nein. Untersuchungen wurden zwar aufgenommen, sind aber nicht weitergeführt worden. Von Anfang an gab es Hinweise, dass das Militär oder die Bundespolizei hinter all dem stecke. Trotzdem gibt es bis heute keine Ermittlungen gegen sie. Die einzigen Ermittlungen wurden von Seiten der Justizbehörde Mexiko-Stadt aufgenommen, aber auch diese sind kein Stück vorangekommen. Darüberhinaus ist sie eine lokale Behörde, die nicht zuständig für Bundesinstitutionen ist. Der ganze Fall ist geprägt von Fahrlässigkeit.

Das alles klingt so, als ob es in Mexiko einen rechtsfreien Raum gäbe. Auf der anderen Seite versuchen Sie innerhalb der legalen Strukturen gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Zweifeln Sie auch manchmal an Ihrem Vorgehen oder dem Nutzen Ihrer Arbeit?

Maza: Ich glaube, wir versuchen uns eher an internationale Instanzen zu wenden, als an unserer Arbeit zu zweifeln. Zum Beispiel an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte. Aber ich muss zugeben, dass auch die Empfehlungen, die wir an die Kommission geschrieben haben, bis heute nicht umgesetzt worden sind. Außer in einem Fall, als jemand auf unser Gesuch hin vorzeitig entlassen wurde. Das ist keine Situation, die sich von heute auf morgen bessern wird.

Gibt es Anzeichen, dass sich die Rechtssituation in Mexiko-Stadt gebessert hat, seit die eher linksgerichtete PRD seit 1997 die Stadtregierung stellt?

Maza: Es hat kaum Veränderungen gegeben, da nur die hohen Funktionäre ausgetauscht wurden. Die Polizei ist fast genau dieselbe. Die Ermittlungen in unserem Fall kommen gar nicht voran. Aber zum Beispiel dieser Empfehlung nach einer vorzeitigen Entlassung ist die Anwaltschaft der Stadt nachgekommen, während die Bundesanwaltschaft alles versuchte, dem entgegen zu wirken und der lokalen Behörde lange Zeit das Schreiben vorenthielt. Insgesamt haben wir zur Justizbehörde der Stadt eine sehr viel engere und bessere Beziehung. So haben wir zum ersten Mal einen polizeilichen Wachschutz für das Zentrum und speziell für Digna akzeptiert, was wir die Jahre zuvor nie getan haben, weil wir überhaupt keine Sicherheit haben konnten. Aber die Polizistinnen die uns schützen sollen, sind sehr unzuverlässig und schlecht ausgestattet. Zum Beispiel hat das Auto, mit dem wir durch die Stadt gefahren werden, überhaupt kein Funktelefon.

In den Drohbriefen vom 31. Januar dieses Jahres ging die Drohung erstmals auch gegen Ihre „ausländischen Komplizen“. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Ochoa: Ich glaube, dass dies ein Resultat der großen Soldarität internationaler Organisationen und des individuellen Engagement von Leuten aus aller Welt ist. Diese Proteste konnten es möglich machen, dass zumindest für einige Monate – zwischen Oktober und Januar – die Drohungen aufgehört hatten. Dank des internationalen Drucks mussten sie sich ein bisschen besser überlegen, was sie machen. Eine Feuerpause gibt es nicht gratis, sie wussten, dass viele internationale Organisationen sehr genau das Geschehen mitverfolgen.

Diese Feuerpausen garantieren aber dann wahrscheinlich auch, dass es zwar immer wieder Mal Proteste gibt, welche aber durch die Pausen nie wirklich zu einer Gefahr für Regierung und Militärs werden, oder?

Maza: Das ist richtig, so gesehen ist das Glas dann immer halb leer. Aber es ist genauso gut halb voll. Ohne den massiven Druck aus dem Ausland wäre vielleicht noch viel schlimmeres passiert. Das haben die Leute ja gerade in ihrem letzten Drohbrief geschrieben: „Mal sehen, ob eure ausländischen Komplizen sich auch dieses Mal weiter mit euch solidarisieren wollen: vielleicht ja, vielleicht nein. Probieren wir es aus.“ Das macht deutlich, wie wichtig die internationale Präsenz sein kann und wie sehr sie das Militär stört. Trotzdem ist diese Strategie für uns in gewisser Weise fatal, da ein gesellschaftlicher Druck schwer permanent aufrecht erhalten werden kann, wenn die Drohungen wieder aufhören. Es ist ein grausames Spiel, bei dem derjenige siegt, der den längeren Atem hat.

Ist nicht die militärische Beendigung des UNAM-Streiks auch ein Beispiel dafür, einen Konflikt solange ohne Ergebnisse zu verlängern, bis große Teile der Öffentlichkeit eine gewaltsame Beendigung hinnehmen oder sogar befürworten würden?

Maza: In einer gewissen Hinsicht ist das sicherlich richtig. Aber der Fall der UNAM ist sehr komplex und ich finde es schwierig, die Interessen und Strategien der einzelnen Gruppen klar zu benennen. Von Seiten der Regierung war vorauszusehen, dass diese den Streik lange genug vor den Wahlen beenden würde. So kann sie jetzt vorgeben, auch den Konflikt gelöst zu haben. Aber der Konflikt ist natürlich immer noch da. Es gehört jedoch zum guten Ton des ausscheidenden Präsidenten, dass er noch ausstehende, unpopuläre Rechnungen begleicht, da er nichts mehr zu verlieren und der Nachfolger damit gleichzeitig einen einfacheren Start hat.

So gesehen stünde eine militärische Großoffensive auch in den nächsten Monaten in Chiapas an?

Maza: Das ist aus den obengenannten Gründen nicht auszuschließen. Auch die zapatistische Bewegung hat an Unterstützung verloren, obwohl es natürlich immer noch viele Personen gibt, die für sie Partei ergreifen. Die Regierung tut stets so, als wäre sie zu einem Dialog bereit, so wie das im September mit dem offenen Brief des Innenministers an die EZLN passiert ist, in dem er die EZLN zum Dialog auffordert und sich zur Erfüllung der Forderungen bereit erklärt. Aber in diesem Brief wird keine Zeile über eine Entmilitarisierung der Region verloren. Zu dem gibt es ja längst das Abkommen von San Andrés, es geht heute um die Umsetzung dieses Abkommens.

Den Konflikt würden sie mit einer militärischen Offensive nicht lösen können. Was würde sie ihnen also bringen?

Maza: Wichtig ist, dass obwohl der Konflikt nicht aus der Welt geschafft ist, die Regierung behaupten würde, dass er gelöst sei. Vielleicht ist es keine Großoffensive, sondern ein eher „chirurgischer Eingriff“. Vielleicht werden sie versuchen, lediglich die AnführerInnen der Bewegung festzunehmen, das wäre kein schweres Unterfangen für die Regierung. Deswegen ist es sehr beunruhigend, wie die Regierung in der UNAM vorgegangen ist und wie jetzt in den meisten Medien behauptet wird, dass der Konflikt gelöst sei.

In Anbetracht dessen, dass die Regierung ihre Versprechen nie einhält, wozu überhaupt noch der Dialog?

Maza: Ich glaube der Weg des Dialogs ist immer noch der einzig mögliche und wir dürfen uns dem nicht verschließen. Aber ein Dialog hat in Mexiko bisher nur funktioniert, wenn es einen massiven gesellschaftlichen Druck gab, sowie bei den Verhandlungen der Acuerdos de San Andrés 1995. Was uns fehlt sind Mechanismen und Aktionen, um die Umsetzung von Beschlüssen zu erzwingen. In dieser Hinsicht mangelt es der Zivilgesellschaft an Esprit, Stärke und Organisation.
Einen Lichtblick habe ich aber doch noch: Unabhängig davon, welche Partei die Wahlen am 2. Juli gewinnen wird, könnten sich die Stimmenverteilungen im Kongress bedeutend verändern. Dann könnte zumindest das Gesetz der Friedenskommission COCOPA, dass heisst die Acuerdos de San Andrés, endlich verabschiedet werden, was die PRI bis heute blockiert.

Getrennt marschieren – vereint verlieren

Ein bisschen Show gab es schon immer im peruanischen Wahlkampf. Vor fünf Jahren ließ sich die kurvenreiche Nachtklubtänzerin Susy Díaz bei ihrer Kandidatur für einen Abgeordnetensitz die Listennummer 13 auf die linke Pobacke malen. Sie wurde prompt gewählt. In diesem Jahr springt der frisch von ihr geschiedene Ehemann ein, der seine Bekanntheit nur den öffentlich vergossenen Tränenbächen der seinetwegen leidenden Susy verdankt. Er entschied sich für die Liste des religiösen Fanatikers und Präsidentschaftskandidaten Ezequiel Ataucusi, der wie Gott persönlich aussieht, und wählte als Listenplatz die Nummer 69, in Peru und anderswo Symbol für eine sexuelle Stellung.
Für die Abgeordnete Susy Díaz und den bislang einzigen parlamentarischen Abgesandten des Propheten Ezequiel endete das Gastspiel im peruanischen Kongress leider unrühmlich: sie ließen sich von Fujimori kaufen und stimmten, obwohl als Oppositionskandidaten angetreten, zum Schluss mit der Regierung.
Zu den diesjährigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 9. April hat Fujimori seine Showstars für den Wahlkampf auch schon eingekauft. Zum Beispiel die Talkshowmoderatorin Laura Bozzo, die besser Marktschreierin geworden wäre, aber zur besten Sendezeit die höchsten Einschaltquoten im Fernsehen erreicht. Oder die zur Königin der Tecnocumbia ausgerufene Sängerin Rossy War, nach der zurzeit ganz Peru verrückt ist. Laura Bozzo beschimpft in ihren beliebten Showsendungen selbst harmlose Regierungskritiker als Terroristenfreunde. Und Rossy War ist sich nicht zu schade, mit ihrer Reibeisenstimme einen vom Geheimdienst SIN getexteten Hit in die Mikrofone zu röhren: Un país con futuro, „Ein Land mit Zukunft“ – den Wahlkampf-Slogan Fujimoris.

