Medizinische Versorgung nach Bismarckschem Modell

Solange sich Juanita López Tores erinnern kann, hat sie ihr Geld als Putzfrau in Privathaushalten verdient. Eine formale Anstellung hatte sie noch nie. Doch die 60jährige, die seit 20 Jahren zuckerkrank ist, kann sich glücklich schätzen. Einer ihrer Söhne fand Arbeit in einer Fabrik. Dadurch kommt die gesamte Familie in den Genuß der öffentlichen mexikanischen Krankenversicherung, also auch Juanita López. Als Putzfrau ohne Arbeitsvertrag hätte sie keine Chance, in einem Krankenhaus der Sozialversicherung IMSS ( Instituto Mexicano de Seguridad Social) behandelt zu werden. Da sie nicht das Geld für einen Privatarzt aufbringen kann, müßte sie sich an eine Sprechstunde oder eine Klinik des Gesundheitsministeriums wenden, wenn sie ihren Zucker kontrollieren lassen will oder neue Tabletten braucht. Der informelle Sektor, in dem immerhin mehr als ein Drittel der Bevölkerung arbeitet, bleibt von dem Sozialversicherungswesen ausgeschlossen. Die Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, die sich im übrigen stark von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung leiten ließen, hatten sie einfach übergangen.

Das Bismarcksche Modell

Es war im Jahre 1942, als der mittelamerikanische Staat erstmalig ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedete. Maßgeblich beteiligt war der Hamburger Arzt Max Frenk, der vor der Judenverfolgung der Nazis ins mexikanische Exil geflüchtet war. Damals entstand das mexikanische Sozialversicherungsinstitut IMSS, das allen formell beschäftigten Arbeitern eine Renten- und Krankenversicherung gewährleistet. Wie in Deutschland handelt es sich dabei um Pflichtversicherungen, die Beiträge werden unmittelbar von den Löhnen einbehalten. Grundlage war und ist das Solidarprinzip: Die Gesunden bezahlen die Behandlung der Kranken. Das individuelle Gesundheitsrisiko trägt nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft der Versicherten.
Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas und vor allem zum nördlichen Nachbarn USA, wo man lange Zeit gar nicht von einem System sprechen konnte, war die damalige mexikanische Sozialgesetzgebung durchaus fortschrittlich. Zumindest in den grossen und mittleren Städten. Auf dem Lande, besonders in den abgelegenen Bergregionen mit überwiegend indigener Bevölkerung, blieb die Idee allerdings wirkungslos. Dort gab es lange Zeit keinerlei Krankenversorgung, keine Ärzte, geschweige denn Krankenhäuser. Bis heute gelten 1 000 Gemeinden als extrem verarmt, nicht weniger als 15 Millionen Menschen auf dem Lande fallen unter die Armutsgrenze. Der Staat nahm sich erst in den letzten Jahrzehnten dieses Problems an. Das Gesundheitsministerium kümmert sich heute zunehmend um die medizinische Versorgung der armen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten, unterhält eigene Arztpraxen und kleine Krankenhäuser.
In jüngerer Zeit rückte das Armutsproblem aufgrund der zunehmenden Landflucht immer näher an die Großstädte heran. Heute konzentriert sich ein beachtlicher Teil der insgesamt 42 Millionen armen MexikanerInnen – 22 Millionen gelten sogar als extrem arm – in den Elendsgürteln um Mexiko-Stadt und die anderen Großstädte. Die meisten von ihnen leben von Gelegenheitsjobs, als StraßenverkäuferInnen oder SchuhputzerInnen, auf jeden Fall ohne Arbeitsverträge. Für die medizinische Versorgung der Armen, mehr als ein Drittel aller MexikanerInnen, kommt das Gesundheitsministerium, also der Staat, unmittelbar auf. Auch die Gesetzliche Krankenkasse kann ihre Leistungen nur dank großzügiger Spritzen aus der Staatskasse aufrechterhalten.
Solange der Staatshaushalt der zweitgrößten Wirtschaftsnation Lateinamerikas dank der Erdölexporte stabil blieb und nicht von Krisen geschüttelt war, funktionierte dieses System recht gut. Doch spätestens seit der Pesokrise hat die Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens spürbar nachgelassen. Javier Serna Alvarado, der Vorsitzende der Gesundheitskommission im Stadtparlament von Mexiko-Stadt, verwies schon vor zwei Jahren auf eine gefährliche Entwicklung: In den öffentlichen Spitälern steht heute nur noch ein Siebtel der erforderlichen Medikamente zur Verfügung.
Einer der Arbeitgeber der Putzfrau Juanita López kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Jahrelang war der 65jährige Hochschullehrer Jesús Vázquez in einer privaten Krankenkasse. Wegen einer anstehenden Gallenblasen-Operation, die ihn 35.000 Pesos (ca. 8.000 DM) Eigenbeteiligung gekostet hätte, wechselte er kurzerhand in das ISSSTE. „Die medizinische Basisversorgung war recht gut“, erinnert er sich, „aber es mangelte an vielen Dingen wie Verbandmaterial und Wäsche“. Außerdem mußte er mit einem Fünfbettzimmer vorlieb nehmen und die Klinik schon nach zwei Tagen wieder verlassen. Was für Angehörige der Oberschicht fast einer Zumutung gleichkommt, ist für die einfachen MexikanerInnen indes völlig normal. Für Vázquez’ Putzfrau stellen derartige Bedingungen jedenfalls keinen Grund zur Klage dar. Juanita López Tores fühlt sich in ihrem zuständigen Krankenhaus gut versorgt. Die ansonsten von vielen Menschen kritisierten mehrstündigen Wartezeiten entstünden nur, wenn sie sich ohne Terminabsprache vorstellt. Die Ärzte kennen sie nach achtzehnjähriger Behandlung mittlerweile sehr gut und sind freundlich zu ihr. Da sie immer Termine für die regelmäßigen Laborkontrollen bekommt, muß sie kaum warten. Die gesamte Behandlung und die Medikamente sind umsonst. Als es einmal nach der Operation eines Tumors in der Leiste zu den bei DiabetikerInnen nicht seltenen Wundheilungsstörungen kam, wurde sie kurzerhand in die besser ausgerüstete Santa-Mónica-Klinik überwiesen. Auch dort war für sie die Behandlung kostenfrei, und sie konnte nach kurzem Aufenthalt gesund entlassen werden.

Die Hierarchie der Versorgung

Das mexikanische Gesundheitssystem bietet eine hierarchisch aufgebaute Versorgung. Sowohl das Gesundheitsministerium als auch die gesetzliche Krankenversicherung behandeln die PatientInnen in der Regel zunächst in einer Art Poliklinik, in der die wichtigsten Apparate und Labortests zur Verfügung stehen und leichtere Fälle versorgt werden können. Bei komplizierteren Erkrankungen oder der Notwendigkeit einer mehrtägigen stationären Behandlung, etwa bei Operationen, Lungenentzündungen oder unkomplizierten Herzinfarkten, werden die PatientInnen an Kliniken des sogenannten zweiten Niveaus überwiesen. Bei schweren, lebensbedrohlichen oder sehr seltenen Krankheiten erfolgt die Aufnahme in einem hochspezialisierten Klinikum, in dem alle technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Neun „Nationalinstitute“ des Gesundheitsministeriums sind mit der Behandlung schwerkranker PatientInnen betraut. Sie bieten einen auch im internationalen Vergleich sehr hohen medizinischen Standard. Dr. Enrique Wolpert, der Direktor dieser mexikanischen High-Tech-Kliniken, weist noch auf eine andere Aufgabe hin: „Sie sind keine bloßen hochspezialisierten Krankenhäuser, sie wurden auch als Ort der wissenschaftlichen Forschung und der Ausbildung von Fachkräften ins Leben gerufen. Das erlaubt ihnen die medizinische Behandlung auf traditionell höchstem Niveau und in bester Qualität.“ Davon profitieren keineswegs nur betuchte MexikanerInnen. Das verdeutlicht ein Besuch im Nationalen Krebsinstitut. Die Warteräume sind brechend voll. Geduldig warten die Menschen, bis ihre Behandlungsnummer aufgerufen wird. Die allermeisten sind ärmlich gekleidet. „Drei Viertel unserer PatientInnen können nichts oder nur einen symbolischen Beitrag für die Behandlung bezahlen“, bestätigt der ärztliche Direktor Dr. Jaime de la Garza Salazar, „und von den übrigen zahlt allenfalls ein winziger Prozentsatz die ganze Therapie selber.“
Mit Hilfe von SozialarbeiterInnen werden die PatientInnen in sechs Gruppen eingeteilt. Kategorie eins umfaßt die Mittellosen, Kategorie sechs die Leute, die über genug Geld oder aber eine private Krankenversicherung verfügen. Die Untergruppe 1x, bei der die Zuordnung vom Ärztlichen Leiter eines Instituts gegengezeichnet werden muß, erfaßt diejenigen, die gar nichts haben und nichts bezahlen können. Kostendeckend können die Spezialkliniken unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. „Im Nationalinstitut für Kinderheilkunde gehören 85 Prozent der PatientInnen den Kategorien eins und zwei an“, erklärt Dr. Wolpert, Generaldirektor der Nationalinstitute, „dort bezahlen die Eltern der PatientInnen praktisch nichts oder nur einen symbolischen Beitrag.“

Der Stolz der Sozialversicherung

Vergleichbar ist die Situation in den Krankenhäusern der Sozialversicherung, auch wenn es von offizieller Seite nicht so gerne zugegeben wird. Im Vorzeigekrankenhaus des IMSS, der „Klinik 21. Jahrhundert“ im Zentrum der 20-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt, ist davon auch kaum etwas zu spüren. In der Spezialklinik für Herz-Kreislaufkrankheiten herrscht geschäftiges, professionelles Treiben. Auch in der Kinderkrebsabteilung steht die Therapie der in Europa und den USA in nichts nach.
Geduldig hängt der 14jährige Antonio an zwei Tröpfen. Seit Monaten kommt er jede Woche für mehrere Stunden ambulant in das Kinderkrankenhaus, um seine Chemotherapie gegen den weissen Blutkrebs zu erhalten. Seinen kahlen Kopf bedeckt eine Wollmütze, die schmale Nase ragt aus seinem blassen Gesicht hervor. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, den Krebs zu besiegen, ebenso wie die anderen Kinder um ihn herum. Und er hat gute Chancen, obwohl sein Vater gerade einmal das Doppelte eines Mindestlohnes, also gut 300 Mark im Monat, verdient und nicht eine einzige Chemotherapiesitzung aus eigener Tasche bezahlen könnte.
Die „Klinik 21. Jahrhundert“ in der Landeshauptstadt ist zu Recht der ganze Stolz der mexikanischen Sozialversicherung. Mühelos ließ sich eine Besuchs- und sogar Fotografiererlaubnis erhalten. Dem Wunsch nach einer Besichtigung auch der ärmlichen Poliklinik am Stadtrand wurde von der Öffentlichkeitsabteilung dagegen nicht entsprochen. Dr. Sáenz Garza, der Vorsitzende des parlamentarischen Gesundheitsausschusses von der oppositionellen Demokratischen Revolutionären Partei (PRD), erklärt: „Da sind die Arbeitsbedingungen wirklich erbärmlich, es fehlt an allem, zu wenig Verbandmaterial, kaum Medikamente, zu wenig ÄrztInnen und Schwestern, und die Leute müssen stundenlang warten.“ Seine Diagnose des mexikanischen Gesundheitssystems ist ernüchternd: „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat die Qualität der medizinischen Versorgung deutlich nachgelassen.“ Wesentlicher Faktor sei die abnehmende Kaufkraft der Löhne und damit auch des lange gleichgebliebenen Abgabenanteils an die Sozialversicherung von 12,5 Prozent. Die Reformansätze der seit siebzig Jahren regierenden PRI-Regierung, kritisiert er, hätten die Lage nicht verbessert. Seit dem 1. Juli 1997 ist in Mexiko ein neues Sozialversicherungsgesetz in Kraft. Der Beitragssatz wurde auf 13,9 Prozent heraufgesetzt. ArbeitnehmerInnen, die mehr als das dreifache und weniger als das 25fache des gesetzlich festgelegten Mindestlohnes von derzeit etwa 160 DM verdienen, bezahlen selber sechs Prozent, der Arbeitgeberanteil liegt bei acht Prozent. Für die große Mehrheit der ArbeiterInnen, die weniger als drei Mindestlöhne in der Lohntüte haben, übernimmt der Staat die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang. Die dahinter stehende Idee: Verbesserung der Beschäftigungslage durch Senkung der Lohnnebenkosten. Die Konsequenz: Verminderte Einnahmen der Sozialversicherung, die Mitgliedsbeiträge der Versicherten decken immer weniger medizinische Leistungen ab. Das könnte zur Zerschlagung des mexikanischen Sozialversicherungssystems führen, befürchtet die Sozialmedizinerin Asa Cristina Laurel.

Angriff auf das Solidarprinzip

Der Arzt und Gesundheitsökonom Dr. Julio Frenk, bis vor kurzem Leiter der unabhängigen „Stiftung Gesundheit“ in Mexiko und heute bei der WHO ( Weltgesundheitsorganisation) in Genf, ist dagegen der Auffassung, die mexikanische Sozialversicherung in ihrer bisherigen Form habe sich ohnehin überlebt und sei dringend überholungsbedürftig: „Die Unzufriedenheit drückt sich am meisten im Verhalten der Leute aus. Sie sind so unzufrieden mit dem Angebot der Sozialversicherung, daß sie bereit sind, noch einmal zu bezahlen, entweder indem sie sich eine Privatversicherungspolice kaufen oder aus eigener Tasche bezahlen.“
Ausgerechnet die ZapatistInnen aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas bestätigten vor zwei Jahren die neoliberal geprägte Einschätzung des Gesundheitsökonom. Die schwerkranke Comandante Ramona nutzte eine politisch motivierte Reise nach Mexiko-Stadt zu einer Behandlung in einer Spezialklinik. Die Indigena-Kämpferin leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung, zusätzlich hatte eine Tuberkuloseinfektion eine Niere zerstört, die entfernt werden mußte. Mehrere NRO’s in Chiapas forderten die Zapatistin auf, sich in dem zuständigen Nationalinstitut des Gesundheitsministeriums operieren zu lassen, um ein Zeichen für das öffentliche Gesundheitswesen zu setzen. Doch Comandante Ramona zog es vor, sich in einer Privatklinik behandeln zu lassen.
Die Angriffe auf das Solidarprinzip gehen indes weiter. Der Enkel von Max Frenk, einem der Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, will das Monopol der Gesetzlichen Krankenversicherung aufknacken. „Die Gesetzliche Krankenversicherung hält ihre Bevölkerung gefangen,“ kritisiert Julio Frenk, „denn die Versicherten müssen Beiträge bezahlen, unabhängig davon, ob sie die Gesundheitseinrichtungen überhaupt nutzen.“ Ressourcenvergeudendes Nebeneinander von Gesundheitsministerium, Gesetzlicher Krankenversicherung und privaten Anbietern und eine Ausgrenzung des informellen Sektors aus der öffentlichen Kranken- und Rentenversicherung stellten weitere Probleme dar.

Medizinische Oase?

Ohnehin werde in Mexiko und in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht das ursprüngliche Bismarcksche Modell fortgeführt, nachdem die gesetzliche Krankenversicherung den Löwenanteil der Gesundheitsversorgung finanziert. Vielmehr hätten die Sozialversicherungen aufgrund der dürftigen Infrastruktur an Krankenhäusern und ÄrztInnen ihre eigenen Kliniken aufgebaut. In der von der „Stiftung Gesundheit“ mit Weltbankmitteln durchgeführten Studie, an der sich die mexikanischen GesundheitsreformerInnen in wesentlichen Punkten orientieren, fordert Julio Frenk einen strukturierten Pluralismus und die Organisation des Gesundheitswesens nach Funktionen: Das zuständige Ministerium sollte sich auf regulatorische Aufgaben beschränken, die Gesetzliche Krankenversicherung die Finanzierung für alle BürgerInnen sichern und ansonsten die Leistungen durch eine Vielzahl privater beziehungsweise mehr oder weniger öffentlicher AnbieterInnen erweitert und verbessert werden. „Wir schlagen dazu die Förderung intermediärer Organisationen vor, die wir OASIS – Verwaltungsorganisationen Integraler Gesundheitsdienste – genannt haben“, erklärt Julio Frenk seine Vorstellung. „Diesen miteinander konkurrierenden OASIS können die Leute beitreten, sie erhalten Geld in Abhängigkeit von der Zahl der Mitglieder und dem individuellen Risiko. Diese OASIS organisieren Netze von Dienstleistern – ÄrztInnen, Krankenhäuser, Labors etc. – und schicken ihre Leute zu ihren Anbietern.“ In einem solchen System würde das Geld, das in die Gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt worden ist, einer Person folgen, wenn sie sich für eine OASIS entscheidet.

Was ist Basisversorgung

Asa Cristina Laurel wittert hinter diesem Ansatz einen entscheidenden Schritt zur Privatisierung im Gesundheitswesen und den Versuch, ein neues Gebiet der Kapitalakkumulation zu betreten: „Im mexikanischen Kontext mit einer mehrheitlich armen Bevölkerung geht es dabei nicht um eine vollständige Privatisierung, sondern nur um die Privatisierung der möglicherweise rentablen Aktivitäten.“ Eine selektive Privatisierung, so erklärt sie die Gesundheitsreform in ihrem Land, bedürfe der Umstrukturierung der gesellschaftlichen Institutionen. Das schlägt sich im Reformvorhaben von Gesundheitsminister Juan Ramón de la Fuente nieder. Neben der Dezentralisierung des Gesundheitswesens sieht der Gesetzentwurf erhebliche Rationierungen bei den medizinischen Leistungen vor. Um die Ausgaben zu begrenzen und dabei einen möglichst großen Bevölkerungsanteil zu versorgen, will die Regierung mit ihrem Reformprojekt „Gesundheit 1995-2000″ ein Basispaket von medizinischen Leistungen einführen, das allen MexikanerInnen kostenlos zur Verfügung stünde. Alle übrigen Therapien und Heilmittel müßten sie in Zukunft aus eigener Tasche oder mit Hilfe privater Zusatzversicherungen bezahlen. Da vorbeugende Maßnahmen eine wesentlich günstigere Kosten-Nutzen-Relation aufweisen als die Behandlung bestehender Krankheiten, wird besonderes Schwergewicht auf Prävention und Aufklärung gelegt.
Noch wird heftig um die Leistungskataloge der neu gestalteten Sozialversicherung gerungen. Welch groteske Vorschläge der auch aus der deutschen Diskussion bekannte Streit um Rationalisierungen und Rationierungen in der Gesundheitsversorgung bisweilen hervorbringen kann, berichtet der Sozialmediziner Juan Manuel Castro von der Autonomen Universität Mexiko UNAM. So wäre nach einem ersten 12-Punkte-Plan einem Unfallopfer zwar ein lebensbedrohlicher Milzriß kostenlos operiert worden, für einen gleichzeitig erlittenen Oberschenkelbruch hätte er aber selber aufkommen müssen, da diese Verletzung nicht in das Basispaket aufgenommen worden war. In Zeiten der weltweiten Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden die Widersprüche zwischen ärztlichem Ethos und ökonomischen Rahmenbedingungen eben immer krasser.

