“An der Seite der PRI”

Mit rücksichtsloser Brutalität hatte Fidel Velázquez Zeit seines Lebens Opponenten verfolgt und die mexikanische Gewerkschaftsbewegung der seit 1929 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) bedingungslos untergeordnet. Im Januar 1994, während des zapatistischen Aufstands, exponierte er sich als Scharfmacher und forderte öffentlich: “Exterminiert sie!”. Das Ende der unbeschränkten PRI-Herrschaft und Fidels Tod im Frühjahr dieses Jahres fallen nun in einer merkwürdigen Symbolik zusammen. Heute besteht für Mexikos Gewerkschaftsbewegung erstmals die Chance, eine selbständige und unabhängige Kraft zu werden. Eine Chance allerdings, die bisher noch kaum genutzt wurde.

Jeden Tag einen neuen Job

Die Bilanz der Gewerkschaftspolitik unter Velázquez’ Ägide sieht desaströs aus: Die Kaufkraft der Löhne verringerte sich seit 1977 um beinahe unglaubliche 75 Prozent. Vor zwanzig Jahren konnte ein Arbeitnehmer also viermal mehr Waren mit seinem Lohn einkaufen als heute. Nach Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INEGI kommen 65 Prozent der ArbeitnehmerInnen nicht in den Genuß von Sozialleistungen, Urlaub oder Zulagen, und 20 Prozent verdienen weniger als den staatlich festgelegten Mindestlohn. Der durchschnittliche Stundenlohn im verarbeitenden Gewerbe liegt bei 1,45 US-Dollar. Zum Vergleich: In den USA sind es 13 US-Dollar.
Dabei ist es südlich des Rio Bravos heute ein Privileg, überhaupt in einem Lohnarbeitsverhältnis zu stehen. In den Städten versuchen sich bis zu 40 Prozent der Menschen im informellen Sektor durchzuschlagen: Kaugummis verkaufen, Windschutzscheiben putzen, fliegender Handel – jeden Tag ein neuer Job, um sich über Wasser zu halten. Mexikanische ArbeitnehmerInnen sind unterbezahlt, arbeiten meist über 50 Stunden die Woche und verfügen kaum über soziale Absicherungen im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit. Kinderarbeit ist keine Ausnahme, vier von zehn Kindern beenden nicht einmal die Grundschule.

Applaus für T-Shirts

Nun darf man sich den CTM und die zahlreichen anderen “offiziellen” Gewerkschaften, die im PRI-loyalen Dachverband CdT (Congreso del Trabajo) zusammengeschlossen sind, nicht als Gewerkschaften im westeuropäischen Sinne vorstellen. Sie dienen nicht der Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern fungieren vielmehr als Transmissionsriemen der PRI. Wer beispielsweise in einem Betrieb arbeiten möchte, muß meist zuerst in die CTM eintreten bevor er angestellt wird. Die Unternehmen gewähren der CTM ein Vertretungsmonopol der Beschäftigten und im Gegenzug garantiert die CTM dem Unternehmen die Disziplinierung und Unterordnung der Beschäftigten. Korruptionsgelder halten das System zusammen. Charrismo heißt in Mexiko der Begriff, mit dem diese Gangstermethoden bezeichnet werden.
Damit nicht genug: Tritt ein Beschäftigter in die CTM ein, wird er automatisch PRI-Mitglied, denn die CTM und die Organisationen des CdT sind Untergliederungen der Partei und organisieren heute noch etwa 25 Prozent der Arbeitnehmer. Bei den großen Wahlkampfveranstaltung werden Mitglieder-Kontingente mit Bussen herangekarrt und müssen für ein T-Shirt und ein paar Pesos dem jeweiligen Kandidaten der PRI Applaus spenden. Ähnlich funktionieren in Mexiko Bauernverbände und Stadtteilorganisationen der PRI.