Personen statt Programme

Auf so prominente Mitstreiterinnen kann die Opposition nicht zählen. Dafür muten aber die Namen der Gruppierungen, die in der Vorkarnevalszeit um die 120 Abgeordnetensitze konkurrieren, so seltsam an, dass man glauben könnte, es ginge um den Einzug in ein Büttenparlament. Eine Bewegung nennt sich Avancemos– „Lasst uns voranschreiten“, andere tauften sich Somos Perú – „Wir sind Peru“ oder Perú Posible, „Mögliches Peru“. Diese Gruppierungen stehen nicht unbedingt für ein politisches Konzept, sie haben sich vielmehr um einen Präsidentschaftskandidaten geschart. Denn Personen zählen im heutigen Peru mehr als Programme. An die glaubt offenbar niemand mehr. Verantwortlich dafür sind hauptsächlich jene beiden Parteien, aus deren Reihen die kläglich gescheiterten Vorgängerregierungen Fujimoris kamen, die Acción Popular (AP) und die Alianza Popular Revolucionario Americana (APRA). Ironie des Schicksals: die einzigen echten Parteien, die um den Einzug ins Parlament kämpfen, sind ausgerechnet diese beiden Totengräber der Parteienkultur in Peru. Die APRA schaufelte mit den unzähligen Korruptionsskandalen der Regierung Alan Garcías obendrein am Grab der Linken, von deren Resten nur noch Einzelpersonen für den Kongress kandidieren.
Die drei aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition für das Präsidentenamt sind der Gründer von Somos Perú, Limas Bürgermeister Alberto Andrade, der frühere Präsident der staaatlichen Sozialversicherung IPSS und Chef des Bündnisses Solidaridad Nacional, Luis Castañeda, und der Kopf von Perú Posible, Alejandro Toledo, der sich schon 1995 vergeblich um das Präsidentenamt bemühte. Ihr Problem ist, dass sie im Gegensatz zu Laura Bozzo, Rossy War oder Susy Díaz niemand kennt. Denn mehr als 80 Prozent der PeruanerInnen informieren sich über das Fernsehen, besonders die unteren sozialen Schichten. Aber die Regierung hat dafür gesorgt, dass die Oppositionskandidaten in den dort ausgestrahlten Nachrichtenprogrammen nicht vorkommen. Und wer eine Nachrichtensendung im Einheitsfernsehen verpasst, der verfolgt das Programm von Laura Bozzo oder liest die Boulevardpresse. Die schweigt die Oppositionskandidaten zwar nicht tot, aber sie diffamiert und verleumdet sie (vgl. LN 308).
Die Programme von Somos Perú, Solidaridad Nacional und Perú Posible könnten voneinander abgeschrieben sein. Deren Präsidentschaftskandidaten wollen die Gleichschaltung von Medien und Justiz beseitigen, dem allmächtigen Geheimdienst SIN die Flügel stutzen und eine Demokratisierung staatlicher Institutionen einleiten. Sie möchten die Ausgaben für Bildung erhöhen, besonders die Gehälter für LehrerInnen und ProfessorInnen, die Fujimori seit Ewigkeiten eingefroren hält. Alle PeruanerInnen sollen einen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung haben. Den Provinzen wird eine größere Unabhängigkeit zugestanden. In der Wirtschaftspolitik gibt es bei keiner der drei Gruppen unüberbrückbare Gegensätze zu Fujimori. Nur die Privatisierung soll vorsichtiger fortgesetzt werden. Andrade wurde kürzlich in einem Interview gefragt, worin er sich denn von seinen beiden ärgsten Gegenkandidaten aus der Opposition unterscheide. Der Kandidat hob seine Erfahrungen als Unternehmer und Bürgermeister von Lima hervor. Programmatische Unterschiede fielen ihm nicht ein.
Es fragt sich also, warum keine Einheitskandidatur gegen den allmächtigen Fujimori zu Stande gekommen ist, um das Land wieder auf demokratischere Pfade zu lenken. Bis Anfang Januar hatte es zwischen den drei wichtigsten Kandidaten noch Verhandlungen darüber gegeben. Sie scheiterten, weil Castañeda und Andrade in den Umfragen gleichauf lagen und keiner von beiden seinen Anspruch auf das höchste Amt der Republik aufgeben wollte. Den Straßenprotesten gegen die illegale Kandidatur Fujimoris mochten sich beide nicht anschließen, denn die für die Einheitsfront eintretenden DemonstrantInnen hätten die egozentrischen Anwärter auf das Präsidentenamt wohl gnadenlos ausgepfiffen. Sie zeichnen dafür verantwortlich, dass eine machtvolle Bewegung gegen Fujimori sich nicht einmal formieren konnte.
Inzwischen hat aber Castañeda einen einheitlichen Verzicht zur Diskussion gestellt. Hintergrund sind die soeben veröffentlichten Berichte über den Wahlprozess des Carter-Centers aus den USA und der Internationalen Menschenrechtsföderation FIDH. Das Carter-Center hat inzwischen ein festes Büro in Lima eingerichtet, und die FIDH schickte als Beobachterin Bianca Jagger, früher eher als Ehefrau eines millionenschweren Rockstars bekannt. Beide Institutionen kamen zu dem Schluss, dass im peruanischen Wahlkampf eine Chancengleichheit der Kandidaten nicht gewährleistet sei. Drei der wichtigsten Punkte, die moniert wurden: der Einsatz öffentlicher Mittel für Fujimoris Werbefeldzug, die Diffamierung und Verleumdung der Oppositionskandidaten im Fernsehen und der Boulevardpresse und der fehlende Zugang der Opposition zu den Medien. Bianca Jagger wies zudem auf die zweifelhafte Rolle der peruanischen Streitkräfte hin, die vor allem in den ländlichen Zonen offen Partei für die Regierung ergreifen und die Bevölkerung bedrohen. Sie ging in ihrem Bericht sogar so weit, dass sie den USA empfahl, jegliche Unterstützung der peruanischen Streitkräfte einzustellen.
Fujimori versprach ob des ausländischen Drucks Besserung. Die Streitkräfte wolle er aus dem Wahlprozess heraushalten, indem Kasernenmauern und Hügel innerhalb des Kasernengeländes von aufgepinselten Wahlparolen für die Regierung wieder gesäubert werden sollten. Auch würde er bis zu den Wahlen darauf verzichten, Schulen und öffentliche Einrichtungen einzuweihen. Stattdessen nähme er nur noch Inspektionen vor. Und schließlich sollten die Oppositionsparteien im öffentlichen Fernsehen und in der staatlichen Zeitung El Peruano unentgeltlich Sendezeit und Platz für ihre Wahlwerbung bekommen. Dass kaum ein Mensch das langweilige Programm des einzigen staatlichen Senders anschaut oder das nur Gesetze verkündende Regierungsorgan liest, ist Nebensache. Es bleibt jedenfalls dabei, dass die Sender mit den höchsten Einschaltquoten nicht einmal bezahlte Wahlspots der Oppositionskandidaten entgegennehmen.
Castañedas lautes Nachdenken über einen Wahlboykott fand bei Andrade und Toledo keinen Anklang. Obwohl nach den ersten Stellungnahmen Fujimoris schon jetzt feststeht, dass sich nichts ändern wird. Und wenn, dann höchstens eine Woche vor den Wahlen. Die Druckerschwärze der Berichte des Carter-Centers und der FIDH war noch nicht getrocknet, da ließen Fujimoris Staatsanwälte schon den Radiosender 1160 schließen, der gerade erst seit drei Tagen auf Sendung war. Der Betreiber der Radiostation heißt nämlich Cesar Hildebrandt, und der ist einer der wortgewaltigsten Journalisten in den Reihen der Opposition (vgl. LN 308).

Der illegale Kandidat

Fujimoris Wahlstrategien verfehlen jedenfalls nicht ihre Wirkung. Der illegale Kandidat liegt in den Umfragen schon bei über 40 Prozent der WählerInnenstimmen. Besonders in den ärmlichen Vororten Limas, den pueblos jóvenes, wächst seine Anhängerschar. Dort ist es in Wahlzeiten opportun, staatliches Land zu besetzen. Es deutet einiges darauf hin, dass Regierungsbeauftragte selbst Landlose zur Besetzung angestiftet haben. Und der Präsident zeigt sich als Anwalt der Armen. Er lässt das Terrain nicht, wie sonst üblich, unter Knüppel- und Tränengaseinsatz räumen, sondern er verteilt Hunderttausende von Besitztiteln, verspricht den Bau von Zufahrtsstraßen sowie Wasser- und Stromversorgung.
Fujimori hat sich einen Machtapparat geschaffen wie die mexikanische PRI vor Zedillo. Aber sein dedazo, der ausgestreckte Finger, mit dem die mexikanischen Präsidenten ihre Nachfolger zu bestimmen pflegten, deutet immerzu auf die eigene Brust. Die zur absoluten Mehrheit noch fehlenden Stimmen wird sich Fujimori, wie 1988 Salinas de Gortari, durch Wahlbetrug verschaffen. So viele WahlbeobachterInnen sich auch am 9. April im Land aufhalten mögen, sie werden den Betrug nicht verhindern können.

Erdnussfarmer als Kontrolleur

Auch der Erdnussfarmer James Earl Carter persönlich wird das nicht schaffen, den Kandidat Toledo gern für den Wahltag herbeizitieren möchte. Sie werden ebenso wenig wie die Vertreter der Opposition in alle Provinzen reisen können, in denen noch das Notstandsrecht gilt. Immerhin leben über 20 Prozent aller PeruanerInnen in diesen Zonen, in denen uneingeschränkt das Militär regiert. Und dessen Abgesandte werden am Wahlabend auch die Urnen transportieren.
Der Wahlniederlage der Opposition ist kaum noch abzuwenden. Die Oppositionskandidaten für ein Abgeordnetenmandat hoffen zumindest auf eine Mehrheit gegen Fujimori im neu zu wählenden Kongress. Vielleicht erinnern sie sich nicht mehr an die Wahlen von 1995, als von neun Millionen Stimmenzetteln mehr als die Hälfte ungültig erklärt wurde. Und der verbleibende Rest Fujimori zur absoluten Mehrheit verhalf.

Säuberung auf ganzer Linie

Unter Protest nehmen nach fast zehn Monaten Hochschulstreik derzeit viele der Einrichtungen auf dem Gelände der Ciudad Universitaria, dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) ihren Betrieb wieder auf. Seit dem 20. April letzten Jahres ging hier nichts mehr: als Reaktion auf die Ankündigung des damaligen Rektors Barnés, Studiengebühren einzuführen, wurde in der Universität der Streik ausgerufen. Der Allgemeine Streikrat (spanisch abgekürzt CGH) formierte sich und einige der universitären Einrichtungen wurden von protestierenden Studenten und Studentinnen besetzt. Ihre Forderungen waren klar: keine Studiengebühren und keinerlei Privatisierung des Bildungssystems. Nun, nach der Räumung und den Festnahmen kommt eine weitere Forderung der Studierenden hinzu: sofortige Freilassung der politischen Gefangenen.
Juan Ramón de la Fuente, amtierender Rektor der UNAM, konnte sich eines Siegeslächeln nicht enthalten, als er vom Chef der Präventiven Bundespolizei, Konteradmiral Wilfredo Robledo, in der Universitätsstadt willkommen geheißen wurde. Der Anwalt der Universitätsleitung, Fernando Serrano, der den Rektor begleitete, begrüßte den Konteradmiral mit einem „Danke“. Drei Tage lang, von Sonntag bis Mittwoch, war das Gelände der UNAM von der Bundespolizei besetzt gewesen. Diese Zeit wurde vor allem dazu genutzt, die Spuren des Streiks zu beseitigen. Besonders großen Wert legten die Offiziellen auf die Entfernung von Graffiti und politischen Slogans, deutlichster Ausdruck der universitären Streikkultur an den Wänden der ehemals besetzten Gebäude. Alles, was an den Ausstand erinnern könnte, wurde getilgt. Nach dem Wunsch des Rektors soll wieder „Normalität“ in Mexikos nationale Universität einkehren.
Für die Truppen der Präventiven Bundespolizei, ursprünglich zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität geschaffen, war die Räumung innerhalb von kurzer Zeit der zweite Einsatz auf Universitätsgelände gewesen. Einige Tage zuvor, am 1. Februar, hatten sie ein der Uni angeschlossenes Gymnasium, die Prepa 3, gestürmt und dabei 175 Streikende verhaftet. Offiziell wurde die Polizeiaktion damit begründet, es hätten Gewalttätigkeiten zwischen Streikenden und Arbeitern stattgefunden, die eine Intervention der Staatsorgane erforderten. Dieser Version wird von kritischen Beobachtern wenig Vertrauen entgegengebracht, da der Zusammenstoß mit hoher Wahrscheinlichkeit inszeniert war. Auch in der Vergangenheit hatten oftmals bezahlte Unruhestifter und Provokateure versucht, den Streik in Misskredit zu bringen.
Die Einmischung der sogenannten „Armee in Polizeiuniform“ in interne Angelegenheiten der autonomen Hochschule rief deutliche Proteste in Bevölkerung und progressiver Presse hervor. Nur zu gut erinnern sich viele noch an das Massaker, das die Armee 1968 an einer Studentenversammlung auf dem Platz der Drei Kulturen verübte, bei dem hunderte von unbewaffneten StudentInnen erschossen wurden (siehe LN 293/305). Eine Welle der Empörung und des Entsetzens löste vor diesem Hintergrund die endgültige Räumung des Campus der UNAM am 6. Februar aus. Bei der überraschenden Polizeiaktion wurden weitere 737 Studierende festgenommen und ins Gefängnis überführt. Die meisten von ihnen hatten sich auf einer Ratsversammlung des CGH befunden.
Die Anklagen der Staatsanwaltschaft reichen von Sabotage, Meuterei und Körperverletzung bis hin zu Raub und Terrorismus. Nach einzelnen, derer die Polizei nicht habhaft werden kann, wird noch immer gefahndet. Ein großer Teil der kriminalisierten HochschülerInnen ist minderjährig.