Weihnachten in der Hölle

Am 22. Dezember 1997 stürmten regierungstreue Paramilitärs das kleine Dorf Acteal im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, ermordeten auf grausame Weise 45 Frauen, Kinder und Männer. Die Opfer von Acteal gehörten alle der katholischen Gruppierung Sociedad civil Las Abejas an, die sich 1993 aus Protest gegen behördliche Willkür gegründet hatte. Die Organisation arbeitet zwar mit den autonomen Gemeinden der zapatistischen Basis zusammen, lehnt aber selbst
jede Form von Gewalt ab.
Der mexikanischen Journalistin Marta Durán, die kurz nach dem paramilitärischen Angriff in Acteal ankam, und dem italienischen Fotografen Massimo Boldrini gelang es, eine große Anzahl beeindruckender und bewegender Zeugenberichte zu sammeln. Ergänzt mit Fakten und Analysen amtlicher Verlautbarungen demaskiert das Buch die offizielle Version der “innergemeinschaftlichen Konflikte” und führt minutiös vor Augen, daß es sich bei dem Massaker um ein sorgfältig geplantes Manöver der Autoritäten im Rahmen der Aufstandsbekämpfung handelte. Widersprüche in der Argumentation offizieller Stellen werden aufgezeigt und eine Fülle von Belegen für die Komplizenschaft von PRI, Polizei und Militär dargelegt.
Marta Durán resümiert an einer Stelle: “Das Massaker von Acteal veränderte unsere Wahrnehmung von Schmerz. Nach dem 22.12.1997 wußten wir was wirklicher Horror ist. Wir sahen aber auch, daß dieser Horror die Würde der Indígenas nicht zerstören konnte.”

Bedauerliche Sparzwänge

Schade nur, daß das ewige Kosten-Dilemma linker Kleinverlage dazu führte, eine Papierqualität wählen zu müssen, unter der die Bilder des Fotografen Massimo Boldrini leiden.
Auch hätte es sicher dem besseren Verständnis der Lage gedient, eine genauere Analyse der Funktionsweise paramilitärischer Gruppierungen mit in das Buch zu nehmen. Die vorhandenen Erklärungsansätze, die den paramilitärischen Terror in Chiapas schlichtweg in eine Linie mit historischen Beispielen aus Zentralamerika stellen, scheint etwas zu kurz gegriffen. Hier hätte durchaus der Bogen zur aktuellen Mexiko-Politik der europäischen Staaten gespannt werden können: Schließlich wurde die mexikanische Regierung durch die “Externalisierung” des Terrors auf perverse Weise der plakativen Forderung von Regierungsorganen nach einem Ende der Menschenrechtsverletzungen gerecht. Somit steht der weltweite Aufschwung von Paramilitärs durchaus im Zusammenhang mit dem vordergründigen Menschenrechts- und Demokratiediskurs der selbsternannten Zivilisationswächter des westlichen Abendlandes.
Acteal: Chiapas – Weihnachten in der Hölle ist aber dennoch ein uneingeschränkt empfehlenswertes Zeitdokument, und es bleibt zu hoffen, daß dieser „Appell zur Solidarität, damit Mexiko und insbesondere seine indigene Bevölkerung am Ende dieses Jahrhunderts nicht in einer Katastrophe zugrunde gehen“, Wirkung zeigt.

Martha Duran / Masimo Boldrini / Carlos Facio: Acteal: Chiapas – Weihnachten in der Hölle. Übersetzung aus dem Spanischen von Theo Bruns u.a. Atlantik Verlag, Bremen 1999, 103 S.

KASTEN

Juristische Ergebnisse

Im Rahmen der Ermittlungsverfahren zu dem “Fall Acteal” wurden 103 Personen festgenommen. Bis zum 14. September 1999 wurden 55 Angeklagte zu 32–35 Jahren Haft verurteilt. Zu den Verurteilten gehört auch der Bürgermeister des Landkreises Chenalhó (Acteal), der zur Zeit des Massakers im Amt war.Die Angeklagten wurden des Totschlags, der schweren Körperverletzung und des illegalen Waffenbesitzes für schuldig befunden; fünfder Verurteilten hatten zuvor ein Geständnis abgelegt. Zehn Ex-Polizisten wurden wegen Beihilfe zu dem Massaker zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Ein Ex-Militär, der bei der Nationalen Sicherheit mit Spionageaufgaben in der Region beauftragt war, wurde zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 86 000 Pesos verurteilt, weil er die am Massaker Beteiligten militärisch ausgebildet hatte.
Zwei Minderjährige, die bei dem Massaker mitgewirkt hatten, befinden sich in einem Erziehungsheim.
90 Haftbefehle sind noch zu vollstrecken, davon elf gegen flüchtige Ex-Beamte der Regierung und Ex-Polizisten.
Quelle: La Jornada (19.7.99/14.9.99)

Ein Glück, daß es Marcos gibt

Angst macht den mexikanischen Menschen um die Zwanzig das grassierende wirtschaftliche Elend und die Gefahr, von der sogenannten „Ersten Welt“ überrannt zu werden. Der Neoliberalismus, verstanden als Inbegriff der maliziösen Verschwörung zwischen der nationalen politischen Elite und den „Transnationalen“, allen voran den gringos, wie die US-AmerikanerInnen abwertend bezeichnet werden, ist deshalb stabiles Feindbild Nummer eins.
Tatsächlich sind 70 Prozent aller MexikanerInnen arm, alarmierte kürzlich das Wochenmagazin Proceso. Und auch die Jugendarbeitslosigkeit ist offiziell dreimal so hoch wie die – durch Privatisierung und ungenügende Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahren angestiegene – allgemeine Arbeitslosigkeit.
Die mexikanische Jugend bezeichnet sich selbst als „Katastrophen-Generation“ (generación del desastre), als „Generation X“ oder „Güey-Generation“, in Anspielung auf im Slang wann immer möglich benutzte „güey“, was übersetzt soviel heißt wie „ey“ oder „echt ey“. Wenn die Jugendlichen der 80er Jahre noch „Söhne und Töchter der Krise waren, so stehen wir heute vor einer ,Katastrophengeneration’“, schrieb die alternative Jugendzeitschrift La Guillotina in einer ihrer letzten Ausgaben.

„Generation X“ auf Mexikanisch

„Wir sind Jugendliche, für die die Begriffe Sicherheit, Stabilität und Zukunftsvertrauen nicht existieren“, meinen sie und erklären weiter, daß im Gegensatz zu vorherigen Generationen, die noch Utopien hatten und an revolutionäre, sozialistische oder kommunistische Bewegungen glaubten, für die Idole wie Che Guevara stehen, die Jugend der 90er Jahre Produkt der Diskreditierung eben jener Utopien ihrer Elterngeneration sei.
Doch auch wenn das Mißtrauen und die Verbitterung gegenüber dem staatsautoritären, neoliberalen System des Mexiko der 90er Jahre bei den städtischen Mittzwanzigern übereinstimmend den Ton angibt – mögen sie sich als Punks, Feministinnen, politische oder apolitische StudentInnen bezeichnen –, so verharren sie dennoch keineswegs im „No-Future-Diskurs“. Vielmehr haben sie sich aktiv auf die Suche nach einer eigenen Identität gemacht, kämpfen verzweifelt um Veränderungen und haben eben doch zumindest ein großes Idol: Marcos und die zapatistischen RebellInnen.
Auch jüngst beim Streik an der nationalen Universität UNAM haben mexikanische StudentInnen dem System den Kampf angesagt. Dabei wurde die zapatistische Losung des „(umgedr. !)Ya basta!“, „Es reicht!“ aufgegriffen. Ihren politischen Aktivismus bezeichnen die HochschülerInnen als „neue politische Kultur“, in Abgrenzung zu den „Worthülsen der demokratischen Erneuerung“ ihrer Elterngeneration. Sie finden in den zapatistischen Idealen der basisdemokratischen Selbstbestimmung, des paradox anmutenden „mandar obedeciendo“ (gehorchend befehlen), ein Identifikationsangebot.
Auch wenn sie darauf bestehen, eigentlich keine Vorbilder oder Leitfiguren zu haben – der 25jährige Vladimir von der Ska-Salsa-Band Los de Abajo insistiert beispielsweise: „Wir sind eine Generation ohne leader“ –, so schließen sich die meisten politisch Bewußten ideologisch doch den zapatistischen Rebellen an. „Unsere Verbrüderung mit der zapatistischen Bewegung basiert vor allem auf dem Bewusstsein, keinen Platz in dem Gesellschaftsprojekt der neoliberalen Reformen zu haben“, schreibt La Guillotina. Und auch Los de Abajo-Gitarrist Vladimir meint: „Marcos ist für uns Symbol des Kampfes und der Hoffnung“.
Tatsächlich markiert der zapatistische Aufstand im Januar 1994 eine neue „Epoche“ der mexikanischen Gesellschaft, insbesondere für die Jugend. Diese ist spätestens im Februar 1995, als das mexikanische Militär eine blutige Offensive gegen die zapatistischen Rebellen startete, aus einer vermeintlichen apolitischen Apathie erwacht. Sie haben angefangen, auf die Straßen zu gehen, um gegen den Krieg im eigenen Land zu demonstrieren, sind als zivile BeobachterInnen selbst nach Chiapas gefahren oder unterstützten die Zapatistas durch Lebensmittelsammlungen. Auch bei der von den Zapatistas durchgeführten Volksbefragung über die indigenen Rechte vor einigen Monaten in ganz Mexiko stellte die Jugend die Mehrheit der TeilnehmerInnen, so Vladimir.
Musikbands wie Los de Abajo oder Santa Sabina haben sich politisch als Gruppe unter dem Namen La bola zusammengeschlossen, um musikalisch Gelder für die Zapatistas in Chiapas zu erspielen. Oder Margarita Punk – wie der Name bereits sagt, Aktivistin der hauptstädtischen Punkbewegung – hat mit Straßentheater gegen die Offensive vom Februar 1995 protestiert.

Mit den Zapatistas gegen das Große und Ganze

Sie alle haben dem System pauschal den Kampf angesagt: der etablierten Politik, gekennzeichnet durch Staatsautoritarismus, Klientelismus und Korruption, den linken, demokratische Veränderungen versprechenden Oppositionsparteien, die als ebenso „bürokratisch und korrupt“ bezeichnet werden, den unabhängigen Bürgerinitiativen, die als Relikte der politisierten Elterngeneration nicht ernst genommen werden, und vor allem dem Neoliberalismus.
„Wir haben die Nase gestrichen voll von all den Lügen um uns herum, der Linken, der Rechten, der PRI, egal von wem“, so Vladimir. Nach seiner Meinung zeichnet sich die mexikanische Jugendgeneration, trotz der übereinstimmenden Verbitterung, deutlich durch eine Polarisierung aus: Die Mehrheit, und das schichtenübergreifend von der städtischen Unter- bis zur Oberschicht, lebe völlig desillusioniert und apolitisch in den Tag hinein. Je nach Schicht „dröhnen sie sich mit Alkohol voll, bekiffen oder bekoksen sich, sehen telenovelas oder Fußball im Fernsehen“. Der einzige Traum, den beispielsweise die völlig verarmte Landbevölkerung hat, sei, paradoxerweise in Allianz mit der Oberschicht, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Während jedoch die einen als illegale ImmigrantInnen dort für Hungerlöhne nicht nur ums Überleben, sondern auch gegen Rassismus ankämpfen müssen, machen die anderen ihr Postgraduierten-Studium, erzählt Vladimir. „Selbst ich, der ich aus der gebildeten, linken Mittelschicht kommt, würde am liebsten auswandern, um mehr Chancen zu haben, mich kulturell und intellektuell weiterzuentwickeln, denn das bietet mir Mexiko nicht. Es macht sich so eine Art resignierter Individualismus breit, nach dem Motto: ,Ich kann’s ja doch nicht ändern’“.
Doch dann gibt es eben auch die Minderheit der Politisierten, zumeist StudentInnen, oder auch der städtischen Unterschicht, die sich in radikaleren Linksbewegungen, den movimientos urbano-populares oder der Punkbewegung zusammenschließen. Margarita Punk, 25jährig mit Kind, erzählt von Häuserbesetzungen, deren Ziel es unter anderem sei, nicht nur selbst im autonomen Kollektiv zu wohnen, sondern auch den Straßenkindern und -jugendlichen zu einer selbstverwalteten Bleibe zu verhelfen.

Punk gegen die Hoffnungslosigkeit

„Überhaupt ist die mexikanische Punkbewegung unheimlich konstruktiv, mit Theater, Musik oder Graffities, denn unsere beste Waffe gegen das System ist die Kreativität“, meint Margarita Punk überzeugt, die wiederum wird von den Punks der Drei-Millionen-Trabantenstadt Nezahualcóyotl im Osten der Hauptstadt als „fresa“ bezeichnet, was wörtlich „Erdbeere“ heißt, aber etwa „spießig“ meint.
Und dann gibt es natürlich auch die Politisierung nach rechts, sagt Vladimir. Für diese Tendenz steht die Jugend der oberen Mittelschicht, die zumeist an privaten Universitäten studiert. „Allerdings heißt hier ,rechts’ nicht etwa wie in Europa ,Faschos’ oder gar ,Skins’ – die gibt es so gut wie nicht in Mexiko –, sondern konservativ und überzeugt neoliberal. Diese Leute sind beispielsweise gegen Abtreibung und für die totale Privatisierung“, erklärt er.
Für die Jugendgeneration der wohlhabenden Oberschicht sehen Alltag und Lebenswirklichkeit freilich anders aus. Sie orientieren sich hauptsächlich am US-amerikanischen Way of Life. Sie imitieren in Outfit und Lebensstil den Wohlstand der „ersten Welt“, meiden U-Bahn und Busse, fahren vorzugsweise Golf oder Jetta, hören die kommerzielle Pop-Salsa-Band Timbiliche und essen bei US-amerikanischen Fast-Food-Ketten.
Außer den USA für die einen und der zapatistischen Bewegung für die anderen finden sich jedoch, nach übereinstimmender Meinung von Valdimir, Margarita oder auch der 24jährigen Feministin Natalia kaum Kult- oder Leitfiguren. Natalia, alleinerziehende Mutter eines sechs- und eines dreijährigen Sohnes, bezeichnet sich selbst als militante Feministin, aber Vorbilder? – Nein, die findet sie bestimmt nicht in der „älteren Feministinnengeneration“, die doch alle „etabliert in ihrem Elfenbeinturm sitzen und gar nicht wissen, was es heißt, sich als alleinerziehende junge Mutter mit einem Monatseinkommen von 2000 Pesos (umgerechnet rund 400 Mark) in einer machistischen, autoritären Gesellschaft durchschlagen zu müssen“, erhitzt sie sich.
Und dennoch kämpfen alle drei VertreterInnen der Jugendgeneration auf ihre Weise um eine Neudefinition von gesellschaftlichem Zusammenleben und sehen mit Bangen ins nächste Jahrtausend, in das Mexiko mit dem Wahlkampf um die nächsten sechs Jahre Präsidentschaft einsteigt. Denn auch wenn ihnen mehrheitlich selbst die Oppositionsparteien suspekt und gleichermaßen bürokratisch und korrupt erscheinen, so steigt doch ihre Angst vor einem möglichen Wahlausgang mit der Staatspartei PRI als Gewinner. Denn wie es damit weitergehen soll, kann sich keiner der „Katastrophen-Generation“ vorstellen.

Für eine Handvoll Pesos

Barrikaden versperren den Weg auf den Campus, an der Wand der Medizinischen Fakultät prangt zwischen unzähligen Transparenten eine rot-schwarze Fahne. „Huelga y Dignidad“, „Streik und Würde“ ist die Botschaft, die seit über vier Monaten von den besetzten Instituten der UNAM ausgeht. Die Studierenden der größten Universität Lateinamerikas befinden sich im Ausstand. Ausgelöst wurde der Streik durch den Beschluß des Universitätsrates, dem höchsten Entscheidungsgremium der Universität, die Studiengebühren von symbolischen 2 Cents auf etwa 50 bis 70 US-Dollar pro Semester zu erhöhen. Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Demonstrationen, sei es von Befürwortern oder Gegnern des Streiks.
Anfänglich glaubte der Rektor Francisco Barnés, der der seit 70 Jahren regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) angehört und enge Kontakt zur Zentralregierung hat, den Streik schnell in den Griff zu bekommen. Die Lehrveranstaltungen wurden wie bereits früher in solchen Fällen kurzerhand ausgelagert. Allerdings weigerte sich die von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) geführte Stadtregierung, der Universitätsleitung öffentliche Gebäude zur Verfügung zu stellen, so daß sie private Einrichtungen anmieten mußte. Die Strategie, den Streik versanden zu lassen, scheiterte an der mangelnden Resonanz bei den Studierenden.

Diffamierungskampagne gegen die StudentInnen

Statt auf die Gesprächsangebote des Allgemeinen Streikrates, der höchsten Vertretung der Streikbewegung, einzugehen, setzte Rektor Barnés auf eine Diffamierungskampgne in den Massenmedien. In den ersten zwei Monaten gab die Universität allein für Anzeigen in der Presse über 1 Million US-Dollar aus. Während Barnés die Streikbewegung in der Öffentlichkeit als Grüppchen krimineller „Pseudostudenten“ darstellte, wurde gegen einzelne Mitglieder des Streikrats gezielt repressiv vorgegangen. Menschenrechtler haben zahlreiche Fälle von Entführungen und Mißhandlungen dokumentiert. Außerdem wurde bekannt, daß die Universitätsleitung auf dem Campus ein Netz von Kameras hatte installieren lassen, um die Mitglieder der Streikbewegung zu erfassen. Entgegen der Absicht der Universitätsleitung brachten diese Maßnahmen kein Ende des Streiks, sondern eine Radikalisierung der Studentenbewegung. Unter diesen Bedingungen ergriff Rektor Barnés die Flucht nach vorn und bewirkte am 7. Juni einen Rückzieher des Universitätsrats. Die Studiengebühren sollten von nun an auf „freiwilliger Basis“ erhoben werden. Zahlen sollten nur noch diejenigen, die es sich leisten konnten und bereit dazu waren.