Die Zeiten der Totalkontrolle sind vorbei

Doch die Zeiten der totalen Kontrolle sind vorbei. Der PRI-Korporativismus in der Gewerkschaftsbewegung zerfällt mit der Partei. Das sichtbarste Zeichen dafür waren die tumultartigen 1. Mai-Feiern der letzten drei Jahre. Früher sah es am Tag der Arbeit in Mexiko ähnlich ordentlich aus wie in Ost-Berlin oder Moskau. Hunderttausende defilierten im Gleichschritt fahnenschwenkend vor dem Regierungspalast an einem Podest vorbei, auf dem der Präsident und die PRI- und Gewerkschaftsführung “Volksverbundenheit” demonstrierten. Seit 1990 verweigert die Arbeiterklasse der DDR das Schauspiel, ihre russischen Kollegen zogen 1992 nach und auch in Mexiko ist das Ritual seit 1995 aus der Mode gekommen. Damals wurde die Maiparade abgesagt, weil Präsident Zedillo fürchtete, er würde von der eigenen Parteibasis gnadenlos ausgepfiffen werden – die schwerste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren war gerade fünf Monate alt. Die Stimmung scheint sich nicht gebessert zu haben, denn seither gibt es keine offiziellen Maiveranstaltungen unter freiem Himmel mehr, und selbst bei der Saalkundgebung im Auditorio Nacional dieses Jahr hörten die versammelten PRI- und CTM-Funktionäre ein tumultartiges Buh-Geschrei als Leonardo Rodríguez Alcaine, der Nachfolger Fidel Velázquez, sagte: “Unsere Überzeugungen stellen uns an die Seite der PRI.”
Die Maidemonstration wird in den letzten zwei Jahren nun von oppositionellen und von der PRI unabhängigen Gewerkschaften ausgerichtet. Innerhalb des CdT hat sich mittlerweile eine Oppositionsströmung mit dem Namen Foro Sindicalista Frente la Nación gebildet, die von Francisco Hernández Juárez von der Telefonarbeitergewerkschaft, Pedro Castillo von der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft und Elba Esther Gordillo, der ehemaligen Präsidentin der LehrerInnengewerkschaft, angeführt wird. Diese ehemaligen PRI-Anhänger gehen nun auf Distanz zum neoliberalen Kurs ihrer Partei. In den letzten Monaten sind auch unabhängige Gewerkschaften wie die STUNAM (Universitätsangestellte der UNAM) oder die FAT (kleine linksorientierte Gewerkschaftszentrale), die ihre Wurzeln in oppositionellen Strömungen der 70er Jahre haben, ins Foro eingetreten, so daß sich das Foro zu einer ernsthaften oppositionellen Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln scheint. Auch innerhalb der CTM formiert sich eine Opposition, die sich 1998 auf dem nächsten Kongreß der Organisation artikulieren wird.
Gleichzeitig ist Vorsicht angezeigt, denn die Abwendung von Führern ehemaliger Charro-Gewerkschaften von der zerfallenden PRI kann auch nur durch ihr Eigeninteresse motiviert sein. Und außerdem: Unter den Bedingungen der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, des sich verschärfenden Druckes am Arbeitsplatz und des Abbaus der Reallöhne ist es nicht leichter geworden, die Beschäftigten in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren. Ganz im Gegenteil: Wie Adriana Guadalupe Valenzuola Ruíz, eine Maquiladora-Arbeiterin in Tijuana sagt: “Wer sich hier organisiert, wird als Unruhestifter rausgeschmissen. Draußen warten Tausende auf deinen Job.”

Die PRI am Pranger

Unter den reaktionären Greisen der Staatspartei PRI herrscht seit Anfang Oktober 1997 helle Aufregung. Ausgelöst durch die im Juli des Jahres erlittene Wahlniederlage – die linken PRD und die rechtskonservative PAN verfügen nun im Parlament zusammen über die Mehrheit der Sitze – werden sie, die sich jahrzehntelang als Herren und Schreiber der Geschichte wähnten, von der Vergangenheit eingeholt. Das in fast jeder Hinsicht schwer unter einen Hut zu bringende Paar aus PRD und PAN ist sich in einem Punkt einig: Die seit 29 Jahren verschlossenen Regierungsarchive müssen geöffnet werden, um das am 2. Oktober 1968 von der staatlichen Soldateska an ungezählten DemonstrantInnen verübte Massaker aufzuklären.
Diese notwendige und brisante Ankündigung des PRD-Politikers Pablo Gómez verliert allerdings dadurch an Wirkung, daß „auf die Benennung von Verantwortlichen“ verzichtet werden soll. Gleichzeitig wirft diese Tatsache ein treffendes Licht auf den Zustand der „Demokratie“ in Mexiko. Die Angst der regierenden Clique davor, wenigstens für das größte ihrer Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, wird spürbar.
Denn noch immer ist die genaue Zahl derjenigen, die auf dem Platz der Drei Kulturen von MG-Schützen durchsiebt wurden, unbekannt. Auf 300-1000 Ermordete belaufen sich die Schätzungen nichtstaatlicher Untersuchungen. Fest steht jedoch, daß die Leichen später von der Luftwaffe über dem Golf von Mexiko abgeworfen wurden.