Hunderttausend protestieren

Eine Spontandemonstration noch am gleichen Sonntag bildete den Auftakt der Proteste, die mit einer Massendemonstration am Mittwoch darauf ihren stärksten Ausdruck finden sollte. Eine herausragende Rolle in der Demonstration spielten die Eltern der Festgenommenen. Sie bildeten einen eigenen Demonstrationsblock und verliehen ihrer Wut und Verzweiflung am deutlichsten Ausdruck. Hunderttausend Menschen füllten am Ende des Protestmarsches den Platz vor dem Regierungspalast in Mexiko-Stadt, um die Abschlusskundgebung zu hören. Aus verschiedenen anderen mexikanischen Städten trafen Nachrichten von Solidaritätsaktionen ein, internationale Protestschreiben gegen die Maßnahmen der Regierung wurden vom Podium aus verlesen. „Sofortige Freilassung der politischen Gefangenen“ und „Nicht eine Stimme für die PRI“ (Partei der Institutionalisierten Revolution) zählten zu den meistgerufenen Slogans. Es war der gleiche Mittwoch, an dem Ramón de la Fuente die Universitätshoheit aus den Händen der Polizei entgegennahm und sich für die „Normalisierung“ der Verhältnisse aussprach.
Gefährdung der
Gesellschaft
In den vergangenen Tagen wurden immer wieder einige der Inhaftierten auf freien Fuß gesetzt. Teilweise aufgrund der Kautionsgesetzgebung, die nach Einschätzung von KritikerInnen für sämtliche der erhobenen Anklagen zutreffen müsste, aber nur bei wenigen zur Anwendung kommt. Teilweise hat die Universitätsleitung ihre Anzeige gegen einzelne Studierende zurückgenommen. Ein bisher unbekannter Straftatbestand wird einem Teil der Inhaftierten vorgeworfen: sie sollen nach Meinung der Haftrichter „die Gesellschaft gefährden“. Mit dieser Begründung wird u.a. der Freiheitsentzug einiger herausragender Persönlichkeiten des Streikrates gerechtfertigt. BeobachterInnen konstatieren, dass dies ein Versuch der Regierung sei, der Bewegung ungeachtet der basisdemokratischen Strukturen ihre Führer vorzuenthalten.
In einem der berüchtigsten Gefängnis der Stadt, dem Reclusorio Norte, sitzt die Mehrzahl der inhaftierten Studenten und Studentinnen ein. Die Rechtsanwälte der Gefangenen, Javier Cruz und Hilario Ibarra, äußerten sich besorgt über die Haftbedingungen. Nach ihren Aussagen ist die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung unzureichend. Auch eine angemessene ärztliche Versorgung der Verletzten und Kranken finde nicht statt. Verwunderung zeigten die Anwälte außerdem über die ihrer Meinung nach fragwürdige Rolle der Nationalen Menschenrechtskommission. Die Kommission hatte sich weder zur Räumung der Universität noch zu Misshandlungen von StudentInnen durch die Polizei geäußert. Seit der Räumung reißen in Mexiko-Stadt unterschiedlichste Solidaritätsaktivitäten zur Unterstützung der Gefangenen nicht ab.

Charakter der Kontrahenten

Der Widerstand gegen die Reformpläne der Universitätsführung, mit dem sich ebenso eine große Anzahl Studierender aber auch Lehrkräfte und andere Angestellte der Hochschule identifizierten, ließ sich auch von offizieller Seite nicht ignorieren. Die Hochschulverwaltung und Regierung entschied sich bald für eine Politik der harten Hand: während in der Öffentlichkeit immer wieder der Wille zum Dialog betont wurde, ergriffen die Autoritäten verdeckt Repressionsmaßnahmen gegen die Streikenden. Kriminalisierung, Einsatz von Schlägertrupps und agents provocateurs gegen die Bewegung hatten jedoch zur Folge, dass sich Teile des CGH radikalisierten. Damit war für die Regierung wenig gewonnen. Juan Ramón de la Fuente wurde nach sechs Monaten Streik von Präsident Zedillo zum neuen Rektor gemacht, nachdem sein Vorgänger Barnés durch die anhaltenden Proteste gezwungen worden war, zurückzutreten. De la Fuente gilt als Repräsentant des neoliberalen Wirtschaftskurs der PRI. Als Gesundheitsminister hatte er erfolgreich weite Teile des Gesundheitswesens privatisiert.
Zu dem begründeten Misstrauen gegenüber den Verhandlungsangeboten von Seiten der Regierung reihte sich unter den Befürwortern des Streiks zwischenzeitlich ebenfalls wenig Interesse für einen Dialog: unter den involvierten Studenten und Studentinnen war eine Art Streikeuphorie entfacht. Das Leben innerhalb der besetzten Universitätsgebäude bedeutete für viele erstmals die Möglichkeit, unabhängig von ihren Familien und selbstbestimmt mit Gleichgesinnten zusammenzuleben.
Gleichzeitig wurden basisdemokratische Formen der Entscheidungsfindung praktiziert. In aufreibenden Vollversammlungen, die oft ganze Nächte andauerten, wurde der Kurs für die Verhandlungen mit der Universitätsleitung festgelegt. Selbstorganisierung und direkte politische Beteiligung für die einzelnen machte den Streik zu einer einzigartigen Erfahrung für ihre Anhänger. Zeitweilig war die Streikbewegung sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bei den Verhandlungen am 10. Dezember letzten Jahres wurde noch einmal bekräftigt, dass eine Lösung des Konflikts nur über einen Dialog zu erreichen sei. Öffentlich bejahten beide Seiten ihren Willen zum Dialog – über weite Strecken der Auseinandersetzung war jedoch von diesem Willen sowohl seitens der Universitätsführung als auch seitens des CGH wenig zu spüren.

Wettlauf der Umfragen

Mitte Januar änderte Rektor Ramón de la Fuente die Taktik. Ohne weiter auf die Forderungen des CGH einzugehen setzte er für den 20. Januar ein Plebiszit an, das über die Legitimität des Streiks entscheiden sollte. Mit Hilfe einer immensen Werbekampagne, bei der ihm sämtliche Medien zur Seite standen, hoffte er, dem CGH die Basis zu entziehen. Es sollte eine Umfrage unter allen Angehörigen der Universität sein. Zunächst schien der CGH in einer Zwickmühle. Ein demokratisches Plebiszit konnte nicht einfach abgelehnt werden, auch wenn es unter unfairen, weil von der Unileitung bestimmten Regeln stattfand. Andererseits musste derart mit einer Niederlage, sprich einem Votum gegen die Fortführung des Streiks gerechnet werden. Auch machte sich innerhalb der Studentenschaft eine gewisse Streikmüdigkeit bemerkbar. Sowohl universitätsintern als auch außerhalb des Campus setzten die StreikgegnerInnen große Hoffnungen auf das Plebiszit des Rektorats. Mit einer überraschenden Idee und unglaublicher Organisationsarbeit gelang es dem Streikrat jedoch, die Niederlage abzuwenden. In weniger als fünf Tagen koordinierte der CGH eine eigene Umfrage, bei der die gesamte Bevölkerung Mexikos zur Teilnahme aufgefordert wurde.
Der Streikrat machte selbständig und ohne Hilfe der Presse Werbung in eigener Sache und erhielt erstaunlichen Zuspruch aus weiten Teilen der Gesellschaft – nach Angaben des CGH sprachen sich auch überwiegende Teile der Studentenschaft für eine Fortführung des Streiks aus. Die Ergebnisse mit einem positiven Votum für die Weiterführung des Ausstandes lagen bereits am 19. Januar vor und kamen damit dem Plebiszit des Rektorats zuvor. Statt geschwächt ging der CGH aus den Umfragen nun gestärkt hervor – die konkreten Zahlen spielten in dem Machtkampf eine untergeordnete Rolle. Beide Seiten warfen sich zudem gegenseitig vor, Ergebnisse gefälscht zu haben. Die Taktik von Rektorat und Regierung, den CGH über die Umfrage in die Ecke zu drängen, blieb ohne Erfolg.Vieles weist darauf hin, dass sich Rektorat und Regierung die Option, die Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, seit langer Zeit offenhielten. Es ist mittlerweile bekannt, dass Ramón de la Fuente über alle am Streik Beteiligten persönliche Daten sammelte. Spätestens seit dem gescheiterten Plebiszit wurden konkrete Vorbereitungen getroffen, den Streik zu zerschlagen.

Meister des doppelten Diskurses

Die Strategie von Rektorat und Regierung im Umgang mit den Streikenden an der UNAM hat einige BeobachterInnen an einen anderen Konflikt erinnert, in den der mexikanische Staat verwickelt ist.
Die Auseinandersetzungen mit der EZLN (Nationale Zapatistische Befreiungsarmee) weisen, was die Diskrepanz von offizieller und inoffizieller Politik der Regierung angeht, verblüffende Ähnlichkeiten mit den Maßnahmen auf, die im Fall der studentischen Streikbewegung ergriffen wurden. Der vierte Jahrestag des Abkommens von San Andrés am 16. Februar machte noch einmal deutlich, dass keine der Versprechungen des Präsidenten bisher eingelöst wurden. In der Öffentlichkeit signalisierten die Autoritäten immer Dialogbereitschaft, während gleichzeitig mit unterschiedlichen Strategien die gewaltsame Auflösung der zapatistischen Bewegung verfolgt wurde.

Zuckerbrot und Peitsche

In beiden Konflikten zeigt die mexikanische Regierung ihre Unfähigkeit, auf soziale Bewegungen einzugehen.
Das alte Politikschema des Zuckerbrot und Peitsche mit der die PRI seit Jahrzehnten regiert, kommt immer wieder zum Vorschein. Emanzipationsbewegungen werden zugelassen, aber wenn sich der Regierungsapparat bedroht fühlt, zögert er nicht, harte Repressionsmaßnahmen zu ergreifen. Dass sich der Streik von diesem Schlag der Staatsorgane erholen kann, wird als unwahrscheinlich angesehen.
Aus ihm und den Solidaritätsaktionen könnte jedoch eine Bewegung der Studierenden entstehen, die in ihrer Dynamik den Privatisierungsvorhaben von Universitätsleitung und Regierung weiterhin etwas entgegenzusetzen hat. So schnell wie Rektor Ramón de la Fuente es sich wünscht wird wohl eine „Normalisierung“ an der UNAM nicht eintreten.