Streikrat beharrt auf Forderungen

Der Streikrat gab sich mit diesem Zugeständnis nicht zufrieden sondern pochte auf die Erfüllung aller sechs Forderungen der Studierenden. Die Studiengebühren sollen ganz abgeschafft, die 1997 eingeführte Höchststudiendauer und die Zugangsbeschränkungen rückgängig gemacht werden und die Zusammenarbeit der staatlichen Universität mit einem privaten Evaluierungszentrum beendet werden. Bisher nimmt das Nationale Evaluierungszentrum (CENEAL) die Abschlußexamina ab und befindet über die Qualität der AbsolventInnen. Weiter fordert der Streikrat, alle Sanktionen gegen streikende Studierende und Unimitarbeiter zurückzunehmen und die wegen des Streiks ausgefallenen Veranstaltungen nachzuholen. Außerdem will man die Einberufung eines Universitätskongresses durchsetzen, der Demokratiedefizite und die schlechte Lehrmittelausstattung der Hochschulen diskutieren und über Änderungen entscheiden soll.
Durch die Vermittlung des parlamentarischen Wissenschaftsausschusses kam es im Juli zu vier Gesprächsrunden zwischen Repräsentanten des Rektorats und dem Streikrat. Die Verhandlungen blieben ergebnislos, weil sich die Streitparteien nicht auf eine gemeinsame Diskussionsgrundlage einigen konnten. Während der Streikrat darauf bestand, alle sechs Punkte zu diskutieren, weigerten sich die Vertreter der Universitätsleitung, die Reformen von 1997 und das Verhältnis zum Evaluierungszentrum auf die Tagesordnung zu setzen. Studierende und Rektorat warfen sich gegenseitig vor, durch ihr unnachgiebiges Verhalten das Scheitern der Verhandlungen verursacht zu haben.
Angesichts des Stillstands in den Verhandlungen und angeheizt durch Äußerungen von Hardlinern in der Regierungspartei wurden Erinnerungen an die Ereignisse von Tlatelolco 1968 wach. Damals hatte die Armee ein Massaker unter demonstrierenden StudentInnen angerichtet, dem nach Schätzungen bis zu 500 Menschen zum Opfer fielen. Die Haltung von Präsident Zedillo zu einem möglichen Einsatz der Armee in dem Konflikt ist nicht eindeutig. Er hat in zahlreichen Stellungnahmen betont, den Einsatz „roher Gewalt“ abzulehnen. Das mexikanische Volk wolle keine „repressive, willkürliche, autoritäre Regierung“, gab er einsichtig zu Protokoll. Andererseits drohte Zedillo den streikenden StudentInnen an, „andere legitime Mittel“ einzusetzen, falls sie sich einer Verhandlungslösung weiter widersetzten.

Streik bekommt nationale Bedeutung

Vor dem Hintergrund der im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen bekommt der Streik nationale Bedeutung. Die regierende PRI beschuldigt Cuauhtémoc Cárdenas, Bürgermeister von Mexiko-Stadt und Präsidentschaftskandidat der oppositionellen PRD, die graue Eminenz hinter der Streikbewegung zu sein und das gewaltsame Eingreifen der Regierung provozieren zu wollen. Cárdenas weist diese Vorwürfe zurück und wirft der PRI seinerseits vor, aus dem Konflikt politisches Kapital zu schlagen.
Im Lager der 267.000 Studierenden stehen sich Befürworter und Gegner des Streiks gegenüber. Die Gegner geben sich mit der Rücknahme der Gebührenerhöhung zufrieden und haben mehrfach gemeinsam mit dem Rektorat und der Mehrzahl der HochschullehrerInnen für ein Ende des Streiks demonstriert. Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern innerhalb des studentischen Lagers wurden auch gewaltsam ausgetragen. Bei einer Schlägerei auf dem Universitätsgelände gab es Ende August 7 Verletzte. Im Internet riefen anonyme Streikgegner die „wahren Studenten“ dazu auf, sich mit Schlagstöcken zu bewaffnen und die Barrikaden zu stürmen.
Ein Vermittlungsvorstoß acht emeritierter Professoren der UNAM vom 28. Juli hat wieder etwas Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen gebracht. Er sieht vor, zwei der sechs Forderungen der Streikenden – Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum und Abschaffung von Höchststudiendauer und Zugangsbeschränkungen – erst nach Ende des Streiks in „öffentlichen Diskussionsräumen“ zu debattieren. Die dort getroffenen Entscheidungen sollen vom Universitätsrat „vorrangig“ behandelt werden. Die Emeriti verpflichten sich, eine Kommission zusammenzustellen, die über die Einhaltung der Zusagen durch die Universitätsleitung wacht.
Der Universitätsrat hat den Vorschlag bereits als Diskussionsgrundlage akzeptiert. Die Haltung des Streikrates ist verworren. Dort ringen drei Strömungen um die Dominanz innerhalb der Bewegung. Die sogenannten „Moderaten“ sind in der „Demokratische Studentenkoalition“ organisiert und stehen der links-gemäßigten PRD nahe. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die sogenannten „Ultras“, die viele Mitglieder linker Splittergruppen in ihren Reihen haben und der Hochschulgruppe „Universitärer Linksblock“ angehören. Zwischen Moderaten und Ultras ist das „Metropolitane Studentenkomitee“ angesiedelt. Die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Ultras und Moderaten drehen sich um den Vermittlungsvorschlag der acht emeritierten Professoren. Die Moderaten sprechen sich dafür aus, diesen als Grundlage für Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts zu machen. Die Ultras beharren dagegen auf der Erfüllung aller Forderungen als Bedingung für ein Ende des Streiks. Die Auseinandersetzungen der rivalisierenden Lager macht den Streikrat unberechenbar. So hob der Streikrat auf betreiben der Ultras am 1. September den wenige Stunden zuvor gefaßten Beschluß, den Vorschlag der Emiriti zu akzeptieren, wieder auf.
In den letzten Tagen haben sich Streikrat und Rektorat wieder etwas aufeinander zubewegt. Einig ist man sich, daß die Abschaffung der Reformen von 97 und die Beziehung zum Evaluierungszentrum auf einem späteren Kongreß debattiert werden sollen. Strittig bleiben der Status dieses Kongresses und die völlige Abschaffung der Studiengebühren. Der Vorschlag der Emeriti sieht eine Suspendierung der Studiengebühren bis zu einer Einigung auf dem späteren Kongreß vor, der aber nach der Univerfassung keine verbindlichen Entscheidungen treffen kann. Das Rektorat ist gefordert, die Gebühren zu suspendieren und die „repressiven Elemente“ vom Universitätsgelände abzuziehen. Außerdem muß es gewährleisten, daß die Streikenden ohne Schikanen die versäumten Veranstaltungen nachholen können. Die Streikbewegung müßte nach dem Vorschlag von der Forderung nach einem Kongreß mit Entscheidungsbefugnissen abrücken. Damit würde die Debatte von drei ihrer sechs Forderungen auf ein Gremium vertagt, dessen Beschlüsse völlig unverbindlich sein werden. Ob sich die Studierenden darauf einlassen werden, ist ungewiß.

KASTEN:
„Wir machen die Uni heute dicht, damit sie für alle geöffnet bleibt.“
Eine Aktivistin berichtet über Alltag und Ziele der Streikbewegung

Ein Teil der täglichen Arbeit der Streikenden besteht darin, auf Straßen und Märkten, in Schulen und Metrostationen über die Ziele und Motive des Streiks zu informieren. Dabei wird auch gleich um Spenden gebeten. Die Presseabteilungen, durchforstet Zeitungen und Zeitschriften auf Nachrichten. Unermüdlich produzieren die StudentInnen Plakate und stellen Mauerzeitungen zusammen, verfassen Flugblätter und Kommuniqués und verteilen sie an alle sozialen Gruppen. Auch die Großdemonstrationen müssen vorbereitet werden. Transparente werden gemalt, Symbole entworfen und Pappfiguren gebastelt, die die Autoritäten darstellen. Alle bringen sich ihren Fähigkeiten entsprechend ein: Filmstudenten produzieren Videos, Musiker bieten Konzerte an, Bildende Künstler haben geistreiche Phantasiewesen und Transparente entworfen, die den Demonstrationen Farbe geben und soziale Übel wie den Neoliberalismus, den Autoritarismus und die Privatisierung allegorisch darstellen.
Die StudentInnen haben die Cafeterias zu Küchen umfunktioniert, um die Mahlzeiten für die Streikenden und die Sympathisanten der Bewegung zuzubereiten, seien es Journalisten, Eltern, ProfessorInnen oder Ex-StudentInnen. Im Unterschied zu früheren Streiks kochen diesmal auch die Männer. An den ersten Tagen stand Reis mit Bohnen auf der Speisekarte. Also wurden unzählige Kilos Reis gesammelt. Einige Fachbereiche führten sogar den Tauschhandel wieder ein und deckten sich im Gegenzug für Reis mit Gemüse, Früchten und Konserven ein. Unterstützung in Form von Lebensmitteln kam auch von den Wochenmärkten in den ärmeren Vierteln.
Hörsäle und Flure Grünflächen dienen den Streikenden seit vier Monaten als Schlafplätze. Auf den zahlreichen Grünflächen des Campus stehen etliche Zelte, die ebenfalls als Übernachtungsmöglichkeit dienen. Geschlafen wird streng getrennt, mal nach politischer Richtung, je nachdem ob „Ultra“ oder „Moderado“, mal nach Geschlecht. Aber es gibt auch konventionelle Schlafsäle, wo Frauen, Männer und Gäste gemeinsam übernachten, unabhängig von politischen Fragen.

Von Solidarität und Widerstand

Der Großteil der StudentInnen unterstützt den Streik, weil das Studium an der UNAM für viele die letzte Zuflucht vor dem kalten Zugriff des Neoliberalismus bietet. Aber die StudentInnen fühlen sich nicht isoliert. Das Unrecht der Regierung hat die verschiedensten Sektoren der Gesellschaft bewogen, sich dem Kampf der Studentenbewegung anzuschließen. Gewerkschaften wie die der Stromindustrie, die vor der Privatisierung steht, oder die der ArbeiterInnen der Universität, die Zapatistische Front der nationalen Befreiung, eine Elternversammlung, Arbeitslose, Umweltschützer und verschiedene unabhängige Organisationen nehmen an den Demonstrationen teil – die bislang größte zählte 90.000 Teilnehmer – und unterstützen die Bewegung auf verschiedene Weise.
Die Universitätsleitung schreckt auch vor gezielter Repression nicht zurück, um den Streik zu beenden. Bis heute sind acht Studenten verschiedener Fachbereiche durch Einheiten der Polizei, einige wurden als Angehörige der Bundespolizei identifiziert, entführt und physisch und psychisch mißhandelt worden. Der Rektor veranlaßte, daß gegen die Führer der Bewegung Haftbefehl wegen Verletzung der Autonomie der Universität und unbefugter Inbesitznahme der Einrichtungen erlassen wurde.
Die Bewegung läßt sich davon nicht einschüchtern. Der Streik geht weiter, aber weder die Universität noch die StudentInnen, ihre Eltern und viele DozentInnen sind die selben. Die Bewegung beweist, daß die Universität nicht weiter arbeiten kann wie bisher.
Amaranta Morales

Scheinangebote

Während die mexikanische Bundesarmee in Chiapas aggressiv gegen die zivile Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) vorgeht, unterbreitete die Regierung nun wieder ein „Dialogangebot“ und möchte Verhandlungen mit der südmexikanischen Guerilla aufnehmen. Das ist zumindest einer Initiative des Präsidenten Ernesto Zedillo zu entnehmen, die am 7. September der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Die Regierung fordert die ZapatistInnen darin auf, wieder am Verhandlungstisch Platz zu nehmen, um über ein Gesetzespaket zur sozialen und politischen Besserstellung der zehn Millionen Angehörigen indianischer Gruppen zu beraten. Der offizielle Gesprächsfaden zwischen den Parteien ist seit September 1996 abgerissen. Damals verließ die EZLN die Verhandlungen, weil sich die Regierung weigerte, ein bereits im Februar 1996 beschlossenes Abkommen über „Indianische Rechte und Kultur“ in die Praxis umzusetzen. Seitdem sind die Fronten verhärtet. Die Zapatistas erklärten, sie würden einen Dialog erst wieder aufnehmen, wenn das Abkommen umgesetzt wäre. Präsident Zedillo von der seit 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) legte dagegen ein neues Gesetzespaket vor, das im Parlament allerdings nie beschlossen wurde. Es fiel weit hinter die ursprünglichen Zugeständnisse an die Zapatistas zurück und wurde von diesen daher abgelehnt.
Während der neue Regierungsvorstoß den Wiederaufbau einer Vermittlungskommission vorsieht, findet sich im Text kein Hinweis auf eine Veränderung der Militärstrategie. Diese bestand seit dem Ausbruch des indianischen Aufstandes zum Jahresbeginn 1994 darin, den Bundesstaat schrittweise unter Kontrolle zu bringen. Zahlreiche Stützpunkte der Armee wurden aufgebaut, um den Bewegungsspielraum der Zapatistas einzuengen. Gleichzeitig bauten Regierungsfunktionäre und Militärs paramilitärische Gruppen auf, die teilweise brutal gegen die zivile Basis der Zapatistas vorgingen.

„Zugeständnisse“ im Wahlkampf

Innenminister Diódoro Carrasco Altamirano erklärte, es sei „unabdingbar, den Dialog wieder aufzunehmen, um Szenarien der Gewalt zu verhindern.“ Die ersten Reaktionen auf den Regierungsvorschlag waren allerdings zurückhaltend. Die Zapatistas selbst haben noch nicht antworteten. Der PRD-Abgeordnete Gilberto López y Rivas erklärte: „Ich sehe den Vorschlag als Nebelwerferei, um den Konflikt zu verschleiern und Wahlkampf zu betreiben.“ Das Angebot setze sich „einfach darüber hinweg, daß die tägliche Botschaft an die Zapatistas die Militarisierung und die Kriegführung niedriger Intensität“ sei. Er glaube nicht, daß die EZLN das Angebot akzeptiere.
Tatsächlich scheint dies unwahrscheinlich. Als Vorbedingungen für einen neuen Dialog fordert die EZLN neben der Umsetzung der „Vereinbarungen über indianische Rechte und Kultur“ den Rückzug der mehreren zehntausend Militärs aus Chiapas und die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen. Doch genau damit ist nicht zu rechnen. Erst in den letzten Wochen kam es in den Ortschaften Amador Hernández, San José la Esperanza und Morelia zu Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und zivilen Basismitgliedern der EZLN, bei denen zahlreiche Zapatistas verletzt oder inhaftiert wurden. Das Militär setzte Tränengas und scharfe Munition ein. Hintergrund der Zusammenstöße war der Protest der Zapatistas gegen ein Straßenbauvorhaben der Armee, das offensichtlich militärischen Zwecken dienen sollte. Mittlerweile wurde der Bau der Landstraße gestoppt, allerdings nur vorübergehend.

„Die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen“

Wie kam es zur Autonomie-Erklärung der indigenen Bevölkerung von „Rancho Nuevo de Democracia“?

1995 besetzten einige Genossen den Gemeindesitz Tlacuache (Rancho Viejo) im Bundesstaat Guerrero. Sie forderten von der Regierung den Bau von Straßen, Gesundheitsposten, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Besetzung dauerte sieben Monate blieb aber erfolglos. Aus diesem Grund riefen die Genossen am 16. Dezember 1995 die „Unabhängigkeit einer autonomen, indigenen Gemeinde“ aus. Das Gebiet umfaßt 30 Dörfer und heißt heute „Rancho Nuevo de Democracia“. „Rancho“ nennen wir den Ort, weil es ein Gutshof ist; „Nuevo“, weil sich dort etwas Neues entwickeln soll, und „Democracia“, weil wir wollen, daß es eine demokratische Gemeinde ohne Kaziken (lokale Machthaber/Grundbesitzer) wird.

Wie ergeht es einer Frau, die Präsidentin einer autonomen Gemeinde ist?

Am Anfang glaubte ich nicht, daß sie mich wählen würden. Erstens, weil ich eine Frau bin und zweitens, weil es viele andere ältere Genossen mit mehr Erfahrung gibt. Ich bin erst 22 Jahre alt. Um die fehlende Erfahrung auszugleichen, ernannte ich einen Ältestenrat, bestehend aus Frauen und Männern. Probleme habe ich vor allem mit einigen meiner Genossen, weil es ihnen eigenartig vorkommt, daß eine Frau – noch dazu eine junge unverheiratete Frau ohne Kinder – daherkommt, die Dinge entscheidet und Versammlungen anführt. Ich antwortete ihnen, daß ich kam, um den Vorsitz der Gemeinde zu führen, weil sie offensichtlich dazu nicht fähig sind – ansonsten hätten sie ja wieder einen Mann zum Präsidenten gewählt. Es sind übrigens hauptsächlich Männer, die mich kritisieren. Die meisten Frauen hingegen unterstützen mich sehr. Im Grunde bin ich sehr zufrieden mit der Entwicklung der autonomen Gemeinde.

Was bedeutet Autonomie? Wie siehst du das Verhältnis zwischen indianischer Autonomie und der Autonomie von Frauen?

Die Autonomie, wie wir Indigenas sie uns vorstellen, existiert eigentlich nicht. Die mexikanische Regierung sagt: „Die Indigenas sind Separatisten, sie wollen sich vom mexikanischen Staat absondern.“ Aber das ist nicht unser Verständnis von Autonomie. In unseren Vorstellungen von Autonomie wollen wir die Macht zu eigenen Entscheidungen haben, unsere Autoritäten selbst und demokratisch ernennen, über unsere Naturvorkommen bestimmen und selbst entscheiden, wir wir arbeiten und uns politisch organisieren. Wir streben keinen unabhängigen Staat an.
Innerhalb der indigenen Gemeinschaften kommt es oft vor, daß indigenen Genossen, die einflußreiche Posten innehaben, beginnen, die indigenen Frauen noch stärker zu marginalisieren. Sie sagen: „Wenn du Frau bist, dann wasche meine Kleider und bringe mir das Wasser, weil das die indigenen Bräuche vorsehen.“ Die Männer wollen Autonomie, aber sie verstehen nicht, daß dazu auch die Autonomie der Frauen gehört. Es ist ein Kampf, den wir auch gegen die eigenen Genossen führen müssen, damit wir unseren Weg gemeinsam gehen können. Beim Kampf der Frauen geht es nicht um Gleichberechtigung, sondern um Gleichheit.

Wie nutzt du dein Präsidentinnenamt zur Umsetzung solcher Vorstellungen?