Düsteres Szenario

Das kürzlich in der BRD erschienene Werk des bekannten mexikanischen Kriminalautors besteht aus zwei Teilen. Den Einstieg bildet „1968“, eine Chronologie der StudentInnenbewegung von Juli bis Oktober 1968. PIT II beschreibt, analysiert und bewertet das Erstarken einer Protestwelle, in deren Strudel er selbst mitgerissen wird: Streiks, schwarz-rote Fahnen, Spraydosen, Sprechchöre, Vollversammlungen, Flugblätter, überquellende Aschenbecher, durchgemachte Nächte, aufgeworfene Fragen, verwirrende Diskussionen, Schlägertrupps, Polizeieinsätze, Tränengas, Schlagstöcke, Tränen und Blut. Ohne auf alle Fragen Antworten suchen zu wollen, zeichnet der Schriftsteller ein Bild der mexikanischen Hauptstadt, das fühlbar wird – nicht zuletzt durch die starken emotionalen Passagen. Entschlossen subjektiv, mit spürbarem Haß, arbeitet er die Zeit des Aufbruchs auf. Von Seite zu Seite steigt die Spannung, nimmt die Dramatik zu, bis schließlich – als ungewisse Bedrohung von Anfang an jede Zeile begleitend – die MP-Garben in Tlatelolco alle Träume und Utopien zerhacken. „Aufwachen“, scheint uns der Autor anzuschreien, „das ist Mexiko!“ Wie Schläge treffen die kurzen Spots, mit denen PIT II den Terror der PRI-Armada und die Ohnmacht der Unterdrückten skizziert. Verhaftungen, immer mehr Verhaftungen, Flucht, Folter, Mord – eine gnadenlose Abrechnung.
Nach diesen ersten 60 doch sehr frostigen Seiten wird es versöhnlicher. Nicht im Sinne von Versöhnung mit der Diktatur, keineswegs. Es ist vielmehr der Stil, welcher „Gerufene Helden. Ein Handbuch zur Eroberung der Macht“, den zweiten Teil des Buches, von den vorangegangenen Zeilen unterscheidet. Weniger dokumentarisch, dafür durch den Einbau fiktiver Elemente oft humoristischer, durchstreifen wir die Jahre nach dem Massaker. Dabei begleiten wir den Journalisten Paco Ignacio Taibo II bei Recherchen in zwielichtigen Etablissements, sind überrascht, daß plötzlich Sherlock Holmes auftaucht und erleben ungläubig einen Angriff von Mescalero-Apachen in Mexiko-Stadt. Absolut lesenswert.

Paco Ignacio Taibo II. „1968/Gerufene Helden“. Verlag Libertäre Assoziation und Schwarze Risse / Rote Straße, Hamburg/Berlin 1997, 154 Seiten.

Was heißt hier Demokratisierung?