In San Cristóbal läuten die Kirchenglocken Alarm

Im Morgengrauen des 25. Januar trafen die Priester in der Pfarrei von San Cristóbal zusammen, um gemeinsam das Tonal pohuali, den alten Kalender der Mayas zur Güte dieses Tages zu befragen, an dem Samuel Ruiz seine letzte Messe halten würde. Das Datum verriet zwölf-Blume. Drei mal vier. Vier ist die kosmische Totalität, drei steht für Vermittlung. Das Zeichen ist der Vogel Quetzal. Der, der niemals gefangen sein kann. Samuel Ruiz: der Vermittler, der Unbezähmbare.
Genauso gab er sich auch bei seiner Abschiedsfeier, an der fast 15.000 Indígenas aus den umliegenden Dörfern und über 500 Vertreter ziviler gesellschaftlicher Organisationen teilnahmen. Währenddessen blieb der Vertreter des Vatikans in Mexiko, Nuntius Justo Mullor, den Feierlichkeiten fern. Polizei und Migrationsbe-hörde waren überall present. Bei der Ankunft am Flughafen in Tuxtla Gutiérrez wurde jeder einzelne fotografiert; alle Treffen wurden gefilmt.
Mit insgesamt 44 Festnahmen von internationalen Menschen-rechtsbeobachterInnen hat die Migrationspolizei in den ersten Januarwochen schon die Höhe sämtlicher Festnahmen des letzten Jahres erreicht. Gleichzeitig sind die Indígenas Opfer einer immer stärkeren Militarisierung der Region. Übergriffe, illegale Verhaftungen, Militärpatrouillen und Überflüge von Militärmaschinen in extrem niedriger Höhe über die Dörfer haben seit Mitte Dezember deutlich zugenommen.
Dies ist das Bild, in das sich die Festlichkeiten gebettet haben. Die Besorgnis um die Bischofsnachfolge warf Schatten über die Veranstaltungen.
Doch Ruiz und Vera verbreiteten Optimismus trotz der „schwierigen Zeiten, die auf die Gemeinde zukommen könnten“. „Eine Option für die Armen ist in Chiapas unerläßlich…Die Verantwortlichkeit für die Kontinuität der Gemeindearbeit liegt jedoch vor allem bei jedem von euch und nicht bei irgendjemandem, der nun von oben eingesetzt werden wird“, predigte Ruiz in einer mehr-stündigen Ansprache. Doch wie schwierig diese Kontinuität aussehen wird, wenn sich der neue Bischof dieser entgegenstellen sollte, weiß zum heutigen Zeitpunkt noch niemand.
Um die Diözese in ihrer heutigen Struktur weiter zu festigen, haben Ruiz und Vera in diesen Tagen insgesamt 153 Paaren in-digener Männer und Frauen den Diakonenorden verliehen. Damit steigt die Zahl der indigenen Diakone (Hilfsgeistliche im Gemein-dedienst) in Chiapas auf 400. Im Vergleich dazu gibt es im restlichen Mexiko nur 10 und in ganz Lateinamerika insgesamt nur 100 Indígenas in diesem Amt.
Samuel Ruiz hatte schon am 16. Dezember vergangenen Jahres in der öffentlichen Bekanntgabe seiner Abtrittsabsichten darauf hingewiesen, daß „nicht-bischöfliche Interessen bewirken wollen, daß Vera nicht sein Nachfolger würde“.
Dennoch sorgte die Nachricht aus Rom Ende Dezember für allgemeinen Aufruhr. Auch Vera zeigte sich überrascht und traurig über seine Versetzung und besorgt um das Schicksal der Diözese. Seine Versetzung würde aber keinesfalls bedeuten, daß er nun gegenüber den Geschehnissen in Chiapas stumm bleibe.
Die offizielle Stellungnahme der päpstlichen Vertretung in Mexiko dementierte, daß die Entscheidung politischen Interessen gehorcht hätte und eine Abkehr von Samuel Ruiz‘ kirchlicher Ausrichtung bedeuten würde. Die Abberufung Veras in die bedeutsame Diözese von Saltillo wäre vielmehr Ausdruck der Anerkennung; eine Beförderung sozusagen.
Die Regierungspartei PRI betonte nachdrücklich, nichts mit der ganzen Sache zu tun zu haben, nutzte aber die Gelegenheit, Vera vorzuwerfen, sein Amt für politische Propagandazwecke mißbraucht zu haben. Mehr als zynisch klang die Verlautbarung, die Mission von Ruiz und Vera hätte sich durch die unverbesserten Lebensbedingungen der armen Bevölkerung selbst diskreditiert.
„Die Kirche war im Gegenteil ein unglaublicher Gleichgewichtsfaktor in den letzten Jahren“, betont der unabhängige chiapane-kische Senator Salazár.
Alles weist daraufhin, daß die Entscheidung des Papstes auf Druck reaktionärer mexikanischer Kreise gefallen ist. Trotz seiner oft bekundeten spirituellen Nähe zur Diözese von San Cristóbal hat er sich gegen Vera entschieden.

Ein kämpferischer Bischof

Für Ruiz und Vera geht ihre Arbeit weit über Kirchenraum und Sakristei hinaus.
„Samuel verwaltete seine Diözese, indem er der Basis zuhörte. Die gemeinsame Arbeit war immer Produkt eines Dialoges und eines gegenseitigen voneinander Lernens. Er vermochte es, den Glauben und den Kampf für Gerechtigkeit wieder zu versöhnen“ meint der Historiker Andrés Au-bry.
Ruiz förderte die Dezentralisierung der kirchlichen Gemeinden und stand für eine Harmonisierung traditioneller und christlicher Glaubenselemente.
Ein besonderes Gewicht kam dem Kampf für die Menschenrechte und der kulturellen Selbstbestimmung der Indígenas zugute. Um der Ausbeutung durch Großgrundbesitzer entgegenzutreten, unterstützte er die Schaffung von Produktionskoopera-tiven. Er widmete sich besonders den Bedürfnissen der guatemal-tekischen Flüchtlinge und setzte sich für die Zurückgabe von ehemals kommunalem Landbesitz ein, der den Indígenas unrechtmäßigerweise weggenommen worden war.

Raúl Vera – ein Dorn im Auge der Mächtigen

Berühmt wurden Ruiz und Vera in ganz Mexiko durch ihr langjähriges Engagement in der zivilgesellschaftlichen Vermittlungsorganisation CONAI zwischen den Zapatisten und der Regierung, was sie mehrfach zur Zielscheibe nicht nur verbaler sondern auch physischer Angriffe machte.
Mit Raúl Vera sollte Ruiz 1995 ein als konservativ geltender Hilfsbischof zur Seite gestellt werden. Dieser änderte aber bald seine Gesinnung und wurde zu einem unbeugsamen Mitstreiter Ruiz´. Seitdem ist er den reaktionären, religiösen Gruppen in Chiapas ein Dorn im Auge. Eine Stärkung dieser in Verbindung mit Kaziken, (Para)- Militär oder PRI stehenden Gruppen in der Diözese von San Cristóbal würde mit der Ernennung eines konservativen Bischofs sicherlich einhergehen und könnte zudem auch die Verlagerung der kirchlichen Arbeit auf die Städte bedeuten.
Unabhängig davon, in welchem Ausmaß die konservativen Inter-essensverbände in Mexiko ihre Netze bis in die römische Hochburg spinnen konnten, ist mit der Entscheidung gegen Vera die Kontinuität einer progressiven und engagierten Kirche in Frage gestellt. Die Kirche ist in Chiapas jedoch der wichtigste „Puffer“ zwischen sozialen Schichten und po-litischen Akteuren. Aufgrund ihrer Reichweite und Etabliertheit ist sie strategisch von einmaliger Bedeutung.
Sie wurde zum Sprachrohr der Unterdrückten. Dieses will die herrschende Klasse nun eliminieren.
Da Samuel Ruiz in all den Jahren die kirchliche Arbeit dezentralisiert und hunderte von Katechisten in der teología india unterrichtet hat, konnte überall eine eigenständige Gemeindearbeit entstehen, die eine totale Kehrtwendung der kirchlichen Ausrichtung erschweren wird.
Nicht alles steht und fällt mit der Figur des Bischofs. Die katholische Kirche ist dennoch primär eine vertikale, disziplinierte und autoritäre Institution. Insofern bleibt nur wenig Spielraum für eine abweichende Ausrichtung der Basis. Zumal mit Vera auch die vier Vikare (geistliche Stellvertreter) gehen müssen, da diese vom Bischof selbst ernannt werden.
Die Abberufung Veras könnte der Anfang einer Kette der Diskreditierung der pastoralen Arbeit der Diözese sein. Die Übergriffe auf Mitarbeiter der Kirche, vor allem auf die tausenden von Laien, die in den abgelegenen Gemeinden das Rückgrat der Kirchenstruktur bilden, könnten sich mehren und „Menschenleben in Gefahr bringen“, wie Samuel Ruiz in einem Schreiben vom Dezember befürchtet. Ähnliche Entwicklungen haben zwei Diözesen in Oaxaca nach Austausch von progressiven Bischöfen in jüngster Vergangenheit schon genommen.
„Vor allem die indigene Landbevölkerung könnte den Glauben in die Kirche verlieren. Die Para-militärs würden sich in ihrer Funktion bestätigt sehen und in Zu-kunkt noch agressiver gegen die Bevölkerung vorgehen. In der Verzweiflung könnte der bewaffnete Kampf wieder von vielen als einzige Alternative empfunden werden. Denn es bleibt zu erinnern, daß der Feind für die Para-militärs nicht etwa nur die Zapa-tisten sind, sondern alle, die sich ihnen in den Weg stellen“, schreibt dazu der Internationale Friedensdienst SIPAZ. Heute steht nicht länger primär die Verfolgung der Zapatisten, sondern all jener, die ihre Ziele unterstützen, im Vordergrund. Unter diesen Umständen ist die Abberufung Raúl Veras ein alarmierendes Zeichen.

Nachfolger unklar

Die Abschiedszeremonien gingen zuende und ein Nachfolger ist noch immer nicht ernannt. Die Diözese von San Cristóbal hatte Anfang Januar zu einer Sondersitzung eingeladen, in deren Rah-men mehr als 200 Geistliche ein Schreiben an den Vatikan ausarbeiteten, in dem sie Vorschläge für einen Nachfolger machten. Auch baten sie darin den Papst um eine Erklärung für die „schwerwiegende Entscheidung“ gegen Vera als Nachfolger, für den sie in einem Schreiben im Dezember plädiert hatten.
Gehandelt werden in den me-xikanischen Medien bis zu sechs mögliche Kandidaten. Aussichtsreichster Kandidat scheint der erzkonservative Erzbischof von Oaxaca, Héctor González, zu sein. Nur in einem Fall kann von einer reibungslosen Kontinuität der pastoralen Arbeit der Diözese ausgegangen werden. Doch in Widerstandsgeist und Gerechtigkeitsliebe ist die Diözese von San Cristóbal zumindest gut geschult.

Das „Gesetz des Herodes“

Das „Gesetz des Herodes“ nannte der mexikanische Regisseur Luis Estrada („Bandidos“, „Ambar“) seinen neuesten Film. Er ahnte dabei wohl nicht, daß er bald selbst mit diesem ungeschriebenen Gesetz Bekanntschaft schließen würde, das da besagt „o te chingas o te jodes“ (entweder wirst du erledigt oder zur Sau gemacht). Estradas umstrittene Politsatire spielt in den 40er Jahren und schildert die Karriere von Juan Vargas, einem harmlosen, etwas dämlichen Anhänger der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die seit 1929 Mexiko regiert. Vargas wird vom Gouverneur seiner Provinz zum Bürgermeister von San Pedro de los Saguaros ernannt, mit dem Auftrag, Fortschritt und Modernität in das von Indígenas bewohnte Wüstenkaff zu bringen. Angesichts der Ebbe in der Gemeindekasse holt Vargas sich bei seinem Gouverneur Rat und wird mit einer Pistole und einem dicken Gesetzbuch entlassen. „Wenn du das richtig einsetzt, wirst du eine Menge Geld einnehmen“, gibt ihm der Gouverneur mit auf den Weg. Und Vargas beherzigt diesen Rat, wobei er von einem fetten, raffgierigen Priester und einer rabiaten Bordellbesitzerin, die den frischgebackenen Bürgermeister schmiert, unterstützt wird.
Es folgen Szenen voller Machismo, Mord, Größenwahn und Einschüchterungen der Opposition. Letztere wird durch den Dorfarzt, einen Anhänger der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN), der zwar in der Öffentlichkeit die Fahne der guten Sitten hochhält, zu Hause aber seine Dienstmagd vergewaltigt, verkörpert.
Das Thema der Korruption und Doppelmoral in der Politik ist nicht neu im mexikanischen Film, wohl aber, daß Estrada die Regierungspartei PRI beim Namen nennt und deren Slogan von „Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit” bloßstellt. Das stieß natürlich dort auf Mißfallen. Die PRI hat ironischerweise über das staatliche Filminstitut (Imcine) den Streifen zu 60 Prozent mitfinanziert, dessen Aufführung sie nun verhindern will. „Wahrscheinlich haben sie bei Imcine geschlafen und nicht richtig gemerkt, worum es in dem Film eigentlich ging“, versucht eine Mitarbeiterin der mexikanischen Kulturbehörde diesen Widerspruch zu erklären.