Alle wichtigen Entscheidungen werden über Abstimmungen in Vollversammlungen getroffen. Wir bereiten die Leute auf die Abstimmungen vor. Da viele nicht schreiben und lesen können, ersetzen wir die Texte für die Abstimmung durch Symbole, die wir vorher erklären. Früher haben die Frauen nicht an den Versammlungen teilgenommen. Als ich das Amt als Präsidentin von Rancho Nuevo übernahm, war die Einbindung von indigenen Frauen noch sehr schwierig. Doch dann begannen sie, sich zu organisieren. Zunächst einigten sie sich darauf, gemeinsam ein Kunsthandwerk-Projekt zu betreiben, das von einer Nichtregierungsorganisation unterstützt wird. So begannen die Frauen, zusammen zu arbeiten und sich auch darüber hinaus zu organisieren. Die Partizipation der Frauen ist außerdem häufig durch die eigenen Männer behindert, die der Auffassung sind, daß nur Männer Entscheidungen treffen können. Aber seit die Gemeinde autonom ist, sind die Mehrheit der Anwesenden in den Versammlungen Frauen.

Haben Frauen in der autonomen Gemeinde auch ökonomische Gleichheit?

In dieser Hinsicht ist noch nicht soviel erreicht worden. Für den Zugang zu Land sind ausschließlich die Ehemänner zuständig. Witwen übernehmen den Landbesitz des verstorbenen Ehemannes, aber für alleinstehende Mütter ist die Situation nach wie vor prekär. Land für Frauen zu fordern ist schwierig, da es ein Kampf gegen die indigenen Traditionen und Bräuche ist. Doch ebenso wie die moderne Technologie, werden sich auch die Bräuche der Indigenas weiter entwickeln.

Welche Auswirkungen hat euer Beispiel auf andere Gemeinden in der Region?

Die Erfahrungen unserer autonome Gemeinde haben einen Vorbildcharakter für die Umgebung. Außerdem hat die Idee der Autonomie an Bedeutung gewonnen, als die Zapatisten zu Jahresbeginn nach Guerrero kamen, um die Volksbefragung (Consulta) durchzuführen. Die Idee der Autonomie ist für viele Menschen etwas Konkretes, zum Anfassen geworden. Vertreter aus anderen Dörfern sind zu uns gekommen, um sich wegen ihrer eigenen Autonomie- Erklärung beraten zu lassen. Insgesamt bereiten etwa 18 weitere Gemeinden in Guerrero ihre Autonomie vor. Dies ist ein Prozeß, der inzwischen als reale Alternative zu den herrschenden Verhältnissen in Guerrero gesehen wird.

Wie ist die politische Situation nach der jüngsten Wahl?

Es gibt viele Hindernisse bei der Umsetzung unserer Autonomie. Zum Beispiel lehnen wir staatliche finanzielle Unterstützung ab. Wir finanzieren uns über eigene Arbeit und Kooperation mit anderen Gemeinden, haben aber mit gravierenden ökonomischen Problemen zu kämpfen. Da wir die einzige autonome Gemeinde in Guerrero sind, ist die staatliche Repression und Militarisierung in unserer Gegend besonders stark. Das Militär hat einen Stützpunkt am Eingang von Rancho Nuevo errichtet. Wir können uns nicht frei bewegen, sondern werden regelmäßig vom Militär kontrolliert und schikaniert, wenn wir den Ort verlassen oder betreten wollen.
Die neue Regierung stellt die Regierungspartei PRI, doch ihr Kandidat Rene Juarez Cisneros konnte nur durch einen offensichtlichen Wahlbetrug gewinnen. Da die derzeitigen Machthaber in Guerrero nicht rechtmäßig gewählt wurden, müssen sie vom Militär begleitet und geschützt werden. Inzwischen hat die Unterdrückung Andersdenkender zugenommen, sogar Militärhilfe aus anderen Bundesstaaten wurde angefordert, um den Amtsantritt zu schützen. Eigentlich gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Militär, Regierung oder Kaziken.

Wie denkst du über die Guerilla EPR?

Einige unserer Genossen sind im Gefängnis, sie werden beschuldigt, Mitglieder der EPR zu sein. Wir glauben, daß die Regierung nur auf solch einen Widerstand reagiert, Dialog und friedliche Proteste scheinen nichts zu bringen. Heute wissen wir: Wenn du keine Waffen trägst, wird das Militär dich einfach fertigmachen. Deshalb ist es besser, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu tragen.
Für uns ist die Guerilla etwas ganz Natürliches, wir haben eine lange Geschichte mit bewaffneten Bewegungen. Obwohl die EPR als Guerilla nicht so anerkannt ist wie die EZLN in Chiapas, ist die Präsenz der Guerilleros für uns ganz normal. In Guerrero gibt es in jedem Dorf eine bewaffnete Gruppe. Nur die mexikanische Regierung hat Angst vor der Guerilla und verteufelt sie. Meiner Ansicht nach sind die bewaffneten Gruppen das Rückrat der Indigenas. Sie unterstehen nicht der mexikanischen Regierung, die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen.

Interview: Stefanie Kron und Berenice Hernandez

KASTEN:
Hermelinda Tiburcio Calletano ist Präsidentin von „Rancho Nuevo de Democracia“, der einzigen autonomen Gemeinde im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Autonome Gemeinden sind darüber hinaus nur in Chiapas seit dem Auftauchen der Befreiungsbewegung EZLN von indigenen Gemeinschaften ausgerufen worden.
Guerrero blickt auf eine lange Geschichte linker Befreiungs- Bewegungen zurück und gehört, neben Chiapas und Oaxaca, zu den ärmsten Bundesstaaten Mexikos mit dem höchsten indigenen Bevölkerungsanteil. Derzeit agiert dort vor allem die EPR (Revolutionäre Armee des Volkes). Ähnlich wie in Chiapas verschärfte die mexikanische PRI-Regierung in den vergangenen Jahren auch in Guerrereo die Repression gegen jedwede oppositionelle Organisierung, vor allem gegen die indigene Bevölkerung, und militarisierte die Region.
Seit einem massiven Wahlbetrug bei den Gouverneurswahlen Anfang 1999 ist die Situation besonders angespannt. PRD-Kandidat Salgado, der nach eigenen Angaben die Wahl gewann, sich jedoch dem PRI- Kandidaten Rene Juarez Cisneros knapp geschlagen geben mußte, rief die Bevölkerung zum friedlichen Protest auf. Die EPR erklärte, daß sie eine „bewaffnete Abstimmung und Entscheidung des Volkes“ über den zukünftigen Gouverneur von Guerrero unterstützen würde.

Mexiko in den Fängen von NAFTA

Im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) schlossen sich mit Wirkung zum 1. Januar 1994 mit den USA, Kanada und Mexiko drei alles andere als homogene Länder zusammen. Über 80 Prozent des gemeinsamen Bruttosozialprodukts (BSP) entfällt dabei auf die USA. Während Mexiko und Kanada ihren Außenhandel zu rund drei Vierteln mit den USA abwickeln, beträgt ihr gemeinsamer Anteil am US-amerikanischen Außenhandel nicht mal ein Drittel. Und während Kanada der führende Handelspartner der USA ist, hat Mexiko inzwischen sogar Japan als zweitgrößten abgelöst. In den ersten Jahren des NAFTA profitierten sowohl Kanada als auch Mexiko von der Bereitschaft der USA, Handelsbilanzdefizite gegenüber den Partnerländern zuzulassen. Dahinter steht der seit 1991 anhaltende Konjunkturaufschwung in der größten Binnenökonomie der Welt, den USA. Daß die USA auf lange Sicht ihren anhaltenden Handels- und Leistungsbilanzdefiziten ein Ende bereiten wollen, zeigt nicht zuletzt die zunehmend aggressive, auf Marktöffnung zielende Handelspolitik im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Die Klagen gegen die Bananenmarktordnung und das Importverbot von Hormon-Rindfleisch der Europäischen Union (EU) seien hier nur als aktuellste Beispiele angeführt. Wenn die USA im Zuge ihrer Bestrebungen zur Defizitbegrenzung Mexikos Spielraum für Handelsüberschüsse einschränken, wird für Mexiko der größte Aktivposten der bisherigen NAFTA-Bilanz hinfällig.

Quantitatives Wachstum

In Sachen NAFTA ist auf seiten der mexikanischen Regierung der Handels- und Industrieminister Herminio Blanco Mendoza quasi der letzte Mohikaner. Er ist das einzige aktuelle Regierungsmitglied, das bereits in die NAFTA-Verhandlungen involviert war. Dementsprechend positiv fällt seine NAFTA-Bilanz aus: NAFTAs größter Erfolg bestehe in den neugeschaffenen Arbeitsplätzen. Eine Million neue Jobs schreibt Blanco der Freihandelszone zu. Über Zahlen und Statistiken läßt sich bekanntlich trefflich streiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß der Ausbau der maquiladoras (Lohnveredelungstätten) positive Beschäftigungseffekte mit sich brachte und daß dieser Ausbau durch NAFTA gefördert wurde. Zwar wurde die erste maquiladora in Mexiko bereits 1965 eröffnet, die massive Expansion dieser Produktionsstätten setzte jedoch erst im Zuge der Liberalisierungspolitik seit Anfang der achtziger Jahre ein. Existierten 1980 gerade 620 maquiladoras, so sind es Mitte 1999 schon 3100. Seit dem Start von NAFTA hat sich die Zahl der dort Beschäftigten fast verdoppelt, auf knapp über eine Million ArbeiterInnen. Angesichts des in Mexiko reichlich vorhandenen industriellen Reserveheeres ist das In-Lohn-und-Tortilla-Bringen von Arbeitskräften ein Erfolg, der nicht mit dem simplen Hinweis auf die kritikwürdigen Arbeitsbedingungen weggewischt werden kann. Ein schlechtes formelles Beschäftigungsverhältnis ziehen viele MexikanerInnen einer informellen Beschäftigung vor – wenn sie denn die Wahl haben. Beschäftigung um jeden Preis scheint sowohl für die mexikanische Regierung als auch mangels Alternativen für die Bevölkerung die Maxime zu sein. Immerhin muß in den maquilas wenigstens der gesetzliche Mindestlohn von 37 US-Dollar pro Woche gezahlt werden, Industrieminister Blanco beziffert das Durchschnittseinkommen in diesem Sektor gar auf das Viereinhalbfache des Mindestlohns.

Begrenzte Entwicklung

Die Grenzen einer auf maquilas beruhenden Entwicklung sind jedoch offenkundig. In den maquilas werden importierte Vorprodukte veredelt, um dann wieder exportiert zu werden. 1998 wurden über 97 Prozent der in den maquilas verarbeiteten Inputs aus dem Ausland importiert. Das bedeutet schlicht, daß von der maquila-Industrie nur geringe Impulse auf den Rest der Wirtschaft ausgehen und so gut wie keine Verflechtung zwischen den Industriesektoren stattfindet. Der Anreiz für Investoren, solche Veredelungsbetriebe aufzuziehen, liegt in erster Linie in den geringen Lohnkosten. Demzufolge siedeln sich arbeitsintensive Industrien mit meist veralteter und in hohem Maße umweltschädigender Technologie an. Ältere, arbeitsintensive Technologien haben eine geringere Wertschöpfung je Arbeitskraft und senken tendenziell den Anteil höherqualifizierter Arbeitskräfte. Die Zahlen belegen dies prägnant: 82 Prozent der ArbeiterInnen sind ungelernte Kräfte und nur 11 Prozent haben eine technische Qualifikation aufzuweisen. Eine Entwicklung, die höhere Löhne zuließe, bedingte indes eine höhere Wertschöpfung pro Arbeitskraft, die die maquilas jetzt und auch zukünftig nicht zu erbringen imstande sind – eben weil eine Verflechtung mit anderen Industriesektoren, die einen höheren mexikanischen Wertschöpfungsanteil an der Produktion ermöglichen würde, ausbleibt. Die Folge: Mexiko wird in seinem Status als verlängerte Werkbank und industrielle Müllkippe der USA zunehmend festgeschrieben.
Neben den geringen Arbeitskosten ist der bevorzugte Marktzugang in die USA für viele Investoren der Hauptanreiz, in Mexiko zu investieren. Für südkoreanische Unternehmen bildete dies die Motivation, in Mexiko Fernsehproduktionsstätten aufzuziehen, da Mexiko der größte Fernsehexporteur in die USA ist, und in dieser Sparte zu den größten Exporteuren weltweit gehört. Ebendieser bevorzugte Marktzugang ließ Mexiko auch zu einem Giganten der Automobilbranche heranwachsen.
Vor allem japanische und deutsche Unternehmen nützen Mexiko als Einfallstor zum lukrativen US-Automobilmarkt. Allein in den ersten vier Jahren NAFTA investierten die Autobauer 7,7 Milliarden US-Dollar in Produktionsanlagen auf mexikanischem Territorium. Das Wall Street Journal geht gar davon aus, daß die Investitionssumme bis zum Jahr 2000 noch verdoppelt wird. Schon 1997 exportierte Mexiko mit 800.000 Stück doppelt so viele Autos in die USA wie im ersten NAFTA-Jahr 1994. Der Boom in der Autoindustrie wird weiter anhalten, begünstigt durch die langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhne der mexikanischen ArbeiterInnen. Die durchschnittliche Arbeitswoche beträgt 42 Arbeitsstunden und der durchschnittliche Tageslohn 13,5 US-Dollar – ein Stundenlohn eines US-Kollegen in derselben Branche.

Manchester in Mexiko

Für mexikanische Verhältnisse bietet die Autoindustrie hingegen noch vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen. Insgesamt weist der maquila-Sektor zusammen mit der Landwirtschaft sowohl nach Auffassung von Gewerkschaften aus den USA, als auch unabhängiger mexikanischer Gewerkschaften wie die Unión Nacional de Trabajadores (UNT) oder die Sindicatos de Bienes y Servicios (SBS) die ungeschütztesten Arbeitsverhältnisse im formellen Sektor auf. Selbst der Transmissionsriemen der mexikanischen Regierungspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution), die staatliche Gewerkschaft CTM, kommt inzwischen nicht mehr umhin, die Arbeitsbedingungen in den maquilas zu kritisieren. “Zustände wie im Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhundert” monierte die CTM: schlechte Löhne, keinerlei Kündigungsschutz, die Arbeitgeber blieben häufig ihren Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen schuldig und medizinische Versorgung, Urlaubsgeld etc. würden nur seltenst gewährt. Jedoch ließ die Kritik seitens der CTM lange auf sich warten: Erst Ende 1997 wurde ein Bericht über die Arbeitsbedingungen angefertigt und Staatspräsidenten Zedillo übergeben. Diese unzureichende Interessenvertretung dürfte für die Gründung der unabhängigen UNT im November 1997 ausschlaggebend gewesen sein. Die UNT ist in den maquilas besonders stark vertreten und vertrat nach Angaben ihres Präsidenten Francisco Hernández Juárez bereits im März 1998 insgesamt 1,5 Millionen ArbeiterInnen. Zusammen mit der US-amerikanischen Gewerkschaft ALF-CIO bemüht sich die UNT seit ihrer Gründung, den Multis einen Code abzuringen, mit dem sie sich in ihren Produktionsstätten zur länderunabhängigen Einhaltung der Arbeitsrechte verpflichten.

Pyrrhussieg der UNT

Der bisher größte Erfolg der UNT entpuppte sich als Pyrrhussieg. Die UNT organisierte den ersten Streik in einer mexikanischen maquiladora überhaupt. Bestreikt wurde im Mai 1998 der Zulieferer des Autoherstellers Hyundai, Han Young in Tijuana. Die Schweißer wollten eine unabhängige Vertretung wählen, da sie sich von der offiziellen Gewerkschaft vernachlässigt fühlten. Die ersten 13 Initiatoren wurden schlicht entlassen.
Der darauffolgende, von Arbeitsrechtsorganisationen in den USA unterstützte Streik veranlaßte das Unternehmen, zum ersten Mal Wahlen zur ArbeitnehmerInnenvertretung vorzunehmen. Alle Versuche, die Wahlen mit Bestechungen zugunsten der offiziellen Gewerkschaften zu wenden, schlugen fehl. Die Unabhängigen siegten und nachdem die Zentralregierung das Ergebnis anerkannte, vermochte auch die Provinzregierung von Baja California ihre bis dato verweigerte Anerkennung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch das Unternehmen beugte sich zähneknirschend dem Ergebnis, nicht aber ohne sämtliche Streikorganisatoren der UNT zu entlassen und durch willige Mitglieder der CTM zu ersetzen.
Wenngleich die UNT noch weit davon entfernt ist, die hegemoniale Stellung der CTM zu gefährden, so zwingt sie die CTM doch zu einer kritischeren Haltung gegenüber den Arbeitsbedingungen im maquila-Sektor. Ob dies jenseits von Rhetorik zu greifbaren Änderungen führt, ist jedoch fraglich.

Landflucht und Migration

Neben dem maquila-Sektor ist der Agrarsektor Mexikos von NAFTA am stärksten betroffen. Nach Angaben von Benjamín Valenzuela, dem Präsidenten der Unión Nacional de Campesinos Autónomos (Unorca) sind die Einkommen seit dem Start von NAFTA um 60 Prozent gefallen. Die mexikanischen ProduzentInnen waren der Liberalisierung der Agrarmärkte nicht gewachsen. Insbesondere die MaisproduzentInnen haben von Jahr zu Jahr einen massiveren Rückgang zu verkraften. Zwar ist der Import US-amerikanischen Maises kontingentiert, die Kontingente steigen jedoch von Jahr zu Jahr rapide an. Waren es 1997 noch 6 Millionen Tonnen, die zollfrei eingeführt werden durften, stieg das Kontingent 1998 bereits auf 11 Millionen Tonnen, um dann laut Plan 2005 auf 15 Millionen Tonnen festgesetzt zu werden. Immer mehr klein- und mittelständischen mexikanischen campesinos wird so schleichend die Existenzgrundlage entzogen, liegen doch schon ihre Produktionskosten über den Preisen, zu denen die US-amerikanischen Großfarmer anbieten. Die Versuche der mexikanischen Regierung, den campesinos Ingenieure zur Produktivitätsverbesserung zur Seite zu stellen, mögen gut gemeint sein – Wettbewerbsfähigkeit werden sie nicht schaffen.
Jene, denen die Existenzgrundlage auf dem Land entzogen worden ist, bleibt nur die Flucht. Entweder in die Grenzgebiete, in denen 80 Prozent der maquiladoras angesiedelt sind oder nach Mexiko-Stadt, also überall dorthin, wo die Umweltbedingungen ohnehin schon nahezu unerträglich sind, aber wenigstens eine formelle oder informelle Beschäftigung in Aussicht steht, die das Überleben zu sichern vermag. Als dritte Möglichkeit verbleibt die illegalisierte Migration in die USA. Der vor NAFTA bei vielen MexikanerInnen existierende Irrglaube, daß NAFTA ihnen einen ungehinderten Zugang zum US-Arbeitsmarkt veschaffen würde, hat sich in Nichts aufgelöst – die Migrationsströme nehmen weiter zu. Mehr als eine Million MexikanerInnen werden pro Jahr aus den USA zurückdeportiert, rund 360 verloren in den letzten vier Jahren allein im kalifornischen Niemandsland beim Migrationsversuch ihr Leben. Dabei hängen große Teile der kalifornischen Landwirtschaft von den billigen, illegalisierten MigrantInnen ab. Aber, so der US-Staatssekretär Peter Romer, es sei nun mal „kein Grundrecht“, daß „jeder Mensch jederzeit an jeden Ort der Welt reisen könne.“

Die USA können auch anders

Dementsprechend wurde im Zuge der Operation Gatekeeper seit 1994 die Grenze militärisch gesichert: mit neuen Schutzwällen und verstärkten Patrouillen. Auch in der Handelspolitik zeigte sich die USA in Einzelfällen unversöhnlich. Mexikanische Erdbeeren wurden zeitwillig mit Importverbot belegt, weil sie angeblich bei US-Schulkindern Hepatitis verursacht hätten. Beweise wurden nicht erbracht. Mexikanische Lastwagen müssen an der Grenze umgeladen werden, weil sie wegen fehlender Sicherheitsstandards nicht weiterfahren dürfen. Möglichkeiten innerhalb einer Freihandelszone Protektionismus zu betreiben, gibt es genug – bei entsprechender Machtposition, versteht sich.
Die mexikanische Regierung ist sich ihrer Abhängigkeit wohl bewußt und weiß, daß das absehbare Ende der Hochkonjunktur in den USA die eigenen Exportmöglichkeiten dorthin einschränken wird. So kennzeichnen die im letzten November aufgenommenen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) den Versuch, den Klauen der USA ein wenig zu entrinnen. Ob die EU dafür ein geeigneter Partner ist, darf getrost bezweifelt werden. Das letzte, am 24/25. März auf dem Berliner Gipfel von der EU verabschiedete Freihandelsabkommen mit Südafrika spricht eine andere Sprache – es enthält entgegen jeglicher Entwicklungs-, wenngleich nicht Machtlogik, eine asymmetrische Marktöffnung zugunsten des Stärkeren. Aber das ist ein anderer Kontinent und eine andere Geschichte.

Konfrontation in San Andrés

Die Chancen für eine Lösung der Konfrontation von Regierung und EZLN (Ejército Zapatista de Liberaración Nacional) in Chiapas stehen seit längerem schlecht. Mit der gewaltsamen Räumung der autonomen zapatistischen Gemeinde San Andrés durch Polizei, Militär und Mitglieder der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) am 7. April erreichten die Provokationen, denen die Zapatisten ausgeliefert sind, ein neuerliches Höchstmaß.
San Andrés war Sitz der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Zapatistas und ist seit 1994 mehrheitlich zapatistisch. Das Rathaus wird seit 1995 autonom regiert: Aus dieser Zeit datiert auch die Umbenennung des Ortsnamens in San Andrés Sacamuch’ em de los Pobres. Für die zapatistische Bewegung hat die Gemeinde Symbolcharakter.
Die Polizeiaktion wurde von mehreren kirchlichen Stellen und Menschenrechtsorganisationen als eindeutige Agression gegen die EZLN und bewußte Gefährdung des Friedensprozesses durch die Regierungsseite gewertet. Der ehemalige Vermittler Bischof Samuel Ruiz konnte sich angesichts des Geschehens eines gewissen Sarkasmus nicht enthalten: „So zeigt sich der Wille zum Dialog“, kommentierte er den Vorfall.
Die sukzessive Zerschlagung der autonomen Gebiete ist nur eine Form der Regierung, den Konflikt für sich zu entscheiden. Die von staatlicher Seite geförderten Maßnahmen der Landvergabe an Familien aus zapatistischen Gebieten versuchte die PRI der Öffentlichkeit als „Desertationen aus der zapatistischen Armee“ zu verkaufen. Den Familien bleibt angesichts der Anfeindungen von PRI-Anhängern, denen sie in ihren Gemeinden ausgesetzt sind, oft keine andere Wahl, als ihr Dorf zu verlassen. Die Situation der Bauernfamilien wird dazu genutzt, die zapatistische Armee in Mißkredit zu bringen. So war die Rede von 20.000 Zapatisten, die die Waffen niedergelegt hätten. Zudem gab es Hinweise darauf, daß sich Mitglieder der PRI darauf vorbereiteten, als Zapatisten verkleidet, offiziell ihre Waffen abzugeben. Die Behauptung, die EZLN kaufe Waffen mit Geldern der vor wenigen Wochen durchgeführten Umfrage, komplettiert die Propaganda. Von Seiten der EZLN werden diese Versuche als Farce bezeichnet und als Reaktion auf die erfolgreiche Consulta gewertet.
Nicht nur humanitäre Organisationen betrachten die Zentral- und Bundesstaatsregierung als die Verantwortlichen für die angespannte Lage in Chiapas. Auch der ehemalige Friedensbeauftragte der Regierung und jetzige Chef der PCD (Zentraldemokratische Partei), Manuel Camacho Solís, meldete sich Anfang April zu Wort, um die EZLN zu unterstützen. Nach seiner Auffassung bedeutete die polizeiliche Räumung von San Andrés einen schweren Rückschlag für den Dialog zwischen den beiden Konfliktparteien.
Solís’ harsche Kritik an der Politik der Regierung sorgte nun für das Wiederaufflammen des alten Streits: 1994 wurde er abgesetzt, weil er die Interessen der Regierung nicht konsequent genug vertreten hatte. Jetzt forderte er den amtierenden Innenminister Francisco Labastida Ochoa zum Fernsehduell auf. Sein Vorwurf: Keines der Versprechen, die Labastida nach dem Massaker von Acteal gegeben hatte, seien eingelöst. Eine Aufklärung des Massakers stehe weiterhin aus; die Regierung versuche lediglich, den Status quo aufrechtzuerhalten. Die Situation der Bevölkerung Chiapas’, so Solís, hat sich gegenüber 1994 deutlich verschlechtert.
Mehr und mehr machen sich die anstehenden Wahlen bemerkbar: Als Nebeneffekt derartiger Auseinandersetzungen läßt sich, so hoffen die Kontrahenten wohl zu Recht, ein kleines Plus an Bekanntheit gewinnen. Beide sind für die Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2000 im Gespräch.
Die Übernahme des autonomen Rathauses in San Andrés durch Priistas war nur von kurzer Dauer. Nach einer breiten Mobilisierung durch die EZLN zogen bereits einen Tag nach der Räumung, am 8. April 4.000 Indígenas nach San Andrés, um friedlich für ihre Forderungen zu demonstrieren. Sie nahmen das Städtchen wieder in ihren Besitz. Dem amtierenden Gouverneur von Chiapas, Roberto Albores Guillén, blieb nichts weiter übrig, als den Rückzug seiner Polizeikräfte anzuordnen.

80. Todestag Zapatas

Unterdessen beging man am 10. April in San Andrés den 80. Jahrestag der Ermordung Emiliano Zapatas. Auch in den Bundesstaaten Oaxaca, Morelos, Veracruz und Mexico D. F. fanden Gedenkmärsche statt.
Auch die Offiziellen der PRI würdigten den Guerillaführer. Ungerührt hielt Albores, Drahtzieher der Angriffe auf die autonomen zapatistischen Gebiete und in andere Aktivitäten der Paramilitärs verwickelt, in Chenalho eine Laudatio auf den Kämpfer für die Rechte der Bauern.
Für die lokalen oder nationalen Machthaber besteht bisher, trotz ihrer Machenschaften, wie den Angriffen auf zapatistische Gebiete und harter Repression gegen die örtliche Bevölkerung, kaum ein persönliches Risiko. In diesem Bewußtsein führen sie ihre Politik fort. Der einzige Unsicherheitsfaktor im Machtgebilde sind die Wahlen, die nächstes Jahr sowohl in Chiapas als auch landesweit anstehen. Für den Friedensprozeß in Chiapas bilden sie eine, wenn auch nicht die einzige Chance.

„Die PRI gewinnt keine Stimmen, sondern kauft sie“

Wie ist die Unterstützung auf dem Weg in die Hauptstadt?

Wir werden auf unserem Weg in die Hauptstadt ausnahmslos freundlich empfangen. Die Menschen geben uns Essen und Wasser. Wir schlafen auf dem Zócalo (Hauptplatz) der Dörfer und Städte, durch die wir marschieren. Hier laufen alle mit, die sich nicht mit dem Wahlbetrug abfinden wollen. Es treffen sich Studenten, Arbeiter, Arme, Alte und Junge. Guerrero möchte sich von den Kaziken, die töten und unterdrücken, befreien, so wie sich das israelische Volk vor 5.000 Jahren von den Ägyptern befreien wollte. Deshalb gab das Volk von Guerrero am 7. Februar die Stimme für den Wechsel ab und jetzt wollen sie uns das uns zustehende Gouverneursamt rauben. Wenn wir den Wahlbetrug diesmal durchkommen lassen, wird auch bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2.000 ein Wahlbetrug stattfinden. Wir müssen alles tun, um dies zu verhindern.

Der Wahlrat des Bundesstaates Guerrero, der die Aufgabe hatte den Wahlgang zu überwachen, hat die Ergebnisse für korrekt befunden. Was sagen sie dazu?

Der Wahlrat des Bundesstaates Guerrero ist komplett von der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) gekauft worden. Der Präsident des Rates, Miguel García Mandonado, ist Staatsanwalt. Sein Bruder war Anwalt von Rubén Figueroa Figueroa, dem ehemaligen PRI-Gouverneur von Guerrero. Das heißt, dieser Präsident des bundesstaatlichen Wahlrates gehört der PRI an, wie alle anderen auch. Es gibt nur drei Mitglieder, die nicht in der PRI sind. Diese drei wurden gezwungen, eine Erklärung zu unterzeichnen, die besagt, daß die Wahlen mit rechten Dingen zugingen und René Juárez Cisneros, der PRI-Kandidat, gewann. Diese Erklärung hat die Zustimmung von Präsident Ernesto Zedillo und Innenminister Francisco Labastida Ochoa, aber nicht die Zustimmung des Volkes von Guerrero.
Es kann sein, daß es am 1. April zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen den Wahlrat kommt, um ihn mit öffentlicher Kraft zu zwingen, die Wahlergebnisse zu revidieren und zu rechtfertigen. Wir werden alles tun, um zu verhindern, daß sich René Juárez Cisneros auf den Stuhl des Gouverneurs setzt.

Wie kam es Ihrer Meinung nach zur Fälschung der Wahlergebnisse?

Zuerst hat die PRI Leute gekauft, die 2.500 Pesos (ca. 500 Mark) in 14 Tagen verdienten. Leute, die sich um den Wahlkampf kümmern sollten. Diese gingen von Tür zu Tür und gaben den Menschen Bohnen, Tortillas, Decken und Geld. Einige waren mit ein wenig Reis, andere mit 100 Pesos (ca. 20 Mark) zufrieden. Die PRI gewinnt keine Stimmen, sondern kauft sie. Am siebten Februar nun verschwanden Wahlurnen, Stimmen wurden nicht richtig ausgezählt oder annulliert. Mehr als 20.000 Menschen im Bundesstaat Guerrero konnten nicht wählen, da ihnen gesagt wurde, daß ihre Wahlausweise ungültig seien.
Trotz allem haben wir gewonnen. Wir bitten nicht um etwas, das sich außerhalb des Gesetzes befindet. Alles was wir wollen, ist, daß die Wahlurnen noch einmal geöffnet werden, um die Ergebnisse zu überprüfen. Dann wird sich sehr schnell herausstellen, wer am ersten April in den Gouverneurspalast einzieht.

Die in Guerrero operierende Guerillaorganisation EPR (Revolutionäres Volksheer) hat die Wahlfälschung als „Kriegserklärung an das Volk“ bezeichnet. Was sagen Sie zu einer möglichen Hilfe der Guerilla im Kampf gegen den Wahlbetrug?

Ich möchte unsere Protestaktion vom bewaffneten Kampf distanzieren. Wenn die Wahlergebnisse jedoch nicht richtiggestellt werden, kann auch ich für eine friedliche Lösung nicht mehr garantieren.

Was wird geschehen, wenn die Wahlurnen nicht geöffnet werden, um eine Überprüfung der Ergebnisse zuzulassen?

Wenn der Präsident des Nationalen Wahlrates sagt, daß die Wahlurnen nicht geöffnet werden und wenn sie den Unregelmäßigkeiten, die stattfanden, keine Beachtung schenken, dann kehren wir nach Guerrero zurück, veranstalten eine öffentliche Versammlung und stimmen über die weitere Vorgehensweise ab. Am 1. April haben René Juárez und ich eine Verabredung im Gouverneurspalast. Wenn diese Demonstration nichts bringt, sehen wir uns dort.

Patriotisches Himmelfahrtskommando

Verschwörungstheorien erfreuen sich in Mexiko ungemeiner Beliebtheit. Dafür gibt es einen einfachen Grund: In einem Land, das sieben Jahrzehnte lang von nur einer Partei regiert wurde, deren interne Machtverhältnisse und Fraktionskämpfe zudem immer hinter verschlossenen Türen verborgen blieben, liegt es für den politischen Beobacher nahe, hinter jedem politischen Ereignis eine finstere Macht zu wähnen, die die Marionetten auf der öffentlichen Bühne tanzen läßt. So war es denn kein Wunder, daß ein illustrer vierstündiger Aufzug von 51 Militärs, die am 18. Dezember letzten Jahres über die hauptstädtische Magistrale Paseo de la Reforma marschierten, für großes Aufsehen sorgte und wilde Spekulationen auslöste. Denn es handelte sich keineswegs um eine der zahlreichen offiziellen Militärparaden, sondern um eine regelrechte politische Demonstration bewaffneter Uniformträger.
Ein Novum in Mexiko, drang doch bisher über das Innenleben der Bundesarmee kaum etwas an die Öffentlichkeit. Unter der Führung des Oberstleutnant Hildegardo Bacilio Gómez protestierte das selbsternannte Patriotische Kommando zur Bewußtseinsbildung des Volkes (CPCP) mit der Aktion gegen die Verletzung elementarer Menschenrechte innerhalb der Armee. Sogleich wurde darüber gemutmaßt, welche der unzähligen politischen Fraktionen oder Cliquen innerhalb des Staatsapparates und der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) mit dem Manöver welches politisches Ziel erreichen und wer wem warum eine Ohrfeige verpassen wolle. Letztlich scheinen sich alle Spekulationen als Luftblase erwiesen zu haben: Hinter dem CPCP steht tatsächlich nur eine Gruppe von inkonformen Soldaten, die die unhaltbaren Zustände innerhalb der Bundesarmee anprangern wollten.

Willkürjustiz

Die CPCP-Mitglieder beklagten, daß etwa 1.500 Angehörige der Streitkräfte wegen angeblicher Vergehen wie Befehlsverweigerung oder Ungehorsam in Militärgefängnissen inhaftiert seien. Bei den Verurteilungen würde teilweise willkürlich vorgegangen und rechtsstaatliche Prinzipien mißachtet. So säßen viele Soldaten langjährige Strafen für Taten ab, die sie gar nicht begangen hätten. Bacilio Gómez und seine Anhänger forderten daher, daß die armeeinterne Rechtssprechung (fuero militar) aufgehoben und die Armee der zivilen Jurisdiktion unterworfen werden solle. „Für Militärs existieren keine Menschenrechte und sie kommen auch nicht in den Genuß der Garantien, die die Verfassung gewährt. Arm dran ist im Militär derjenige, welcher versucht, auf seine Bürgerrechte zu pochen“, erklärte Ende Februar Enriquez del Valle, ein ehemaliger Hauptmann, der als zweiter Anführer des CPCP gilt.
Bisher drang über die internen Verhältnisse in der Bundesarmee wenig nach außen. Lediglich der Fall des General José Francisco Gallardo wurde in der Presse öfter erwähnt. Wenn man dem CPCP Glauben schenkt, kann er als symptomatisch gelten. Gallardo hatte sich 1993, ähnlich wie das Patriotische Kommando heute, über das innermilitärische Justizsystem beklagt und einen Ombudsmann für die Soldaten gefordert. Dieser sollte Beschwerden über Willkürhandlungen von Offizieren entgegennehmen und ihnen nachgehen. Doch Gallardo wurde schnell selbst zum Opfer der Militärgerichtsbarkeit. Unter einer fadenscheinigen Anklage wurde er zu 28 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er soll Pferdefutter aus einem Armeestall gestohlen haben. Gallardo und seine Angehörigen ließen sich durch das Urteil nicht entmutigen und führen seit Jahren eine unermüdliche Kampagne für seine Freilassung. Mittlerweile hat amnesty international Gallardo zum „Gefangen aus Gewissensgründen“ erklärt. Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) untersteht, bezeichnet ihn als „politischen Gefangenen“.
Den Angehörigen des CPCP ergeht es nach ihren Protesten nicht viel besser. Mittlerweile sitzen acht Mitglieder im Militärknast. Oberstleutnant Hildegardo Bacilio konnte diesem Schicksal bis jetzt entgehen und verbirgt sich irgendwo in Mexiko. Er beschränkt sich momentan auf die Forderung nach Freilassung seiner Gesinnungsfreunde.

Politische Opposition im Militär?