Zensurversuche

Als der Direktor von Imcine, Amarena, „aufwachte“, versuchte er mit allen Mitteln, die Premiere beim Filmfestival von Acapulco im November zu torpedieren. Amarena habe ihm vorgeworfen, ohne Rücksprache das Ende des Films verändert zu haben, sagte Regisseur Estrada. Nach der Intervention des Regisseurs und der Schauspieler in den Medien, sowie des französischen Botschafters Delaye als Schirmherr der Veranstaltung, mußte Amarena einen Rückzieher machen. Der Film wurde gezeigt. Den Vorwurf der Manipulation des Schlusses habe er widerlegt, sagte Estrada. Amarena habe aber argumentiert, es sei außerdem zu „gefährlich“ den Film vor den Präsidentschaftswahlen zu zeigen und schlug vor, die Vermarktung auf später zu verlegen. Estrada lehnte ab. Daraufhin zeigte Imcine ohne dessen Einwilligung, ohne Vorankündigung und ohne Werbung drei Tage lang das „Gesetz des Herodes“ in zwei Programmkinos von Mexiko-Stadt. Offenbar mit der Absicht, Estrada in einen langwierigen Rechtsstreit zu verwickeln und so weitere Aufführungen vorerst zu verhindern.
Der Protest von Filmschaffenden aus Europa und den USA und die Presseberichterstattung, die der PRI Zensur vorwarf, brachte Verhandlungen zwischen beiden Seiten in Gang. Schließlich kaufte Estrada Imcine die Rechte an seinem Film ab und verpflichtete sich, ihr den Anteil an den Produktionskosten zurückzuerstatten. Nach der Einigung und drei Tagen Aufführung wurde die nicht-autorisierte Kopie des „Gesetz des Herodes“ vom Spielplan der Programmkinos genommen. Amarena wurde gefeuert; Estrada errang einen Etappensieg. Nun bleibt abzuwarten, ob die privaten Verleiher nach diesem Skandal weiterhin Interesse am „Gesetz des Herodes“ haben und den Film erwerben.

Freier Markt am Isthmus

Die Geschichte der gescheierten Versuche, den Bau einer Wasserstraße entlang des Isthmus von Tehuantepec zu ermöglichen, ist so lang wie seine Entdeckung. Daß jene Region 1859 in einem politisch-administrativen Kuhhandel um ein Haar den USA vermacht worden wäre, zeigt wie kontrovers und bedeutend dieses Projekt schon lange ist.
Seit drei Jahren sorgt das Thema wieder für Aufruhr. In einem gigantischen Entwicklungsprogramm wurde 1996 von der Regierung Zedillo eine gewaltige Umstrukturierung der südöstlichen Bundesstaaten verkündet. Zu diesen gehören der Süden von Veracruz, Oaxaca, Tabasco, Chiapas und Teile von Campeche. Das Programm sieht den Bau neuer Verkehrswege wie einer Autobahn, einer mehrgleisigen Eisenbahnstrecke und unter Umständen auch eines Kanals entlang des Isthmus durch eine von fünf beteiligten nordamerikanischen Firmen vor, mit direkter Anbindung an die Häfen von Coatzacoalco am Golf von Mexiko und Salina Cruz an der Pazifikküste. Zur industriellen Einbindung der Region gehört auch die Errichtung von maquiladoras (Billig-Lohn-Fabriken) im Textilsektor, eine Krabbenzucht, der Abbau von nicht metallischen Erzen und der Anbau von Eukalyptusbäumen auf mehr als hunderttausend Hektar (10 Millionen Quadratmeter). Von diesen Projekten sind über 80 Gemeinden betroffen, wieviele davon umgesiedelt werden müssen, ist noch unklar. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß die Schaffung einer Pufferzone die Räumung und Absicherung bestimmter Regionen beinhaltet. Auf diese Weise könnte den Firmen der ungestörte Bau neuer Verkehrswege garantiert und die landlos gewordenen Bauern für die maquiladora-Industrie leichter gewonnen werden
Es ist das alte, bewährte Spiel der neoliberalen Freiwilderei: Eine Konsultation der betroffenen Bevölkerung findet nicht statt und das transnationale Kapital bedient sich sämtlicher regionaler Ressourcen.

Ausbau der Handelswege

Dieser so entstehende „Verkehrskorridor“ von Tehuantepec ist nur ein Beispiel eines derzeit typischen Konzepts der Stadt- und Regionalplanung, wie es überall in Mexiko Anwendung findet.
Im nationalen Entwicklungsprogramm von 1995 werden insgesamt drei solcher Korridore vorgeschlagen, die ebenfalls die Pazifikküste mit dem Golf von Mexiko verbinden sollen. Bezweckt wird damit vor allem der Ausbau der Handelswege für die industriell- und handelsstarken Bundesstaaten des Südens und Ostens der USA. Auch wenn diese Korridore in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung nicht mit dem von Tehuantepec zu vergleichen sind, sind sie logischer Bestandteil der Eingliederung Mexikos in den industriellen, kommerziellen, infrastrukturellen und militärischen Raum der Vereinigten Staaten. Die zentralamerikanischen Nachbarn können da ein ähnliches Lied von singen.
Die Dringlichkeit, mit der die USA die Öffnung nicht nur eines, sondern aller möglichen interozeanischen Korridore vorantreiben möchten, ist nicht nur auf die zu Jahresende anstehende Rückgabe des Panamakanals an die einheimische Regierung zurückzuführen. Sie gehorcht vielmehr einer tiefer liegenden Logik: der Stärkung der Wirtschaftsdynamik mit dem asiatischen Raum, insbesondere des Austausches mit dem gigantischen China. Es geht den USA heute also nicht mehr vornehmlich um die Verknüpfung der Wirtschaftszweige der Ostküste mit dem reichen und fruchtbaren Kalifornien, sondern um den (südost)asiatischen Raum.

Regionale Wirtschaft wird geschwächt

Der Entwicklungvorschlag der mexikanischen Regierung ist weit davon entfernt, den nordamerikanischen Interessen Zaum anzulegen und die regionale Wirtschaft zu stärken. Im Gegenteil, es existieren Programme offizieller und privater Art, die die Privatisierung vorantreiben und die Übernahme städtebaulicher, industrieller, agrar- und forstwirtschaftlicher Räume und Infrastrukturen durch ausländisches Großkapital unterstützen.
So ist die Privatisierung aller Transport- und Kommunikationssysteme, der Öl-, Elektrizitäts- und Metallindustrie, der Trink- und Abwasserversorgung innerhalb des letzten Jahrzehnts abgesegnet und gefeiert worden.
Im Südosten des Landes geben heute von mexikanischer Seite vor allem zwei Unternehmensverbände den Ton an: der mexikanische Unternehmensverband für internationale Angelegenheiten CEMAI und der Unternehmensverband Süd-Ost für Investitionen und Entwicklung CEIDES. Sie bereiten sich intensiv auf die Konstruktion eines Wasserstraßennetzes entlang der sumpfigen Golfküste der Bundesstaaten Veracruz, Tabasco und Campeche. Dort befinden sich 90 Prozent der nationalen Ölindustrie. Weiter wird der Bau eines interozeanischen Kanals entlang des Isthmus von Tehuantepec anvisiert. Mit auf dem Plan steht auch die Errichtung sieben gigantischer Wasserkraftwerke und die Fortsetzung der Ölbohrungen im Herzen des lacandonischen Urwalds im Bundesstaat Chiapas.
Die sozialen und ökologischen Implikationen, die ein derartig radikaler Eingriff auf den Lebensraum der überwiegend ländlichen Bevölkerung hätte, werden eklatant übergangen. Das Programm behandelt die Region wie einen einzigen, strategischen Isthmus; nicht allein aus geostrategischen Gründen, sondern auch wegen seiner natürlichen Reichtümer: Petroleum, Wasser, Mineralien, Elektrizität und biologische Vielfalt.

Federführung des Kapitals

Zedillos Plan hat dabei nur ein Ziel: das schnelle Geld und wohlgesonnene Multis. Nichts von dem käme der Masse der Bevölkerung zugute.
20 Jahre neoliberale Politik hinterlassen ein alarmierendes Zeugnis: eine am Boden liegende nationale Landwirtschaft und Industrie, ein Verlust an Souveränität bei den strategischen Ressourcen, steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne. Zudem erodiert der Binnenmarkt und im Gegenzug blüht der nationale Schwarzmarkt auf.
Die Streichung des Artikels 23 aus der mexikanischen Verfassung hat den traditionell unverkäuflichen, kommunalen Landbesitz aufgehoben und der ejido-Wirtschaft im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Möglichkeit durch Subsistenzwirtschaft den Lebensunterhalt zu bestreiten, wurde damit der Mehrzahl der Kleinbauern genommen. Mit der Privatisierung hat der Staat an Regulationskapazitäten eingebüßt und die Federführung dem (multi)nationalen Kapital überlassen.
Sowohl die politische als auch die territoriale Integrität des Staates wird zunehmend durch die Marktdynamik desintegriert. Es gibt klare wirtschaftliche Interessen, die eine politische Abspaltung ökonomisch vielversprechender Bundesstaaten förderlich erscheinen lassen. Unternehmensverbände und ihnen nahestehende Politiker machen sich in Mexiko und in den USA für dieses Anliegen stark. Ein solches Beispiel ist die Deklaration von 2000 Unternehmern aus dem an die USA grenzenden Bundesstaat Nuevo León sowie die des chiapanekischen PRI-Abgeordneten Walter León, die genau diese Argumentation führen.
Um diese Separatismusbegehren auch kulturell zu rechtfertigen, berufen sie sich gerne auf die sogenannten Prozesse kultureller Hybridisierung an der US-Grenze. Dabei stellen sie diese als separatistische Tendenzen dar, welche die Schaffung einer neuen Region „Mexamérica“ oder „Amermex“ vorantreiben würde. Daß die neu entstandenen Kulturformen oft auch Elemente eines kulturellen Widerstandes aufweisen, wird vorsätzlich ignoriert.
Dahingegen beziehen sich offizielle Stellungnahmen der Regierungspartei zu demselben Thema noch auf ganz andere Konflikte: auf die von vielen indigenen Gemeinden geforderten regionalen Autonomierechte. Gebetsmühlenartig wird von der Regierung die Forderung nach regionalen Autonomierechten, wie sie in den bis heute nicht erfüllten Acuerdos de San Andrés festgeschrieben wurden, als separatistische Gefahr dargestellt. Auf diese Weise legitimieren sie ihre Abwehrhaltung.
Chiapas ist heute aufgrund seiner natürlichen Reichtümer, besonders aufgrund seiner biologischen Vielfalt und deren Bedeutung für die Weiterentwicklung der Gentechnik, von weltweitem Interesse. Es ist ein globaler Wettkampf um die technischen Vorreiterpositionen im aufständischen Herzen dieses Landes entbrannt. Geschürt wird dadurch auch die Gefahr einer Balkanisierung der Region.
Dagegen bieten die Acuerdos de San Andrés die Möglichkeit, den kommunalen Landbesitz wieder zu stärken und die regionale Entwicklung integrativer zu gestalten.
In diesem geopolitischen Kampf befinden sich die Indígenas im Südosten Mexikos heute – begegnet wird ihnen nur mit Repression.
Das Alarmierende der multinationalen Megaprojekte im Südosten Mexikos ist neben dem Angriff auf die nationale Souveränität jedoch vor allem die wirtschaftliche und ökologische Ausbeutung einer Region und der betroffenen Bevölkerung.