Daß eine Organisation wie die mexikanische Armee, die beschuldigt wird systematischer Menschenrechtverletzungen beschuldigt wird, auch innerhalb ihrer Strukturen nicht zimperlich gegen Kritiker vorgeht, verwundert kaum. Interessant ist dagegen, daß die Äußerungen Oberstleutnants Bacilio Gómez einen deutlich politischen Anstrich hatten. So listete er eine Reihe politischer Vorbilder auf. Darunter befanden sich Che Guevara, der Subcomandante Marcos von den Zapatistas in Chiapas, Gerry Adams von der IRA-nahen Partei Sinn Fein aus Nordirland und der kürzlich zum Präsident gewählte Ex-Putschist und Linkspopulist Hugo Chávez aus Venezuela. Doch nicht nur für bewaffnete Freiheitshelden – oder solche, die sich dafür halten – schlägt sein Herz, sondern auch für Samuel Ruiz, den als Befreiungstheologen bekannten Bischof aus Chiapas.
Auf einer – mittlerweile wieder verschwundenen – Internetseite, die das CPCP einrichtete, fanden sich nicht nur Links zur Homepage der südmexikanischen Guerilla EZLN, sondern auch zur Seite von Rosario Ibarra, die momentan im Auftrag der Zapatistas eine Volksbefragung über deren Gesetzesvorschlag über indianische Rechte und Kultur organisiert. Rosario Ibarra ist eine der bekanntesten MenschenrechtsaktivistInnen in Mexiko. Ihr Sohn wurde als Mitglied einer Stadtguerilla in den 70er Jahren vom Militär entführt und ist seitdem verschwunden. In Interviews erkärte Bacilio Gómez außerdem, daß er nicht damit einverstanden sei, daß die Bundesarmee dazu eingesetzt werde, protestierende Indígenas und Menschenrechtsaktivisten zu ermorden.
Diese Äußerungen sind vor allem vor dem Hintergrund interessant, daß schon seit geraumer Zeit über eine angebliche oppositionelle Strömung in der mexikanischen Armee gemunkelt wird. Sie soll sich in der Tradition des postrevolutionären Linksnationalismus verorten, der über Jahrzehnte von Teilen der PRI gepflegt wurde und heute von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) weiter repräsentiert wird. Immerhin soll PRD-Kandidat Cuauhtémoc Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen 1988 über die Hälfte der Stimmen der Armeeangehörigen gewonnen haben.
Dies ist durchaus plausibel, war doch sein Vater, der Revolutionsgeneral Lázaro Cárdenas, nach seiner durch Sozialreformen geprägten Präsidentschaftsperiode von 1934-40 noch jahrelang Verteidigungsminister. Auch der General und Rektor der Armeeuniversität im Ruhestand Luis Garfias Magaña meint: „Das mexikanische Militär identifiziert sich mehr mit dem Volk als mit den hohen Klassen.“
Obwohl man getrost davon ausgehen kann, daß die mexikanische Armee sich nicht auf einmal der EZLN anschließen wird, zeigt doch allein die Diskussion über den inneren Zustand der Armee, daß es dort rumort. Es wäre keine Überraschung, würde irgendwann ein mexikanischer Hugo Chávez auf den Plan treten und das Vaterland retten wollen. Das meinen zumindest die Militärsoziologen José Luis Piñeros und Guillermo Garduño. Sie erklärten in der Tageszeitung Excelsior: „Die Militärs, die auf die Straße gegangen sind, um ihre Differenzen innerhalb der Streitkräfte zu manifestieren, könnten in absehbarer Zeit auch soziale Anliegen auf ihre Fahnen schreiben und als Führer auftreten. Anlaß dazu gibt die wirtschaftliche, politische und soziale Krise im Land, vor allem aber das Fehlen rechtmäßiger Führer, die sich an die Spitze des Kampfes für die Umgestaltung stellen.“

Zwei „Wahlsieger“ in Guerrero

Am 1. April wollen gleich zwei Politiker das Amt des Gouverneurs von Guerrero antreten. Nach dem offiziellen Ergebnis hatte der PRI-Kandidat (Partei der Institutionalisierten Revolution) René Juárez Cisneros bei den Wahlen am 7. Februar knapp die Nase vorn. Mit nur 17.000 Stimmen Vorsprung soll er vor Félix Salgado von der PRD (Partei der Demokratischen Revolution liegen. Salgado und seine Anhänger jedoch erkennen dieses Ergebnis nicht an und protestieren seit Wochen energisch. Die nationale PRD-Führung gibt sich entschlossen: „Wir werden nicht erlauben, daß Cisneros das Amt antritt“, erklärte sie einmütig.
Die Vorwürfe der PRD an die Adresse der Staatspartei PRI, die in diesen Tagen ihren 70. Gründungstag feiert, lauten wie bei vielen Wahlgängen in den letzten Jahren: Sie habe im Vorfeld des Urnengangs staatliche Gelder eingesetzt, um Stimmen „zu kaufen“. Außerdem sei das Wählerverzeichnis manipuliert worden, sodaß PRD-Anhänger teilweise nicht abstimmen durften, weil sie nicht registriert waren. In einer Reihe von Wahlkreisen sei auch nicht korrekt ausgezählt worden. Kurz: „Hier hat Wahlbetrug stattgefunden“, wie Salgado versichert.
Wer nun tatsächlich in den Gouverneurspalast der Hauptstadt Chilpancingo einziehen darf, wird in den nächsten Wochen allerdings weniger von den Wahlbehörden als vielmehr durch ein Kräftemessen auf der Straße entschieden werden. Salgado gelingt es dabei, eine große Anzahl von Sympathisanten zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Allein in Acapulco, der größten Stadt Guerreros, konnte er zweimal mehrere zehntausend Menschen versammeln. Am 7. März soll eine Karawane mit 20.000 PRD-Anhängern nach Mexiko-Stadt aufbrechen, um den Protest auch dort auf die Straße zu tragen. Die Forderung der PRD ist, daß die Stimmen neu ausgezählt werden sollen und „der Wahlprozeß gesäubert wird“.

Spiel mit dem Feuer

Daß die Parteien nach einem Wahlgang wochenlang über das Ergebnis streiten, ist in Mexiko mittlerweile zu einer Tradition geworden, die scheinbar niemand mehr vermissen möchte. Oft handelt es sich dabei nur um Schattengefechte, in Guerrero jedoch steht viel auf dem Spiel. Der von einem Gebirge zerklüftete ländlich und indigen geprägte Bundesstaat gehört zu den ärmsten in Mexiko. Seit Jahrzehnten wird Guerrero vom Familienclan Figueroa beherrscht, der den Bundesstaat mit harter Hand regiert.
Als Anfang der 70er Jahre zwei Guerillaorganisationen unter der Führung der beiden Dorfschullehrer Lucio Cabañas und Genaro Vazquez entstanden, reagierten die Regierenden mit brutalen Armeeeinsätzen, die mindestens 500 Menschen das Leben kosteten. Auch in der Folgezeit rissen die Konflikte zwischen Bauernorganisationen und PRI nie ab.
Im Sommer 1996 präsentierte sich als Reaktion auf Massaker an Mitgliedern oppositioneller Bauernorganisationen und auch der PRD mit der EPR (Revolutionäre Volksarmee) eine neue Guerilla. Letztes Jahr tauchte zudem die ERPI (Revolutionäre Armee) des aufständischen Volkesauf. Gleichzeitig konnte sich die PRD auf der Grundlage der anwachsenden Bauernorganisationen stabilisieren. Im Gegensatz zu manchen anderen Bundesstaaten Mexikos stellt die PRD in Guerrero daher eher eine Bewegungspartei und keinen losen Wahlverein dar.
Beide Guerillas hatten vor dem Urnengang erklärt, sie würden sich nicht in den Wahlprozeß einmischen, bei einem Wahlbetrug aber den „Willen des Volkes“ verteidigen. Es verwundert daher nicht, daß der PRD-Parteivorsitzende Manuel López Obrador Präsident Zedillo eine „große und gefährliche Verantwortungslosigkeit“ vorwirft, den Wahlbetrug gerade in Guerrero zu decken, „wo schon seit langer Zeit viele Menschen den parlamentarischen Kampf aufgegeben haben und den Weg der Waffen gewählt haben.“
Tatsächlich hat die EPR in einem Kommuniqué, das auf den 25. Februar datiert ist, einen möglichen Amtsantritt Cisneros am 1. April als eine „Kriegserklärung an das Volk“ bezeichnet. Die ERPI beläßt es nicht bei Erklärungen und betrieb in drei Armenstadtvierteln von Acapulco bereits bewaffnete Propaganda. Dabei tauchten mit AK-47 bewaffnete Kommandos in den Straßen auf und suchten den Kontakt mit der neugierigen Bevölkerung. Die Maskierten versprachen „Hilfe im Kampf gegen den Wahlbetrug“. Nur kurze Zeit später durchkämmten Polizei und Militär die Viertel, konnten die Guerilleros aber nirgends aufspüren.
PRD-Kandidat Félix Salgado läßt angesichts der angespannten Lage keine Gelegenheit aus, sich von den Guerillas zu distanzieren. „Wir protestieren friedlich“, erklärt er seinen Anhängern. Gleichzeitig schiebt er der PRI die Verantwortung für eventuelle Gewalttätigkeiten zu. „Wenn Zedillo sich weigert, die Wahl zu säubern, versperrt er uns den Weg, über Wahlen zur Demokratie zu gelangen. Damit gäbe er denjenigen Recht, die die Waffen erheben.“

Böses Omen für 2000?

Bisher scheinen die PRI weder die friedlichen Proteste noch die angedrohten bewaffneten Aktionen zu beeindrucken. Cisneros erklärte Anfang März vor Anhängern, er werde das Amt in jedem Fall übernehmen. Allerdings könne er sich vorstellen, mit PRD und Guerilla Gespräche zu führen. Gleichzeitig beorderte die Bundesarmee in den letzten Wochen laut Berichten der Tageszeitung La Jornada 6.500 zusätzliche Soldaten in das Gebiet der Costa Grande und die Region La Montaña, die beiden Gebiete, in denen die Guerilla über den stärksten Rückhalt verfügt.
Dem Urnengang in Guerrero kommt nicht zuletzt deshalb besonderes Gewicht zu, weil er in die Phase vor dem Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im Sommer 2000 fällt. Auch wenn es noch lange hin scheint, laufen die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren. Momentan rangeln sich in PRD und PRI eine Reihe potentieller Kandidaten um die Gunst des Publikums. Allein die rechtskonservative PAN hat mit Vicente Fox ihren Anwärter bereits auf das Schild gehoben. In dieser politischen Konjunktur ist es verständlich, daß Salgado seinen Kampf um den Gouverneursposten als entscheidend für die Präsidentschaftswahlen darstellt: „Der Wahlbetrug darf in Guerrero nicht durchkommen, weil er sonst auch 2000 stattfinden wird“, erklärte er.
Damit hat er sicher nicht ganz unrecht. Allerdings war die PRD in den letzten Monaten immerhin in der Lage, in den Bundesstaaten Zacatecas, Tlaxcala und Baja California Sur ihren Gouverneurskandidaten durchzusetzen. Außerdem hat Cuauthémoc Cárdenas bereits im Juli 1997 in Mexiko-Stadt die Bürgermeisterwahlen gewonnen. Nachdem die PAN bereits seit Beginn der 90er Jahre eine Reihe von Gouverneurswahlen gewonnen hat, scheint sich nun also auch die PRD als Regierungspartei auf bundesstaatlicher Ebene zu etablieren.
Das Machtmonopol der PRI ist endgültig gebrochen. Ob die seit 70 Jahren auf nationaler Ebene regierende PRI es daher noch einmal schaffen kann, im Jahr 2000 ihren Präsidentschaftskandidaten ins Amt zu boxen, ist so unsicher wie nie zuvor – unabhängig davon, wer am 1. April in Guerrero Gouverneur wird.

Zapatistas gehen auf Reisen

In Chiapas wird es vorerst nicht zu einer Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Zapatistas und Regierung kommen. Dies war das enttäuschende Ergebnis des mit großen Hoffnungen erwarteten Treffens der parlamentarischen Befriedungskommission COCOPA mit 29 Delegierten der EZLN. Wenigstens wurde wieder ein Kontakt zwischen der aus Parlamentariern der vier wichtigsten Parteien gebildeten COCOPA und der EZLN hergestellt. Die COCOPA verfügt zwar über kein Verhandlungsmandat der Regierung, kann aber zumindest die abgerissene Kommunikation zwischen den Rebellen aus dem lakandonischen Urwald und der Regierung unter Präsident Zedillo von der seit 69 Jahren regierenden PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) in Mexiko-Stadt wiederherstellen.

Die EZLN stellt Bedingungen

Damit deutet sich eine leichte Entspannung der Lage in Chiapas an, die in den letzten Monaten von zahlreichen Übergiffen von paramilitärischen Gruppen und Armee-Einheiten auf die von den zapatistischen Basisgemeinden gebildeten „autonomen Landkreise“ geprägt war. Die Delegation der EZLN stellte gleich zu Beginn des Treffens mit der COCOPA klar, daß keine Gespräche mit einer Verhandlungskommission der Regierung möglich seien bis nicht fünf Minimalbedingungen erfüllt wären: Die Umsetzung des bereits im Februar 1996 zwischen Regierung und EZLN abgeschlossenen „Abkommens über indianische Rechte und Kultur“, die Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, die Entwaffnung und Auflösung der Paramilitärs, einen ernsthaften Regierungsvorschlag für weitere Verhandlungsrunden und die Präsentation einer Verhandlungskommission der Regierung, die mit den notwendigen Kompetenzen für den Dialog ausgestattet ist. Insbesondere in bezug auf das „Abkommen über indianische Rechte und Kultur“ zeigt sich die Regierungsseite aber unbeweglich. Dieses Abkommen hatte sie zwar im Februar 1996 unterzeichnet, weigert sich aber seitdem, einen Gesetzesvorschlag der COCOPA, der auf dem Abkommen basiert, im Parlament zu beschließen. Das Abkommen sieht weitreichende Autonomierechte für die 15 Millionen indigenen Einwohner Mexikos vor. Unter anderem sollen indianische Gemeinden nach ihrem traditionellen Rechtssystem verfahren dürfen und über die Nutzung natürlicher Ressourcen in ihren Territorien mitbestimmen dürfen.
Während das Treffen zwischen EZLN und COCOPA in einer angespannten und von gegenseitigen Vorwürfen geprägten Atmosphäre verlief, fand in San Cristóbal zeitgleich eine Versammlung von Repräsentanten sozialer Bewegungen und Oppositionsgruppen mit den Zapatistas statt, die von beiden Seiten als erfolgreich bezeichnet wurde. Die über 3.000 TeilnehmerInnen, die mehr als 400 Organisationen aus ganz Mexiko vertraten, waren auf Einladung der EZLN nach Chiapas gekommen. Damit mobilisierten die Zapatistas zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder die Kräfte der sogenannten „Zivilgesellschaft“, um eine gemeinsame Kampagne einzuleiten.
Das wichtigste Ergebnis der Versammlung mutet waghalsig an. In den kommenden Monaten sollen 5.000 Mitglieder der EZLN alle 2.500 Landkreise Mexikos besuchen. Jeweils eine Frau und ein Mann aus den Reihen der maskierten Rebellen werden in jeweils einem der Landkreise Versammlungen abhalten, die in einer Volksabstimmung über das „Abkommen über indianische Rechte und Kultur“ enden sollen. Ein genauer Termin für den Beginn der Reisen der Delegierten, die teilweise über 5.000 Kilometer zurücklegen müßten, um beispielsweise vom südöstlichsten Bundesstaat Chiapas an die Grenze zu den USA zu gelangen, wurde noch nicht genannt.

EZLN-VertreterInnen in alle Gemeinden Mexikos?

Angesprochen auf die logistischen Schwierigkeiten des Reisevorhabens äußerte Comandante Tacho, ein Sprecher der EZLN, am Rande des Treffens in San Cristóbal: „Am schwierigsten ist es zu töten und zu sterben. Dagegen erscheint es uns nicht schwer, uns auf Zügen, Lkw, Pferden, Eseln, Mulis oder was auch immer auf die Reise zu machen.“
Die Versammlung in San Cristóbal beschloß zunächst, daß die EZLN Vorschläge für die zu stellenden Fragen formulieren soll. Außerdem soll sie die Abstimmungsmechanismen konkretisieren. Gleichzeitig verpflichteten sich die anwesenden Organisationen dafür zu sorgen, daß in jedem Landkreis Mexikos eine Informationsstelle eingerichtet wird, in der sich Interessierte über die Volksabstimmung informieren können.
Wie bereits im Herbst 1997, als 1111 Delegierte der EZLN einen Marsch in die Hauptstadt unternahmen, soll auch die neue Initiative dazu beitragen, daß der Konflikt in Chiapas auf zivile Weise gelöst werden kann. Comandante Tacho erklärte: „Der Dialog, den wir in diesen Tagen geführt haben, ist eine neue Möglichkeit, den Frieden zu suchen, ein Schritt im Kampf für die Anerkennung der indianischen Rechte und Kultur in der Verfassung und eine neue Anstrengung der Zivilgesellschaft und des Zapatismus, um dazu beizutragen, die schwere wirtschaftliche, politische und soziale Krise des Landes zu lösen.“ Ob sich die Regierung von der neuerlichen Initiative der Zapatistas beeindrucken läßt, darf bezweifelt werden. Innenminister Francisco Labastida Ochoa äußerte nach dem Ende der Versammlung in San Cristóbal, daß es sich bei den dort vertretenen Gruppen um „eine kleine Gruppe von Leuten, die nicht die Zivilgesellschaft vertreten“, gehandelt habe. Und der stellvertretende Regierungskoordinator für den Dialog, Alan Arias, meinte: „aus Sicht der Regierung ist der Kongreß für Verfassungsreformen zuständig.“

Wandernd und verwurzelt zugleich

Einer wie Carlos Fuentes würde wohl im unbarmherzigen Neudeutsch als Gutmensch bespöttelt werden. Gemeint wäre jemand, der immer auf der richtigen Seite steht, der es gut meint mit der Menschheit im allgemeinen und den Ohnmächtigen im besonderen und doch in der Elite zuhause ist. In Mexiko sagt man anders dazu: „Marxist im Smoking“. Oder auch, wie der mexikanische Historiker Enrique Krauze schrieb, ein „Dandy-Guerillero“. Das ist zwar vorwurfsvoll gemeint. Aber es klingt nicht höhnisch, eher anerkennend, etwas neidisch sogar. Wie gründlich Fuentes seinen Marx studiert hat, sei dahingestellt. Und bei aller Sympathie für die Guerilleros, Knarren und Klandestinität lagen dem feinen Mann aus gutem Hause wohl immer ziemlich fern. Ein Gentleman aber ist er sicher, ein durch und durch bourgeoiser Linker, von der Sorte, wie sie wohl nur Lateinamerika oder vielleicht noch Frankreich oder Italien hervorbringen. Stets elegant und tadellos gekleidet, steht der schnauzbärtige Autor mit dem silbrigen Haupt nicht nur für literarische Imagination, sondern zugleich für einen Begriff politischen Intellekts, der so gar nichts mit blutleerer correctness gemein hat. Kein Griesgram, sondern ein linksliberaler Lebemann, der am 11. November seinen siebzigsten Geburtstag feierte.
Und zweifellos ein Mann von Welt. Was damit zu tun haben dürfte, daß Carlos Fuentes buchstäblich zwischen den Welten großgeworden ist.