Gar nicht so einsame Langstreckenläufer

Gegen halb vier steht die Si-
tuation auf des Messers Schneide. Mehr als 300 berittene Polizisten in voller Montur versperren dem Demonstrationszug den Zugang zum periférico, einer zentralen Verkehrsader von Mexiko-Stadt. Die Streikenden kommen schnell näher, an ihrer Spitze ein “Sicherheitsgürtel”, gebildet aus Vertretern des Allgemeinen Streikrates. Der Abstand beträgt noch maximal 30 Meter. Über ihren Köpfen flirren die Rotoren eines Hubschraubers, Mannschaftswagen warten mit laufenden Motoren auf ihren Einsatz. Die Kameras der privaten Fernsehanstalten sind justiert und übertragen die Bilder live in alle Haushalte des Landes.
Erst das Einschreiten von Javier González Garza, der die gemäßigt linke Stadtregierung vor Ort vertritt, verhindert ein Zusammentreffen der beiden Blöcke. Er verhandelt mit der Streikleitung. Man einigt sich auf einen Kompromiß. Die Streikenden dürfen weiterziehen, wenn sie die mittleren Spuren des periférico frei halten. An diesem 5. November blieb die von vielen befürchtete und Tausenden von Fernsehzuschauern mit Spannung erwartete Konfrontation zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften aus. Die Machtprobe endete mit einem Punktgewinn für die Bürgermeisterin Rosario Robles und die StudentInnen. Robles hatte den Zuschauern deutlich gemacht, daß sie die Straßenverkehrsordnung zu schützen weiß. Die Studierenden, die die Nationale Autonome Universität Mexikos (UNAM) seit bald sieben Monaten besetzt halten, hatten ihre Kompromißfähigkeit unter Beweis gestellt und trotzdem mehrstündige Verkehrsbehinderungen provoziert.
Die Furcht vor einer Eskalation der Gewalt war nicht unbegründet. Am 14. Oktober hatte die Polizei eine Blockade des periférico durch StudentInnen gewaltsam beendet und dabei mehrere Personen verletzt. Als Antwort auf die Polizeiaktion besetzten Kommandos des Allgemeinen Streikrates, der höchsten Vertretung der Bewegung, neun Forschungsinstitute der Universität. Außerdem rief der Streikrat zu einer weiteren Demonstration auf und wählte, ungeachtet der Warnungen der Stadtregierung, die Route über den periférico. Besonders heikel war die Situation, weil die Stadtregierung von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die Sympathien für den moderaten Flügel der Streikbewegung hegt, gestellt wird.

StudentInnen fordern freien Hochschulzugang
Was als Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren begann, hat sich mittlerweile zu einem Konflikt ausgeweitet, dessen Lösung immer schwieriger erscheint. Zahlreiche Vermittlungsversuche und Dialogrunden haben keine Fortschritte gebracht. Ende September hat der Universitätsrat, das höchste Entscheidungsorgan der Universität, einen neuen Vorstoß unternommen. Eine Kontaktkommission soll mit Vertretern des Streikrates über die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen beraten. Der Streikrat hat ein Treffen mit der Kontaktkommission bisher mit der Begründung abgelehnt, daß die Universitätsleitung mit diesem Vorschlag nur den Konflikt verlängern wolle. Er fordert stattdessen, umgehend mit direkten Verhandlungen über die Beendigung des Streiks zu beginnen. Grundlage soll der sechs Punkte umfassende Forderungskatalog der StudentInnen sein.
Darauf wiederum will sich der Rektor Francisco Barnés, Parteimitglied der seit 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), nicht einlassen. Der Rektor und die Mehrheit des Universitätsrates lassen keine Gelegenheit ungenutzt, den Dialog mit den Studierenden zu belasten. So wurde die Aufnahme von Gesprächen in der Kontaktkommission an die Bedingung geknüpft, die StudentInnen müßten auf das Rotationsprinzip in ihrer Delegation verzichten. Außerdem stellte Rektor Barnés als Antwort auf die Institutsbesetzungen 99 Strafanzeigen wegen widerrechtlicher Inbesitznahme und anderer Delikte.
In seinem 6-Punkte-Katalog fordert der Streikrat sowohl, die 1997 eingeführte Höchststudiendauer und die Zugangsbeschränkungen als auch die Zusammenarbeit der staatlichen Universität mit einem privaten Evaluierungszentrum zu suspendieren. Die Studiengebühren sollen abgeschafft werden. Weiter fordert er, alle Sanktionen gegen streikende Studierende und Unimitarbeiter zurückzunehmen und die wegen des Streiks ausgefallenen Veranstaltungen nachzuholen. Außerdem will man die Einberufung eines paritätisch besetzten Universitätskongresses, der endgültig über die Reformen von 1997 und die Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum entscheiden soll, durchsetzen.
Angesichts der Verschleppungstaktik der Universitätsleitung fragen sich viele Beobachter, welches die wahren Motive von Rektor Barnés und seiner Parteifreunde in der Regierung sind. Linke Kommentatoren unterstellen der Regierung, ihr sei die faktisch schon eingeschränkte Autonomie der Universität ein Dorn im Auge, weil sie ihrem neoliberalen Reformprogramm im Wege stehe. Präsident Zedillo baue darauf, daß die Akzeptanz für ein Eingreifen der Regierung in der Öffentlichkeit wachse, je länger sich der Streik hinziehe.

Streikbewegung gespalten
Die Fronten innerhalb der Streikbewegung sind so verhärtet wie noch nie. Sogenannte Ultras und Moderate stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die Moderaten sprechen sich, anders als die Ultras, für weitgehende Zugeständnisse an die Unileitung und eine schnelle Dialoglösung aus und wenden sich strikt gegen Straßenblockaden und Institutsbesetzungen. Die Ultras halten die Moderaten für “Verräter des Streiks” und versuchen sie durch Drohungen und mitunter auch durch Anwendung von Gewalt aus den Vollversammlungen zu drängen. Aus Protest gegen dieses Vorgehen haben sich zahlreiche Moderate aus dem Streikrat zurückgezogen und in der ersten Novemberwoche eine eigene Demonstration veranstaltet. Sie betonten jedoch nachdrücklich, daß dies nicht als Spaltung der Streikbewegung zu werten sei. Unterdessen haben sie einen eigenen Vorschlag zur Lösung des Konflikts unterbreitet. Er unterscheidet sich vom Plan des Streikrates im wesentlichen dadurch, daß die Reformen von 1997 nicht mehr erwähnt werden. Auch die Suspendierung der Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum gehört nicht mehr zu den Vorbedingungen für ein Ende des Streiks. Der Kompromißvorschlag soll am Streikrat und dem Universitätsrat vorbei den Studierenden und Dozenten direkt vorgelegt werden.
Unterstützung kommt derweil aus den Bergen von Chiapas. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) hat ihre Solidarität mit den Studierenden bekundet und sie davor gewarnt, möglichen Zusagen der Universitätsleitung und der Regierung zu trauen. Verstärkung könnte die Bewegung auch bald durch die Gewerkschaft der Universitätsbeschäftigten bekommen. Diese droht mit Streik, wenn Rektor Barnés weiterhin kein Lohnangebot vorlegen sollte.
Mittlerweile hat das neue Semester begonnen, ohne daß sich an der unversöhnlichen Frontstellung der Parteien etwas geändert hätte. Ob doch noch eine Verhandlungslösung erreicht werden kann oder es zu einem Einsatz von Polizei und Militär im Konflikt kommt, ist deshalb nach wie vor eine offene Frage.

Gerangel im Vorwahlkampf

Mexikos Regierungssystem wurde oft als die „perfekte Diktatur“ bezeichnet. Doch auch die perfektionierteste Machtmaschine kann verschleißen, zu sehr prägen mitlerweile soziale Auseinandersetzungen und politische Konflikte, Korruptionsaffären und Gewalt den politischen Alltag. Aus dem einstigen Wunderknaben der nachholenden Industrialisierungspolitik und späteren Vorzeigekandidaten neoliberaler Modernisierungwünsche ist ein Land geworden, von dem viele Beobachter behaupten, es „kolumbianisiere“ sich. Und sie liegen nicht falsch damit: In Chiapas und Guererro prägen Konflikte zwischen linksgerichteten bewaffneten Gruppen und der Bundesarmee den Alltag. Die Studierenden der nationalen Universität UNAM und die Beschäftigten der staatlichen Elektrizitätsbetriebe proben seit Monaten den zivilen Aufstand. Drogenhandel, Korruption und Machtmißbrauch haben die staatlichen Organe durchdrungen. Während eine schmale Elite immer reicher wird, leben einer Studie der Weltbank zufolge heute 40 Prozent der MexikanerInnen von einem Einkommen von unter zwei Dollar pro Tag. 15 Prozent muß sich sogar mit weniger als einem Dollar begnügen. Und das ist auch in Mexiko so gut wie unmöglich. Eine Regierungskommission gab kürzlich bekannt, daß der Reallohnverlust der MexikanerInnen während der Amtszeit Zedillos 30 Prozent beträgt. Diese erschreckende Zahl gewinnt eine nahezu zynische Dimension, wenn man weiß, daß Zedillo 1994 die Wahl mit dem Slogan „Wohlstand für Deine Familie“ gewonnen hat.

PRI-populistisches enfant terrible gegen Technokraten Angesichts dieser Situation ist es nicht verwunderlich, daß die MexikanerInnen die hektischen Aktivitäten des Vorwahlkampfes sowohl mit Hoffnung aber auch mit Mißtrauen betrachten. Die Regierungspartei PRI hat den Wahlkampf bereits im Frühjahr eingeleitet. Im Mai beschloß sie, ihren Kandidaten durch eine Volksabstimmung am 7. November zu bestimmen. Dies stellte eine kleine Revolution dar, denn bisher war es üblich, daß der amtierende Präsident seinen Nachfolger bestimmte. Der eigentliche Urnengang war dann nur noch Formsache und diente mehr dem symbolischen Einholen des Einverständnisses der Bevölkerung. Falls sich das Wahlvolk bockig zeigte, half die PRI und der mit ihr verwachsene Staatsapparat mit unfeinen Mitteln nach.
Jetzt sollte also alles anders werden. Zedillo verzichtete demonstrativ auf sein verbrieftes „Recht“ und forderte zu Kandidaturen auf. Aber statt durch einen scheinbaren Schritt zur Demokratisierung Stabilität zu schaffen, erreichte er das Gegenteil: Die Auseinandersetzungen zwischen den vier Anwärtern auf die PRI-Kandidatur brachten die Partei in eine Zerreißprobe. Der Hauptgrund dafür ist, daß statt des von Zedillo und maßgeblichen Teilen des Parteiapparates favorisierten ehemaligen Innenministers Francisco Labastida der Querulant Roberto Madrazo das Rennen machen könnte.
Während Labastida für die Fortsetzung der Politik Zedillos steht, also die Weiterführung neoliberaler Wirtschaftsreformen und der „sanften“ Repression gegen alle, die sich dagegen wehren, ist Madrazo das unkalkulierbare enfant terrible der Staatspartei. Er war lange Zeit Gouverneur des Bundesstaates Tabasco und machte sich vor allem durch zwei Dinge einen Namen: Seine Verwicklung in den Drogenhändlersumpf und seine harte Hand gegen politische Opponenten. Nur durch den Aufmarsch von starken Polizei- und Militärtruppen konnte er 1995 die Bewegung des PRD-Kandidaten Manuel López Obrador für das Gouverneursamt in Tabasco stoppen. Dennoch wächst die öffentliche Zustimmung für Madrazo. Der Hauptgrund dürfte in den populistischen Sprüchen liegen, mit denen er sein Publikum bei Laune hält. Darin wendet er sich gegen die gesichtslosen Technokraten, die seine eigene Partei dominieren. Während die Auseinandersetzung zwischen Labastida und Madrazo stetig eskaliert, stehen die beiden anderen PRI-Anwärter Humberto Roque und Manuel Barlett weit abgeschlagen am Rande des Geschehens.
Wer am 7. November die Nase vorne haben wird, ist noch nicht entschieden. Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, daß unabhängig vom Votum der Basis, der Verlierer sich nicht mit seinem Schicksal abfinden wird. Zu tiefgreifend sind die Interessensgegensätze, die mit Labastida und Madrazo aufeinanderprallen. Letztlich geht es um eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des vormaligen Präsidenten Carlos Salinas, die Madrazo unterstützen, und der Gruppe um den amtierenden Präsidenten Zedillo, die Labastida durchsetzen möchte. Dabei spielen Konflikte um das politische Programm eine untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr darum, welche Gruppe in den nächsten sechs Jahren die Lizenz zum Absahnen bekommt. Der Tonfall, den die parteiinternen Kämpfe annehmen, erinnert unangenehm an den Wahlkampf 1994: Damals wurde der bereits nominierte PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio von seiner eigenen Leibgarde auf einer Wahlkampfveranstaltung erschossen. Als Hintermann wurde Carlos Salinas und sein Stab vermutet.