Der Weltläufer

Als Sohn eines mexikanischen Diplomaten wurde er am 11. November 1928 in Panama-Stadt geboren, verbrachte Kindheit und Jugend in Chile, Argentinien, vor allem aber in den USA. Er hat in Mexiko-Stadt Jura und in Genf internationale Politik studiert, im diplomatischen Dienst gearbeitet und als Gastprofessor an diversen US-Universitäten. Als Sechs-undzwanzigjähriger veröffentlichte Fuentes den ersten Band mit Kurzgeschichten („Verhüllte Tage“), 1958 erschien der erste große Roman „Landschaft im klaren Licht“. Bis heute hat der zwischen Mexiko, den USA und Europa pendelnde Autor knapp 50
Bücher – Romane, Erzählungen, Essays, Drehbücher, Theaterstücke und Anthologien – publiziert.
Manchen seiner Kritiker ist gerade die Fuentessche Weltläufigkeit ein Dorn im Auge. Der wandernde Literat habe sich aus der Ferne ein „imaginäres Mexiko“ geschaffen und arbeite sich seitdem, vor allem im gespaltenen Verhältnis zu seinem langjährigen Gastland USA, an einem „latenten Identitätskonflikt“ ab, heißt es bei Krauze. Andere halten gerade den kosmopolitischen Blick von außen auf die kulturellen Eingeweide seiner Heimat für den großen Vorteil des Schriftstellers, der zusammen mit dem im Frühjahr verstorbenen Octavio Paz, Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa einer der raren Lateinamerikaner ist, denen die Gunst der weltweiten Aufmerksamkeit zuteil wird. In nahezu allen Sprachen wurde Carlos Fuentes übersetzt und rezensiert, prämiert und interviewt. Dabei ist es nicht so sehr die Reporterpassion des quirligen Kolumbianers García Márquez oder die zeitlose Poetik eines Octavio Paz, die Fuentes treibt, sondern die Leidenschaft des Erzählers. Immer mit der Lust am „Wasserfall der Worte“ und mit weit ausholender Geste, meist vor dem Hintergrund der ganz großen Fragen – die Stadt und die Nation, der Eros und die Revolution, Apokalypse und Genesis, die Haßliebe zwischen der Alten und der Neuen Welt, zwischen Nord- und Südamerika. Und immer wieder, ein Lieblingsthema lateinamerikanischer Intellektueller, Geschichte und Identität.

Wie gut kennt Fuentes Mexiko?

Im außerliterarischen Raum gilt der Autor nicht als radikaler Denker. Im Unterschied zu Paz, so der Kulturjournalist Braulio Peralta, produziere Fuentes „eher Meinungen als Ideen“, er schreibe eher konjunkturabhängig denn zeitlos originär. In seinen statements zum Zeitgeschehen aber ist er unmißverständlich: sein Lob des Zapatistenaufstandes im Südosten Mexikos als „erster postkommunistischen Revolution“, die, bei aller Kritik der Waffen, „Mexiko endlich aus seiner erstweltlerischen Selbstgefälligkeit erweckt“ habe, wurde schnell zum geflügelten Wort. Berühmtgeworden ist auch sein denkwürdiger Briefwechsel mit dem Guerilla Literaten Subcomandante Marcos. Dieser hatte im Sommer 1994 den „Mann des Wortes, als Diplomaten, Wissenschaftler und vor allem als Mexikaner“ zu einer von der Guerilla einberufenen Konvention in die Selva geladen. „Lieber Freund“, schrieb Fuentes sichtlich geschmeichelt zurück, „ich stehe in Eurer Schuld“. Der Aufstand habe daran erinnert, daß die indigenen Kulturen „unsere Vorstellungen von der Moderne vervollständigen müssen“. Jetzt gehe es darum, „Señor Subcomandante“, die Kräfte zu bündeln für den gemeinsamen Weg zur Demokratie. War in den sechziger und siebziger Jahren noch la revolución oder auch ein socialismo à la mexicana die oft beschworene Zauberformel gewesen, so ist heute la democracia für linksliberale Intellektuelle wie Fuentes das neue gelobte Land. Deren Sympathie für die „bewaffneten Demokraten“ (Alain Touraine) aus dem Südosten ist in dem rechtsliberalen Lager um das von Paz gegründete Kulturmagazin Vuelta auf scharfe Kritik gestoßen. „Daß Marcos das Herz der gebildeten Klasse Mexikos erobert habe“, schreibt der junge Vuelta-Redakteur Aurelio Asiain, „ist ziemlich lächerlich“.
Doch Carlos Fuentes bleibt stur. In seinem jüngsten Text zum Thema nimmt er die Manie des Innenministeriums auf Korn, den legendären Subcomandante zum Zwecke der Entmystifizierung hartnäckig bei dessen – angeblich – bürgerlichem Namen Rafael Guillén zu nennen. Genausogut, so Fuentes, könne man dann künftig auch andere bekannte Persönlichkeiten wie Pancho Villa, Greta Garbo oder Pablo Neruda nur noch bei ihren Taufnamen nennen. „Marcos nur noch Guillén zu nennen, ist eine Art zu sagen: Sie gibt es ja gar nicht. Sie benutzen ja eine Maske. Lernen Sie lieber von uns PRI-Politikern, wir benutzen unsere Gesichter als Masken und führen die ganze Welt hinters Licht.“

Seitenwechsel

So kritisch ist der gelernte Diplomat allerdings nicht immer mit der Staatspartei, der Institutionell-Revolutionären PRI, ins Gericht gegangen. In den siebziger Jahren hatte er den damaligen Präsidenten Luis Echeverría offen unterstützt und sich von diesem sogar als Botschafter nach Paris schicken lassen. Erst mit dem marktliberalen Kurswechsel Anfang der Achtziger ging er auf Abstand zum autoritären PRI-Apparat. War ihm früher noch der big brother aus dem Norden der verhaßte Dinosaurier, so verfaßt er heute feurige Schriften zur Verteidigung des US-Präsidenten gegen Heuchelei und Puritanismus. Als „verwundeter Dinosaurier“ und Hindernis für die Demokratisierung bezeichnet Fuentes jetzt dagegen die – durch Wahlerfolge der Opposition arg angeschlagene – Regierungspartei.
Geblieben ist sein unbeirrbarer Glauben an die Möglichkeit eines „demokratischen Sozialismus“. Und es ist diese fast altmodisch anmutende Sturheit, darin europäischen Intellektuellen wie Grass und Debray nicht unähnlich, die den tiefen Graben zwischen dem Sozialdemokraten Fuentes und dem vehementen Antikommunisten Paz markiert. Hatte letzterer eindringlich vor Revolutionsromantik und „kommunistischem Totalitarismus“ gewarnt, so machte Fuentes lange Zeit aus seiner Begeisterung für die Revolutionen in Kuba und Nicaragua kein Hehl. Erst Ende der achtziger Jahre begann der erklärte Revolutionsromantiker, beim Genossen Castro „ein bißchen mehr Glasnost und Perestroika“ einzuklagen.
Doch auch vom in der Linken verbreiteten Katastrophismus hält Fuentes nicht allzu viel. Schon bei der Diskussion um das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA hatte er gegen die Panik vor dem drohenden Kulturimperialismus der USA und für – kulturell – offene Grenzen gestritten. Und in einem kürzlich geführten Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger José Saramago begegnet der Mexikaner dem unerschütterlichen Pessimismus des Portugiesen mit moderater Zuversicht. Die Globalisierung solle man, so Fuentes „akzeptieren und kontrollieren“. Gegen die beliebte These von der neoliberalen Krake, die sich mit Hilfe der gleichgeschalteten Massenmedien die Welt aneigne, setzt Fuentes sein schier unerschütterliches Vertrauen auf politischen Willen und Gestaltbarkeit – und nicht zuletzt auf die „Waffen der Kultur“.

Die entführte Sprache

Denn hinter dem Glauben an das machbare Gute, im Menschen und in der Welt, steht vor allem die Überzeugung von der Heilkraft des Literarischen. Beim Literaturfestival „Eine neue Geographie des Romans“, zu der er im März diesen Jahres prominente Vertreter der Weltliteratur geladen hatte, beschwor Fuentes seine Utopie: die Literatur als Retterin der Moderne, gegen „die falsche Glückseligkeit der Indifferenz und des Vergessens“. Die Kunst des Erzählens, mit seiner Pluralität der Zeichen und Sinngebungen, als Widerstand gegen die nahtlose Assimiliation in die ökonomische Welt und auch gegen „die
Entführung der Sprache“ durch die politische Klasse. Ein Plädoyer für Grenzüberschreitung in jeder Hinsicht: zwischen Imagination, Wirklichkeit und Realismus, zwischen den willkürlichen Grenzen der sogenannten Nationalidentitäten, für eine „Literatur der Differenz“, wandernd und verwurzelt zugleich. „Eine Gesellschaft ist krank, wenn sie glaubt, daß die Geschichte vollendet und alle Worte gesagt sind.“ Stattdessen biete die Dichtung den Menschen, als „unfertige Wesen“, die Tugenden des Aufbegehrens, des Zweifels und der Skepsis.
So ist Fuentes Intellektueller, Romancier und Meinungsmacher in einer Person, aber an verschiedenen Orten. In seiner Heimat entstehen vor allem Zeitungskolumnen, Vorträge, Essays – Einmischungen zur Gegenwart. Nach London, wo „die Leute kalt, das Essen schlecht und das Wetter fürchterlich“ sei, zieht sich der Mexikaner sechs Monate im Jahr zum eigentlichen Schreiben zurück. Auch als eine Art Flucht vor dem sozialen Wirbel um die Prominenz, in die Zweisamkeit mit seiner Ehefrau, der Journalistin Sylvia Lemus. „Alleine in London zu leben hat uns einander näher gebracht“, sagte er einmal in einem Interview. Und mit der Frau zu leben, die man liebe, sei schließlich „auch etwas sehr, sehr Wichtiges“. Auch literarisch beschäftigt sich der smarte Siebzigjährige zunehmend mit den Frauen. Sein neuer Roman „Los años con Laura Diaz“, der im Frühjahr erscheinen wird, basiert auf Gesprächen mit den eigenen Großmüttern, „den besten Geschichtenerzählerinnen der Welt“. Es ist die Saga der eigenen Familie, Einwanderer aus Deutschland und Spanien, die sich über hundert Jahre von den 1860ern bis zur Studentenbewegung 1968 erstreckt. Im Mittelpunkt steht Laura Diaz, ein weibliches Gegenstück zu Fuentes’ erster großen Romanfigur Artemio Cruz, dem Macho und Magnaten der Revolution, eine Art mexikanischer Citizen Kane. Diesmal aber geht es ihm um einen intimeren, weil weiblichen Blick auf die Geschichte seines Landes. Und wenn er mit dem Ergebnis zufrieden sei, vertraute Fuentes kürzlich gutgelaunt einem englischen Reporter an, dann werde er zu Lebzeiten nichts weiter veröffentlichen. Womit sicher nicht das letzte Wort gesprochen ist. Wie hatte der Meister bei seiner Rede im Frühjahr gesagt: „Noch sind wir nicht. Wir sind dabei, zu sein.“ Und auch Mexiko ist ein unfertiges Wesen.

Zapatistas gehen auf Reisen

In Chiapas wird es vorerst nicht zu einer Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Zapatistas und Regierung kommen. Dies war das enttäuschende Ergebnis des mit großen Hoffnungen erwarteten Treffens der parlamentarischen Befriedungskommission COCOPA mit 29 Delegierten der EZLN. Wenigstens wurde wieder ein Kontakt zwischen der aus Parlamentariern der vier wichtigsten Parteien gebildeten COCOPA und der EZLN hergestellt. Die COCOPA verfügt zwar über kein Verhandlungsmandat der Regierung, kann aber zumindest die abgerissene Kommunikation zwischen den Rebellen aus dem lakandonischen Urwald und der Regierung unter Präsident Zedillo von der seit 69 Jahren regierenden PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) in Mexiko-Stadt wiederherstellen.

Die EZLN stellt Bedingungen
Damit deutet sich eine leichte Entspannung der Lage in Chiapas an, die in den letzten Monaten von zahlreichen Übergiffen von paramilitärischen Gruppen und Armee-Einheiten auf die von den zapatistischen Basisgemeinden gebildeten „autonomen Landkreise“ geprägt war. Die Delegation der EZLN stellte gleich zu Beginn des Treffens mit der COCOPA klar, daß keine Gespräche mit einer Verhandlungskommission der Regierung möglich seien bis nicht fünf Minimalbedingungen erfüllt wären: Die Umsetzung des bereits im Februar 1996 zwischen Regierung und EZLN abgeschlossenen „Abkommens über indianische Rechte und Kultur“, die Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, die Entwaffnung und Auflösung der Paramilitärs, einen ernsthaften Regierungsvorschlag für weitere Verhandlungsrunden und die Präsentation einer Verhandlungskommission der Regierung, die mit den notwendigen Kompetenzen für den Dialog ausgestattet ist. Insbesondere in bezug auf das „Abkommen über indianische Rechte und Kultur“ zeigt sich die Regierungsseite aber unbeweglich. Dieses Abkommen hatte sie zwar im Februar 1996 unterzeichnet, weigert sich aber seitdem, einen Gesetzesvorschlag der COCOPA, der auf dem Abkommen basiert, im Parlament zu beschließen. Das Abkommen sieht weitreichende Autonomierechte für die 15 Millionen indigenen Einwohner Mexikos vor. Unter anderem sollen indianische Gemeinden nach ihrem traditionellen Rechtssystem verfahren dürfen und über die Nutzung natürlicher Ressourcen in ihren Territorien mitbestimmen dürfen.
Während das Treffen zwischen EZLN und COCOPA in einer angespannten und von gegenseitigen Vorwürfen geprägten Atmosphäre verlief, fand in San Cristóbal zeitgleich eine Versammlung von Repräsentanten sozialer Bewegungen und Oppositionsgruppen mit den Zapatistas statt, die von beiden Seiten als erfolgreich bezeichnet wurde. Die über 3.000 TeilnehmerInnen, die mehr als 400 Organisationen aus ganz Mexiko vertraten, waren auf Einladung der EZLN nach Chiapas gekommen. Damit mobilisierten die Zapatistas zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder die Kräfte der sogenannten „Zivilgesellschaft“, um eine gemeinsame Kampagne einzuleiten.
Das wichtigste Ergebnis der Versammlung mutet waghalsig an. In den kommenden Monaten sollen 5.000 Mitglieder der EZLN alle 2.500 Landkreise Mexikos besuchen. Jeweils eine Frau und ein Mann aus den Reihen der maskierten Rebellen werden in jeweils einem der Landkreise Versammlungen abhalten, die in einer Volksabstimmung über das „Abkommen über indianische Rechte und Kultur“ enden sollen. Ein genauer Termin für den Beginn der Reisen der Delegierten, die teilweise über 5.000 Kilometer zurücklegen müßten, um beispielsweise vom südöstlichsten Bundesstaat Chiapas an die Grenze zu den USA zu gelangen, wurde noch nicht genannt.

EZLN-VertreterInnen
in alle Gemeinden Mexikos?
Angesprochen auf die logistischen Schwierigkeiten des Reisevorhabens äußerte Comandante Tacho, ein Sprecher der EZLN, am Rande des Treffens in San Cristóbal: „Am schwierigsten ist es zu töten und zu sterben. Dagegen erscheint es uns nicht schwer, uns auf Zügen, Lkw, Pferden, Eseln, Mulis oder was auch immer auf die Reise zu machen.“
Die Versammlung in San Cristóbal beschloß zunächst, daß die EZLN Vorschläge für die zu stellenden Fragen formulieren soll. Außerdem soll sie die Abstimmungsmechanismen konkretisieren. Gleichzeitig verpflichteten sich die anwesenden Organisationen dafür zu sorgen, daß in jedem Landkreis Mexikos eine Informationsstelle eingerichtet wird, in der sich Interessierte über die Volksabstimmung informieren können.
Wie bereits im Herbst 1997, als 1111 Delegierte der EZLN einen Marsch in die Hauptstadt unternahmen, soll auch die neue Initiative dazu beitragen, daß der Konflikt in Chiapas auf zivile Weise gelöst werden kann. Comandante Tacho erklärte: „Der Dialog, den wir in diesen Tagen geführt haben, ist eine neue Möglichkeit, den Frieden zu suchen, ein Schritt im Kampf für die Anerkennung der indianischen Rechte und Kultur in der Verfassung und eine neue Anstrengung der Zivilgesellschaft und des Zapatismus, um dazu beizutragen, die schwere wirtschaftliche, politische und soziale Krise des Landes zu lösen.“ Ob sich die Regierung von der neuerlichen Initiative der Zapatistas beeindrucken läßt, darf bezweifelt werden. Innenminister Francisco Labastida Ochoa äußerte nach dem Ende der Versammlung in San Cristóbal, daß es sich bei den dort vertretenen Gruppen um „eine kleine Gruppe von Leuten, die nicht die Zivilgesellschaft vertreten“, gehandelt habe. Und der stellvertretende Regierungskoordinator für den Dialog, Alan Arias, meinte: „aus Sicht der Regierung ist der Kongreß für Verfassungsreformen zuständig.“

Boris Kanzleiter

Zeugnisse, Versionen, Lügen

Alle Jahre wieder, ist man versucht zu sagen, gehen die Überlebenden von Tlatelolco zusammen mit den SchülerInnen und StudentInnen von heute am 2. Oktober auf die Straße, um öffentlich an das Morden von 1968 zu erinnern und die alten Rufe nach Freiheit auf die herrschenden mexikanischen Verhältnisse zu beziehen. Alle Jahre wieder, so auch 1998 – und das Rituelle, die Gewohnheit, ja Müdigkeit, die in diesem Vers steckt, paßt auf die Tlatelolco-Demonstrationen und paßt doch zugleich kein bißchen. Die Routine in den Kolumnen, Reden, Fernsehinterviews und Aufrufen erzeugt den Eindruck, als sei alles gesagt, und es komme viel mehr darauf an, daß jeder Prommi seine Kolumne und sein Interview bekommt, als auf das, was er mitteilt. Wäre Tlatelolco eine offene Wunde, wie oft behauptet wird, dann könnten nicht so viele Menschen in aller Ruhe mit dieser Offenheit leben. Sie scheinen sich damit abgefunden zu haben, daß manches im Dunkel bleibt. Und doch steckt hinter dieser Gelassenheit eine Portion von Vergessen-wollen, denn Tlatelolco ist offen und nicht aufgeklärt, und Teile der derzeitigen politischen Elite sind die Erben und Beschützer der damaligen Hauptverantwortlichen. Der Umgang mit dem Massaker ist ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen politischen Geschehens; Tlatelolco ist noch nicht Geschichte. Die Zeile des Weihnachtsliedes wirkt wie Hohn.