Uneinige Opposition

Wie die Regierungspartei ist auch die Opposition heillos zerstritten. Dabei sollte dieses Mal in ihrem Lager eigentlich alles anders werden. Im Frühjahr rauften sich die Anführer der linksgerichteten Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der rechtskatholischen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zusammen, um ein Wahlbündnis zu schließen. Über die tiefgreifenden politischen Differenzen hinweg, sollte eine gemeinsame Kandidatur die 70-jährige sklerotisierte PRI-Herrschaft stürzen. Die Idee schien vielen Beobachtern von Beginn an paradox. Die PAN steht in der Tradition eines rechtskonservativen Papstkatholizismus, der in den letzten Jahren mit neoliberalen Elementen angereichert wurde. Auf deutsche Verhältnisse übertragen liegt der Vergleich zur CSU nahe. Die PRD dagegen vereint seit 1989 eine Linksabpaltung der PRI mit der ehemaligen Kommunistischen Partei und zahlreichen sozialen Bewegungen. Beide Parteien vereint lediglich, daß sie in Opposition zur PRI stehen. Dennoch gewann die Idee der Allianz große Popularität. Umfragen zufolge wollten 60 Prozent für einen PAN/PRD Kandidaten stimmen. Doch Ende September erteilte die PAN dem Bündnis eine endgültige Absage. Zu stark waren denn doch die politischen Differenzen und nicht zuletzt auch die Eitelkeiten der beiden starken Männer von PRD und PAN, Cuauhtemoc Cárdenas und Vicente Fox. Keiner von beiden dachte auch nur im geringsten daran, zugunsten des anderen von einer Kandidatur abzusehen. Jetzt versuchen beide auf eigene Faust, die PRI zu stürzen. Wer dabei die besseren Chancen hat, ist noch schwer zu sagen. Nach Umfragewerten liegt Fox momentan deutlich vor Cárdenas, aber das muß noch nichts heißen. Schließlich schaffte der PRD-Politiker das Kunststück, während des Wahlkampfes für das Bürgermeisteramt von Mexiko-Stadt 1997 in nur wenigen Monaten von 15 Prozent Zustimmung bei Umfragen auf 48 Prozent der realen Stimmen zu kommen. Zum ersten Mal trat mit Cárdenas ein Oppositionspolitiker diese wichtige Funktion an. Kürzlich trat er davon zurück, um seine ganze Energie der Wahlkampagne zur Verfügung zu stellen. Cárdenas verfügt über zwei große Pluspunkte: Erstens ist sein Vater der berühmte General Lázaro Cárdenas, der von 1934-40 Mexiko regierte und aufgrund seiner sozialen Reformpolitik bis heute hohes Ansehen genießt. Cárdenas junior spielt ganz bewußt mit seiner Herkunft, der er auch seine Position verdankt. Zweitens gilt Cárdenas als integrer und nicht-korrumpierbarer Politiker und ist damit eine absolute Ausnahmeerscheinung. Seine politische Position läßt sich mit moderat-links beschreiben. Er ist kein Adept des Neoliberalismus, wie viele der europäischen Sozialdemokraten, aber auch kein radikaler Sozialreformer. Sein großes Defizit ist, daß er das Charisma eines Besenstiels besitzt. Abgesehen davon, daß er nie oder nur extrem gequält ein Lächeln zustande bringt, kann er vor Publikum einfach keine vollständigen Sätze bilden, wenn er sie nicht gerade verkrampft vom Blatt abliest. Das macht sich schlecht in Mexiko.
PAN-Kandidat Vicente Fox ist dagegen ein Mann, wie ihn das mexikanische Publikum liebt. Der 56-jährige gibt sich ganz als ranchero. Er trägt Schlangenlederboots, Jeans und einen Cowboyhut. Er gibt sich als Pragmatiker, der zupackt und die Probleme löst, statt über sie zu diskutieren.
In seiner Präsentation ist der Katholik gnadenlos opportunistisch. Kürzlich flog er nach Kuba, um Fidel Castro seine Sympathie zu bekunden, der Papst war schließlich auch schon da. Dann kam er auf die grandiose Idee, die mexikanische Nationalheilige, die Jungfrau von Guadalupe, zum Wahlkampfmaskottchen zu machen. Interessant bei diesen Schachzügen ist ihr sozialpopulistischer Charakter. Die Jungfrau besitzt nämlich indianische Gesichtszüge und wird auch von den Zapatistas und linksgerichteten bäuerlichen Bewegungen verehrt. Fox war bis vor kurzem Gouverneur des Staates Guanajuato. Dort hat er nicht viel verändert, aber bewiesen, daß er regieren kann.
Seine politischen Positionen sind eher moderat. So ist er in der Abtreibungsfrage beispielsweise liberaler als seine Partei. Eine von ihm geführte PAN-Regierung könnte allerdings sehr gefährlich für die mexikanische Linke und soziale Bewegungen werden. Denn Fox ist nur das folkloristische Sahnehäubchen auf der ansonsten unappetitlichen PAN.
Noch sind die rassistischen Sprüche des letzten PAN-Kandidaten Diego Fernández de Cevallo nicht vergessen, der sich als legitimer politischer Erbe Hernán Cortes gerierte, und der indianischen Bevölkerung Mexikos schlicht den Verstand absprach. Legendär ist auch die Aktion des PAN-Bürgermeisters der zweitgrößten mexikanischen Stadt Guadalajara, der Frauen in der öffentlichen Verwaltung das Tragen von Miniröcken als unsittlich verboten hatte. Falls die PAN mit ihrem Mix aus katholischer Traditionswahrung, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und neoliberaler Wirtschaftspolitik tatsächlich die nächste Regierung stellen sollte, wird mancher Linker der korrupten, aber wenigstens säkularen PRI noch einige Tränen nachweinen.

Alles offen

Mit der Volksabstimmung über den PRI-Präsidentschaftskandidaten am 7. November kommt die langgezogene Schlußphase des Wahlkampfes auf Touren. Die Chancen der PRI, doch noch einmal die Amtszeit der bereits jetzt ältesten Regierungspartei der Welt um weitere sechs Jahre zu verlängern, sind nach dem Scheitern des Oppositionsbündnisses gewachsen. Aber noch ist alles offen. Sowohl Fox als auch Cárdenas ist durchaus zuzutrauen, daß sie sich aus jeweils eigener Kraft durchsetzen können. Zudem könnte nach der Bestimmung des PRI-Kandidaten der unterlegene Flügel eine eigene Kandidatur anstreben und somit die Partei spalten. Deutlich ist aber auch, daß erhebliche Teile der Bevölkerung das Spektakel, das die politischen Parteien liefern, längst satt haben. Sie halten alle für korrupt, machtbesessen und inkompetent. Am deutlichsten formulieren die Zapatistas aus Chiapas dieses Unbehagen und verknüpfen es mit der Forderung nach einer grundlegenden Demokratisierung und einer anderen Art, Politik zu betreiben. Falls es am Wahltag zum Versuch der PRI kommen sollte, die Abstimmung – wie so oft – zu manipulieren, könnte dieser vierte politische Faktor ein erhebliches Gewicht gewinnen.

Flutkatastrophe als Wahlkampfhelfer

Nachdem sich Anfang der zweiten Oktoberwoche das Ausmaß der Unwetter-Katastrophe im Süden Mexikos immer deutlicher abzeichnete – die Opferzahlen steigen beinahe stündlich, insgesamt sind nach Angaben des mexikanischen Innenministeriums über 275 000 Menschen von den Fluten betroffen – ,wurde in den vier am stärksten betroffenen Bundesstaaten Veracruz, Tabasco, Puebla und Hidalgo der Notstand ausgerufen. Opposition und Nicht-Regierungsorganisationen fürchten weitaus höhere Zahlen, zumal aus vielen kleineren Gemeinden noch keine Angaben vorliegen. Auch bestreitet die PRI-Regierung, daß es in den überschwemmten Gebieten bereits zu Hungersnöten und Seuchenfällen gekommen ist.

Werbewirksames Elend: Zedillo ist überall

Deutlich abzusehen ist allerdings, wie schlampig die PRI-Regierung im Vorfeld und auch jetzt mit solche Naturphänomene umgeht: Nachdem sich Präsident Ernesto Zedillo bereits nach dem Erdbeben in Oaxaca werbewirksam in zerstörten Schulen mit kleinen Kindern auf dem Arm hat ablichten lassen, reist er nun im Überschwemmungsgebiet von einem Ort zum nächsten – die Kampagne für die Präsidentschaftswahlen 2000 läuft auf Hochtouren.
Dennoch hat der mexikanische Präsident zunächst bekräftigt, daß Mexiko keine Auslandshilfe benötige: Es gebe keinen Mangel an Ressourcen, sondern nur ein Transportproblem, so der Präsident. Zwei Tage später jedoch hatten es sich die Regierenden anders überlegt. Man wolle die angebotene Hilfe in Anspruch nehmen, allerdings müßten zuerst die Transportprobleme gelöst werden.

Armenviertel besonders betroffen

Wie auch bei den Überschwemmungen vergangener Jahre sind besonders in ärmeren Gemeinden und städtischen Randbezirken Zehntausende von den Fluten betroffen. In Teziutlan fand am zweiten Oktoberwochenende eine noch immer unbestimmte Anzahl von Personen den Tod, als im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil des Stadtrandes wegbrach. Ein Erdrutsch riß in einer Breite von über einhundert Metern dutzende Häuser und Hütten mit sich.
Zwar wurden auf Geheiß der mexikanischen Bundesregierung 10.000 Soldaten und weiteres Personal in die betroffenen Gebiete gesandt, eine Verbesserung der humanitären Situation ist allerdings kaum abzusehen. Für Empörung sorgte zudem die Stellungnahme Zedillos, die Regierung nehme eine Truppenverlegung mit Vorsicht in Angriff, da bei Hilfsaktionen in den vergangenen Jahren mehrere Soldaten ums Leben kamen. Die ohnehin gereizte Stimmung im Katastrophengebiet wird dadurch noch geschürt. Wo Zedillo auch auftaucht, schallen ihm „Wir haben Hunger“-Rufe entgegen.

Scharfe Kritik der Opposition

Scharfe Angriffe wegen „unklarer Prioritäten“ muß sich die Regierung unter anderem auch von dem PRD-Abgeordneten Gilbarto Rivas gefallen lassen: Zwar seien 10 000 Soldaten als Helfer in das Katastrophengebiet verlegt worden, zugleich verblieben aber über 40 000 Soldaten in der „Konfliktzone“ des Bundesstaates Chiapas. Auch konzentrieren sich die Hilfsmaßnahmen auf ausgewählte Gebiete, während etwa Hilfsgesuche aus Veracruz unbeantwortet blieben.
Hilfsmaßnahmen vor Ort werden deshalb verstärkt von zivilen Gruppen in Angriff genommen. Auch der „Streikrat“ der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) rief die Bevölkerung der Hauptstadt zu Spendenaktionen auf. Von dem besetzten Universitätsgelände aus starteten Hilfskonvois unter dem Motto: „Nur das Volk kann dem Volk helfen“ in das Katastrophengebiet.
Der Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses PRD-PT Cuauthémoc Cárdenas trat derweil mit schweren Vorwürfen gegen die PRI an die Öffentlichkeit. Die Regierungspartei trage einen Großteil der Verantwortung für die Toten, weil sie im Sinne einer sozialen Politik in den letzten Jahren völlig verantwortungslos gehandelt habe. „Wenn in der Vergangenheit ein Frühwarnsystem für Naturkatastrophen installiert worden wäre, hätten wir jetzt weitaus geringere Schäden zu beklagen“, so Cárdenas. Der Sprecher der mexikanischen Sektion von Greenpeace, Roberto Lopez bestätigte, daß vor allem mangelnde Vorbereitung und Organisation der Grund für die katastrophalen Folgen von Naturphänomenen sind. Die mexikanische Regierung habe einer extremen Umweltzerstörung, die zu erheblicher Bodenerosion geführt hat, jahrelang zugesehen, ohne dagegen einzuschreiten.
Ähnlich reagierte der Vorsitzende der Grün-Ökologischen Partei (PVEM), Jorge Gonzáles Torres, der die PRI-Bürgermeister im Katastrophengebiet bezichtigte, Hilfsmittel für ihre Wahlkampagne abzuzweigen. In mehreren Gemeinden im Bundesstaat Puebla sei zudem von offizieller Seite die Order ergangen, Stautore zu öffnen, um so die Stauanlagen zu entlasten. Da die Bevölkerung nicht, wie nötig, 48 Stunden vorher von den Maßnahmen informiert wurde, seien nun über 1000 weitere Betroffene zu beklagen. Zudem zeichnen sich erhebliche Versorgungsengpässe besonders in ländlichen Gebieten ab, in denen über 700 000 Bauern mit ihren Ernten ihre gesamte Lebensgrundlage verloren haben.

KASTEN

Von Katastrophe zu Katastrophe

Weite Teile Mittelamerikas stehen erneut Land unter

Knapp ein Jahr nach den verheerenden Überschwemmungen durch den tropischen Wirbelsturm Mitch stehen in diesen Tagen wieder weite Teile Mittelamerikas unter Wasser: Über 50 000 Menschen wurden evakuiert, 70 Tote und über 100 Verletzte und Vermißte gezählt. Die wirtschaftlichen Folgen für die ohnehin extrem armen Länder lassen sich kaum abschätzen: Fruchtplantagen, Maisfelder und Verkehrswege sind vielerorts erheblich verwüstet. In vielen Gegenden ist die Wasserversorgung zusammengebrochen, es drohen Seuchen wie Cholera und Denguefieber.
Ähnlich wie Mitch wird das Unwetter mit dem Klimaphänomen El Niño in Verbindung gebracht, und wie vor knapp einem Jahr sind es die ärmsten Bevölkerungsgruppen, die in prekären Wohnlagen hausen und deren Lebensgrundlage als erstes zerstört wird. Die staatlichen Aufbauprogramme sind vor allem in Fernstraßen und andere Prestigeobjekte geflossen statt in direkte Hilfe für die Betroffenen. Die zunehmende Bodenspekulation hat im Gegenteil die Lage vieler Menschen auf dem Lande noch verschärft. Statt einer solchen Politik, die von einer Katastrophe in die nächste führt, ist eine langfristige Strategie notwendig, die die sozialen Basisorganisationen und kleinbäuerlichen ProduzentInnen einbezieht, um Wiederaufforstung, ökologische Landbauprogramme und sichere Siedlungsprojekte zu entwickeln. Dies aber erfordert Umdenkprozesse auf internationaler Ebene, bei denen weitreichende Entschuldungsmaßnahmen ebenso eine zentrale Rolle spielen wie das Aussetzen laufender Strukturanpassungsprogramme.

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Der Krieg gegen das eigene Volk

Als „Teil eines Krieges“ bewerten Julio Scherer García und Carlos Monsiváis in ihrem jüngsten Buch die mexikanische Politik von 1968. Damals marschierte das Militär gegen eine großenteils friedliche studentische Protestbewegung auf – mit einer immer noch unbekannten Zahl von Todesopfern und mit schwerwiegenden Folgen für politische Oppositionsarbeit in Mexiko in den folgenden Jahrzehnten. Parte de guerra, der auf den ersten Blick etwas reißerische Titel, trifft die Sachlage nicht schlecht. Denn es kann durchaus als Krieg bezeichnet werden, was damals geschah: als Krieg gegen das Infragestellen der eigenen Machtfülle.
Das neuerschienene Buch liefert Erkenntnisse über Entscheidungen in der Armeespitze. Es enthüllt nicht die gesamte Kriegsstrategie; damit bleiben wichtige Fragen offen. Aber es liefert immerhin dokumentarische Beweise dafür, wo die Regierung den Feind sah: in den StudentInnen des eigenen Landes, angeblich angestachelt durch den Weltkommunismus, und wie sie ihn bekämpfen wollte: mit aller Härte.
Die eigentliche Brisanz des Buches liegt darin, daß militärische Akten veröffentlicht werden. Noch vor Jahresfrist mußte die parlamentarische Tlatelolco-Untersuchungskommission konstatieren, daß die Regierung Zedillo die entscheidenden Akten nicht zugänglich gemacht hat (vgl. LN 293). Auch die Herausgabe der nun vorliegenden Berichte und Einsatzpläne ist nicht einem Sinneswandel in der Regierungsspitze zu verdanken; die bleibt in ihrem Schweigen zu Tlatelolco eisern. Der Grund liegt vielmehr beim damaligen – längst verstorbenen – Verteidigungsminister Marcelino García Barragán, der Akten aus seinem Besitz zur posthumen Veröffentlichung aufbewahrt hat. García Barragán war mit Scherer bekannt und hatte Vorsorge getroffen, daß dieser die Dokumente erhält. Aber erst der Enkel des Generals sollte sie ihm im März diesen Jahres tatsächlich übergeben.

Zu spät für Ehrenrettung

Marcelino García Barragán, Minister unter der Präsidentschaft von Gustavo Díaz Ordaz (1964–1970), war zu Lebzeiten wenig von seinem Sinn für ehrbare Wahrhaftigkeit anzumerken. Er verhielt sich dem strammen Kommunistenhasser Díaz Ordaz gegenüber loyal, auch in Kenntnis von groben Rechtsverstößen.
Er folgte den Anordnungen seines Chefs und ließ mehrfach die Armee gegen die unbewaffneten, Freiheit und Demokratie fordernden Jugendlichen aufmarschieren. Auch der Einsatzbefehl für den 2. Oktober 1968, als im Hauptstadtviertel Tlatelolco einige hundert Versammelte ermordet wurden, ging über seinen Schreibtisch. Immerhin hat er sich mit Ruhm besprenkelt, als er verhinderte, daß nach dem Massaker der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Aber da war es für die Ehrenrettung bereits zu spät.
Die nun veröffentlichten Dokumente sind militärische Einsatzpläne vom Beginn der StudentInnenproteste im Juli 1968 bis zum 2. Oktober, darüber hinaus formale militärinterne Berichte und eine persönliche Einschätzung García Barragáns über den gesamten Ereigniszeitraum. Aus den Einsatzplänen ist vor allem zu entnehmen, daß für den 2. Oktober keine grundlegend anderen Anweisungen galten als für vorherige Einsätze. Die Armee sollte die Kundgebung auflösen und das politische Ziel der Aktion, die studentische Führungsspitze zu verhaften, flankieren. Der Schußwaffengebrauch wurde jedoch – wie auch sonst üblich – nur für den Fall angeordnet, daß die Soldaten angegriffen würden und mindestens fünf Opfer zu verzeichnen hätten.

Wer war Täter?

Allerdings wurden die Soldaten angegriffen – und zwar von bewaffneten, zivil gekleideten Personen aus am Platz liegenden Gebäuden. Bereits 1998 konnte anhand von Filmaufnahmen bewiesen werden, daß – wie dies Augenzeugen immer schon berichtet hatten – die ersten Schüsse von einer militärischen Sondereinheit abgegeben worden waren, nicht von StudentInnen. Die Aufzeichnungen des Verteidigungsministers helfen nun, diese Leute zu identifizieren. Es handelte sich um Angehörige des Generalstabs des Präsidenten EMP (Estado Mayor Presidencial), einer dem mexikanischen Präsidenten direkt unterstehenden Sondereinheit der Armee. García Barragán, der während der entscheidenden Stunden ständig mit den Verantwortlichen vor Ort in Verbindung stand, berichtet von einem Anruf des Chefs des EMP, Luis Gutiérrez Oropeza, der ihm wie nebenbei mitteilte, daß er den Schießbefehl gegen die StudentInnen auf dem Platz erteilt habe. Dabei wurden auch Soldaten verletzt, die daraufhin den Platz mit scharfer Munition und Bajonetteinsatz räumten. Sie beschossen auch das Gebäude, um die vermeintlichen studentischen FreischärlerInnen auszuschalten – ein Beleg dafür, daß es sich nicht um ein geplant gemeinsames Vorgehen von EMP und Armee handelte, sondern von einem Konflikt zwischen beiden ausgegangen werden muß.
Scherer García verweist im Buch auf andere Ereignisse, die das EMP belasten. So seien bewaffnete Angriffe auf Hochschulgebäude, die es bereits in den Wochen vor Tlatelolco verstärkt gab, nicht von irgendwelchen unbekannten „Terroristen“ geführt worden, sondern – nach den Auskünften von García Barragán – eben vom EMP. Gutiérrez Oropeza sei auch für ein Bombenattentat am 18. September 1969 auf das Redaktionsgebäude der Tageszeitung Excélsior verantwortlich. Der EMP-Chef habe schon 1964, also zu Beginn seiner Dienstzeit, von Díaz Ordaz einen umfassenden Freibrief für außerlegale Aktionen erhalten habe, sofern der Präsident nicht hineingezogen würde.
Die Rolle von Gutiérrez Oropeza und dem EMP wurde bislang im Zusammenhang mit Tlatelolco noch nicht genauer untersucht – das ist nach der Veröffentlichung des Buches nun an der Tagesordnung. Allerdings ist der erwähnte Anruf nur durch die persönliche Notiz García Barragáns belegt, durch einen relativ schwachen Beweis also. Der noch lebende Gutiérrez Oropeza stritt nach Bekanntwerden dieser Aussagen alles ab, und angesichts des Schweigens der PRI-Regierung ist vorerst nicht damit zu rechnen, daß dem Fall juristisch mit Erfolg nachgegangen werden kann.
Würde sich die von García Barragán dargestellte Sachlage jedoch als richtig herausstellen, dann hieße das, daß der 1979 verstorbene Präsident Díaz Ordaz weitaus konkreter am Massaker Schuld hätte, als das bisher aufgrund seines verfassungsmäßigen Oberbefehls über die Streitkräfte angenommen wurde.

Julio Scherer García / Carlos Monsiváis: Parte de guerra. Tlatelolco 1968. Documentos del general Marcelino García Barragón. Los hechos y la historia. Aguilar, México D.F. 1999. 270 S., mit Faksimiles und Fotos.

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