Die Chance genutzt

Raúl Alvarez Garín, 1968 Repräsentant des Nationalen Streikrates CNH, der wichtigsten Organisation der mexikanischen Studentenbewegung, gab auf der Kundgebung am 2. Oktober bekannt, daß er am Vormittag desselben Tages eine gerichtliche Klage gegen die Schuldigen eingereicht hat. Das ist erstens neu und zweitens ein – indirektes – Ergebnis von Untersuchungen, die bis vor kurzem nicht möglich gewesen wären. Als die PRI bei den Wahlen am 6. Juli 1997 ihre absolute Mehrheit im Bundesparlament verlor, war erstmals der Weg zu einer parlamentarischen Untersuchungskommission über Tlatelolco frei. Am 2. Oktober 1997 auf Grund eines Antrags der Oppositionspartei PRD gebildet, endete ihre Tätigkeit ein Jahr später (die Präsentation des Abschlußberichts war für den 1. Oktober vorgesehen, sie hat sich allerdings bis nach Redaktionsschluß verzögert). Erstmals überhaupt konnten Personen, die nicht zum präsidentialen Machtzirkel gehörten, Archive einsehen, die Tlatelolco betreffen – ein wichtiger Schritt in einem Land, in dem es kein Gesetz über die Öffnung der Regierungsakten nach einem bestimmten Zeitraum gibt. Der Kommission wurden auch Dokumente aus anderen Ländern übergeben – von besonderem Interesse waren die Archive in den USA (CIA, FBI, Pentagon, State Department) –, sie konnte Anhörungen durchführen und Zeitzeugen einladen.
Allzu viel Begeisterung über die Erfolge der Kommission ist nicht angebracht. Das mexikanische Verteidigungsministerium hat seine Akten nicht bereitgestellt, angeblich aus Sicherheitsgründen für die, deren Verantwortung durch die Akten bewiesen würde. Andere Ministerien haben nur einen Teil der Akten zugänglich gemacht, ebenso wie die US-Archive. Und schließlich: Die Anhörungen von Regierungspolitikern jener Jahre waren ein Flop, die meisten haben sich geweigert auszusagen. Eine der wichtigsten Personen, der damalige Innenminister Luis Echeverría, hat im Februar aus der Anhörung ein peinliches Medienspektakel gemacht und so gut wie nichts gesagt.
Und dennoch: Die Weigerung hochrangiger Politiker, wichtige Dokumente herauszurücken, beweist endlich, daß es diese Papiere wirklich gibt – das war bis dahin nicht sicher. Einsatzpläne und Befehle der 68er Schlüsselfiguren existieren in schriftlicher Form. Nun muß dafür gesorgt werden, daß sie nicht verschwinden und so bald wie möglich an die Öffentlichkeit kommen.

Keine “kommunistische Verschwörung”

Die Kommission hat Ergebnisse erarbeitet, die nach dreißig Jahren mit den schlimmsten Verleumdungen gegen die StudentInnen aufräumen. Als die StudentInnenproteste Ende Juli 1968 begannen, begründete die Regierung unter Präsident Gustavo Diaz Ordaz das brutale Vorgehen der Polizei und den Einsatz der Armee mit folgender Version: Kommunistische Kräfte aus dem Ausland, angeblich aus Kuba und der Sowjetunion, hätten eine Verschwörung gegen die legitime Ordnung in Mexiko angezettelt, um eine Revolution zu provozieren, und sie hätten sich dazu den geeigneten Zeitpunkt ausgesucht: die Monate vor der Sommerolympiade. Deren Eröffnung am 12. Oktober stand nahe bevor und war für Mexiko ein Prestigeprojekt ohnegleichen. Mexiko war das erste Land der „Dritten Welt“, das die Olympiade austragen durfte. Unzweifelhaft, daß sich Diaz Ordaz tatsächlich vor einem kommunistischen Umsturz fürchtete, aber die Aktionen und Forderungen der StudentInnen hatte er falsch verstanden. In ihrer großen Mehrheit verlangten sie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung – Forderungen, die allesamt im Rahmen der Verfassung umzusetzen gewesen wären. Die Verschwörungspropaganda war wenig mehr als der – geglückte – Versuch der Regierung, Reformforderungen und einen öffentlichen Dialog abzublocken.
Die Kommission hat aus den Dokumenten, vor allem denen aus den USA ersehen können, daß es keinerlei Einflußnahme von außen auf die StudentInnenbewegung gegeben hat: Die Verschwörungsthese ist passé. Die ungeheuerliche Behauptung, die StudentInnen seien an der Repression selbst schuld, ist widerlegt – absurd war sie, seit sie aufgestellt wurde.
Im August und September ‘68 erlebten die StudentInnen Wochen des Aufbruchs und der Freiheit. Anfang August wurde der Consejo Nacional de Huelga (CNH) gegründet, ein Koordinationsgremium, in dem alles öffentlich diskutiert und abgestimmt wurde – eine komplett neue Erfahrung in einem Land, das durch Weisungen, Bestechung und Repression regiert wird. Auf der anderen Seite die Brigaden, einige Dutzend kleine Gruppen, die Blitzmeetings in der Stadt abhielten, Flugblätter verteilten, Leute mobilisierten. August und September mit riesigen, mehrere hunderttausend TeilnehmerInnen zählenden Demonstrationen, gelten als Zeit der eigentlichen, friedlichen Bewegung. Aber gänzlich friedlich war sie nicht. Jorge Hurtado Poo, damaliger Student und in den 70er Jahren Mitglied der Guerilla-Einheit 23 de septiembre, sagte vor der Kommission aus und erklärte, daß sich seine Brigade bereits nach der Repressionswelle Ende Juli bewaffnet hatte. Über leichte Kaliber ging das nicht hinaus, die Brigade zählte sechs Leute, und die Pistolen sollten lediglich zur Verteidigung dienen, dennoch: Am Mythos von den unschuldigen StudentInnen hat es gebröckelt. Weitere Fälle von Bewaffnungen sind allerdings bisher nicht bekannt geworden.
Besonders intensiv wurden die entscheidenden Tage um den 2. Oktober ausgeleuchtet. Der Rahmen war bekannt: die Besetzungen von Universität und Polytechnischem Institut in der zweiten Septemberhälfte durch die Armee, dann der Abzug der Soldaten aus der Universität und erste offizielle Gesprächsangebote seitens der Regierung; die StudentInnen schienen auf einen Erfolg zuzusteuern. Kurz vor der Olympiade, die JournalistInnen aus aller Welt befanden sich schon vor Ort, war ein gewaltsames Ende unwahrscheinlich.

Die Ereignisse

Am Morgen des 2. Oktober fand in der Universität ein Gespräch zwischen StudentInnen- und Regierungsvertretern statt, in dem die Aufnahme von Verhandlungen für den 3. Oktober vereinbart wurde. Dieses Ergebnis sollte auf dem Meeting am späten Nachmittag bekanntgegeben werden, zu dem sich auf dem Platz der Drei Kulturen, in der neuerrichteten Plattenbausiedlung Tlatelolco unweit des historischen Stadtzentrums, etwa 5000 Menschen trafen. Armee und Polizei hatten im Laufe des Tages bereits leerstehende Wohnungen in den umliegenden Häusern besetzt, den Platz teilweise umstellt, und Krankenhäuser waren auf die Aufnahme von Verletzten, Gefängnisse auf Verhaftete vorbereitet worden. Dieser Widerspruch zwischen Entgegenkommen und zugleich geplanter Repression gibt nach wie vor Rätsel auf. Die einen – wie Armando López von der PRD, Mitglied der Untersuchungskommission – gehen von separaten Gruppen im Regierungslager aus, die um die Macht und den nächsten Präsidentschaftskandidaten kämpften. Andere, wie der Historiker Ilán Semo von der Universidad Iberoamericana, meinen, das Dialogangebot habe lediglich dazu dienen sollen, daß der CNH Vertrauen schöpft und einzelne Repräsentanten hervortreten, die dann leichter verhaftet werden könnten; darüber, daß die Bewegung vernichtet werden müsse, habe im Machtapparat nie Zweifel bestanden.
Wer wann was befohlen hat, ist noch nicht klar. Sicher ist – das hat ein Dokument ergeben –, daß Innenminister Luis Echeverría der Armee befohlen hat, den Platz nach dem Meeting zu räumen. Ein Schießbefehl ist das nicht, und er kann das sowohl im Einvernehmen mit Diaz Ordaz oder aber in Konspiration gegen ihn angeordnet haben. Fakt ist, daß Echeverría wichtige Entscheidungen getroffen hat, was er derzeit in Interviews leugnet. Er weist alle Verantwortung dem (1979 gestorbenen) Präsidenten zu, der laut Verfassung Oberbefehlshaber der Armee ist.
Von besonderer Bedeutung für die gegenseitigen Schuldzuweisungen am Massaker war stets der erste Schußwechsel.

Der erste Schuß

Die Tatsache, daß der erste Verletzte ein Militär war und kein Student, wurde offiziellerseits als Begründung für den Waffeneinsatz herangezogen: Notwehr gegen bewaffnete StudentInnen. Umstritten war die Rolle einer geheimen Armeeeinheit, des Batallón Olímpia (so genannt wegen der eigentlichen Aufgabe, die Olympiade zu bewachen). Das Batallón Olímpia hatte sich zivil gekleidet und trug versteckte Pistolen – beides verstößt gegen internationales Kriegsrecht, die Verantwortlichkeit für diese Maßnahme ist daher besonders brisant. Die Militärs hatten sich in einem Gebäude verschanzt, das an den Platz grenzt, sie nahmen nach dem Meeting den kompletten CNH fest, der von dem Gebäude aus die Versammlung geleitet hatte, und beteiligten sich an dem Massaker. Seit vor einigen Monaten Filmaufnahmen bekannt wurden, die den Beginn der Auseinandersetzungen festgehalten haben, steht fest: Nicht die StudentInnen haben als erste geschossen, sondern Mitglieder des Batallón Olímpia. Die angeblichen Waffenfunde, die die Regierung als „Beweise“ für die studentische Aggression nach dem Massaker vorgelegt hat, stimmen außerdem mit der Munition der ersten Schüsse nicht überein.
Die diversen Erkenntnisse über Verantwortlichkeiten von den damals mächtigsten Politikern und über die vorsätzliche Verwicklung des Militärs in den Massenmord liefern das Fundament dafür, daß eine Gruppe ehemaliger CNH-Repräsentanten am 2. Oktober ‘98 Klage einreichen konnte. Wenig vorher, am 21. September, hatte Cuauhtémoc Cárdenas Stellung zu Tlatelolco bezogen.

Schmusekurs mit dem Militär

Cárdenas, seit knapp einem Jahr erster direkt gewählter Bürgermeister von Mexiko-Stadt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit Präsidentschaftskandidat der PRD bei den Wahlen im Juli 2000. In seiner Rede in der Universidad Iberoamericana forderte er eine vorbehaltlose Aufklärung der Ereignisse von Tlatelolco, die Öffnung aller Archive und Prozesse gegen die Schuldigen, zugleich sprach er jedoch die Armee als Institution von der Schuld am Massaker frei. Tlatelolco habe einen verhängnisvollen Gegensatz zwischen der studentischen und der militärischen Jugend aufgebaut, der den 68er-Tatsachen nicht entspreche. Cárdenas’ Rede fand breite Zustimmung, sie wurde als Zeichen der Versöhnung gewertet. Zugleich hat sie eine Diskussion um Befehle und Gehorsam in Gang gebracht, in der Cárdenas von Kritikern vorgeworfen wird, die Verantwortung für den Mord an wehrlosen StudentInnen sei nicht einfach auf den Oberbefehlshaber abzuschieben. Hier liegt eine der Schwachstellen in Cárdenas’ Argumentation. Die Armee als Institution ist in extrem schlechtem Zustand, für den sie auch als Institution verantwortlich ist: Die Soldaten sind schlecht ausgebildet und stammen zumeist vom Land. Sie sind mit unsinnigen Feindbildern ausgestattet. Darüber hinaus ist die Erinnerung an die straflos gebliebenen Massaker der letzten Jahre wach, Aguas Blancas, Acteal und andere. Die Äußerungen des Generalssohns Cárdenas dürften durchaus auch wahlpolitisch gemeint gewesen sein. Für eine Präsidentschaftskandidatur ist ein gutes Verhältnis zum Militär natürlich von Vorteil. Tlatelolco ist nicht nur Geschichte, sondern auch politisches Argument.
Auf der anderen Seite, bei Präsident Zedillo, herrscht bezüglich Tlatelolco eisiges Schweigen. Kein Wort darüber in seinem jährlichen Regierungsbericht, den er am 1. September vorlegte (darin unterließ er übrigens auch jeden Kommentar über den Konflikt in Chiapas). Zedillo ist als Oberbefehlshaber der Armee persönlich und direkt dafür verantwortlich, daß die Archive des Verteidigungsministeriums nicht geöffnet werden. Und auch am 2. Oktober zeigte er die kalte Schulter. Während auf dem Dach der Stadtregierung die Fahne zum Gedenken an die Opfer von Tlatelolco auf Halbmast stand, wehte der grün-weiß-rote Lappen vom schräg gegenüberliegenden Nationalpalast genauso wie am riesigen Mast in der Mitte des Zócalo ganz oben.

Eine gruselige Geschichte

Einige Zeitungen und Fernsehsender kamen dieser Mischung aus Trivialisierung und Beschweigen durchaus entgegen. Tlatelolco erscheint hier – zum Beispiel in den Reportagen der Fernsehgesellschaft Televisa – als gruselige Geschichte vergangener Zeiten, mit denen die Realität des heutigen Mexiko nichts mehr zu tun habe.
Aber auch die, die von der 68er-Repression persönlich betroffen waren, insbesondere ehemalige CNH-Repräsentanten, sind in ihrem öffentlichen Erinnern gespalten. Es haben sich zwei Gedenkorganisationen gebildet, das Comité 1968-1998 und La Nave Va (etwa: „Das Schiff fährt“). Die politischen Positionen unterscheiden sich entlang alter Fronten. Während das Comité eher die demokratisch-reformerische Linie vertritt, versteht sich La Nave Va als libertär-revolutionär. Entsprechend ist das Comité eng mit der PRD verknüpft und sieht in deren Wahlerfolgen auch einen Erfolg der StudentInnenbewegung von 1968. La Nave Va besteht hingegen darauf, daß sich die Verhältnisse keineswegs verbessert, sondern noch verschlechtert hätten.
Der Marsch am 2. Oktober ´98 war nicht von wiederbelebten Grabenkämpfen der 50- bis 60jährigen bestimmt, sondern von Leuten unter 20. In Sprechchören mit den Slogans ihrer jeweiligen Schulen verschafften sie sich Aufmerksamkeit und verbanden so Tlatelolco mit ihrer Präsenz hier und heute. Bis auf die erste der Reden auf der Kundgebung, gehalten von Raúl Alvarez Garín, blieben die Forderungen und Botschaften des Marsches jedoch weitgehend schwach. Auch Sub Marcos, der eine Grußbotschaft geschickt hatte, trug wenig mehr bei als die Gemeinplätze, die eh allerorten kursieren. Die Mobilisierung von Zehntausenden jedes Jahr, die machtvolle Präsenz am 2. Oktober, die immer wiederkehrende Aufforderung, Tlatelolco nicht zu vergessen und der Ruf nach Freiheit und Demokratisierung – all das ist wichtig, damit der Massenmord nicht zu einer Schauergeschichte der Vergangenheit verkommt. Jetzt steht dennoch auf der Tagesordnung obenan, daß alle 1968 betreffenden Archive öffentlich zugänglich gemacht, daß die Befehlshaber von damals belangt werden und die Rolle des Militärs aufgeklärt wird. Dann könnte 1999 der Vers “Alle Jahre wieder” wirklich überflüssig werden.

KASTEN:
30 Jahre Canoa

Canoa ist ein Dorf in der Nähe von Puebla, östlich von Mexiko-Stadt. Am 15. September 1968 wurden hier fünf junge Männer aus Puebla von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht. Zwei von ihnen überlebten schwerverletzt, die anderen drei starben. Der Kazike im Dorf, der Priester, hatte seine Leute fest im Griff. Er hämmerte ihnen ein, daß die StudentInnen, die die mexikanische Hauptstadt seit Wochen in Bewegung hielten, die Inkarnation des Teufels waren: Kommunisten, Gottlose, Umstürzler, Feinde der guten Ordnung. Auch in Puebla hatten sie sich schon bemerkbar gemacht, und nun kamen sie nach Canoa.
Mit politischer Propaganda hatten die fünf Männer nichts im Sinn, sie wollten lediglich übernachten, um am nächsten Morgen auf einen Berg in der Nähe zu steigen. Sie waren Angestellte an der Universität Puebla – keine StudentInnen, aber das Reizwort Universität reichte bereits aus, daß der Priester das Dorf gegen die vermeintlichen Feinde mobilisierte. Von der hysterischen Menschenmasse wurden sie überfallen und mißhandelt. Die herbeigerufene Polizei wurde lange am Betreten des Dorfes gehindert, bis sie sich schließlich durchsetzte und zwei Überlebende retten konnte.
Canoa ist Geschichte: eine abseitige Episode im Konflikt zwischen StudentInnen und Staat, bezeichnend – wenn auch nicht beispielhaft – für die Wucherungen eines öffentlich propagierten, blind-schematischen Antikommunismus.
Canoa ist auch ein Film, 1975 von dem mexikanischen Regisseur Felipe Cazals mit äußerst knappen Mitteln gedreht. Cazals hatte die Hergänge des 15. September genau recherchiert, Gespräche mit Beteiligten geführt und die beiden Überlebenden zur Teilnahme an den Aufnahmen bewegen können, stellenweise spielen sie sogar mit. Der Film, der übrigens auf der Berlinale einen Silbernen Bären gewann, ist eine spannende künstlerische Auseinandersetzung mit historischen Begebenheiten. Er bewegt sich auf dem Grat zwischen Authentizität, die lediglich durch die Glaubwürdigkeit des Regisseurs und seines Teams hergestellt wird, und Inszenierung.

Der Film wurde seinerzeit heftig kritisiert – natürlich von der Rechten, insbesondere von einigen Kirchenleuten, aber auch von Linken wie den Schriftstellern Jorge Ibargüengoitia und Ricardo Garibay. Sie warfen Cazals vor, daß der Film die Polizei reinwasche, die am Schluß die letzten Morde verhindern konnte. Später gaben sie zu, daß sie den Falschen beschuldigt hatten.
Im Kino war der Film ein großer Erfolg, auch und gerade in Puebla, das den Ruf hat, besonders konservativ und katholisch zu sein. Kürzlich wurde der Film im Rahmen des Programms „Klassiker des mexikanischen Kinos“ restauriert und läuft seit Mitte September wieder in den Filmsälen.

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