Zehn Jahre konstante Organisationsarbeit und beinahe 600 ermordete Mitglieder der PRD hat es im PRI-Staat gekostet, bis die Gallionsfigur der linken Opposition ein öffentliches Amt einnehmen konnte. Am 5. Dezember trat in Mexiko-Stadt mit Cuauhtémoc Cárdenas zum ersten Mal ein frei gewählter Bürgermeister sein schwieriges Amt an. Nur drei Tage später – im Gegensatz zu den Ereignissen in Mexikos Hauptstadt ohne jede öffentliche Beachtung – wurde in Brüssel ein Rahmenabkommen über die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Mexiko geschlossen. Nach seiner Ratifzierung durch die nationalen Parlamente wird es die erste Freihandelszone zwischen der EU und einem lateinamerikanischen Land herstellen. Daß dieses Ereignis spurlos an den Medien vorbeiging, muß verwundern, da sich am 1. Januar der zapatistische Aufstand zum vierten Mal jährt, der sich mit weltweit beachteter Vehemenz nicht zuletzt gegen ein anderes Freihandelsabkommen richtet, den NAFTA-Vertrag zwischen den USA, Kanada und Mexiko, der zum Jahreswechsel ebenfalls vier Jahre alt wird. Es gibt also mehr als einen Grund, gerade jetzt einen Blick nach Mexiko zu richten.
Die Bilanz von NAFTA ist aufschlußreich: Mehr als sechs Millionen MexikanerInnen droht heute laut der Nationalen Kommission für Ernährung der Hungertod, weshalb die Welternährungsorganisation FAO 1998 zum ersten Mal ein Notprogramm zur Nahrungsmittelverteilung in besonders betroffenen indigenen Regionen auflegen wird. Gleichzeitig lebten in Mexiko noch nie so viele Milliardäre, die, wie Carlos Slim – mit sechs Milliarden US-Dollar Privatvermögen der reichste Mann Lateinamerikas – ihren Reichtum dank NAFTA und der neoliberalen Wirtschaftspolitik seit Beginn der 80er Jahre anhäufen konnten. Neben einigen wenigen MexikanerInnen profitierte jedoch vor allem das transnationale Kapital von den Reformen. So nimmt es nicht Wunder, daß sich europäische Wirtschaftspolitiker und Industrielle zunehmend für Mexiko interessieren – schließlich soll der Kuchen nicht allein den US- und ostasiatischen Konzernen überlassen werden. Weitgehend im Stillen wurde das Rahmenabkommen ausgehandelt, das in seiner Wirkung weit über Mexiko hinausgehen wird. Das Land soll europäischen Konzernen als Brückenkopf dienen, um stärker in die amerikanischen Märkte vorzudringen. Die mexikanische Ökonomie steckt hingegen in einer schweren Krise: Während Außenverschuldung und Inflation seit 1994 stiegen, fielen Wachstumsraten und Löhne.
Die sozialen Auswirkungen der Handelsliberalisierung in den nordmexikanischen Billiglohnfabriken oder bei der auch mit deutschem Kapital geplanten Umstrukturierung des Isthmus von Tehuantepec ist ebenso Thema dieses Heftes wie ihre politischen Konsequenzen für die Gesellschaft. Die seit 1929 regierende PRI zerfällt. Neue politische Freiräume entstehen, die nicht zuletzt den Wahlsieg Cárdenas’ ermöglicht haben. Ob damit allerdings ein tiefgreifender Demokratisierungsprozeß verbunden ist, wie die PRI-Politiker stets betonen, stellen wir in Frage. Denn Menschenrechtsverletzungen und Straflosigkeit nehmen, wie zuletzt amnesty international warnend feststellte, nicht nur im rebellischen Chiapas zu.
Der deutsche Kanzler und der mexikanische Präsident scheinen sich gut zu verstehen. Letztes Jahr weilte Helmut Kohl in Mexiko, im Herbst kam Ernesto Zedillo auf Visite nach Deutschland. Wenn sich die Mächtigen zweier Länder zusammentun, hat dies nichts Gutes zu bedeuten. Umso dringlicher wird es dann, von unten etwas entgegenzusetzen. Wir hoffen, daß dieses Heft ein Beitrag dazu ist.

Das langsame Sterben des Dinosauriers

Vielleicht kann man den Umbruch nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Mexiko noch vor zwanzig Jahren regiert wurde. Eine allmächtige Staatspartei kontrollierte Gesellschaft, Medien, politische Organisationen und beherrschte das Land mit ihrem Konzept der „repressiven Integration“. Sozialen und politischen Protest hielt sie nieder durch kleine Konzessionen, große Gesten, die Korruption seiner Protagonisten und, wenn die Integration versagte, durch die Ausschaltung der führenden Aktivisten. Die PRI, das war der große Dinosaurier, der aus einer Allianz lokaler Revolutionscaudillos hervorgegangen war, die das Land nach langem Bürgerkrieg befrieden wollten. Politisch reaktionär war das Regime nur in bezug auf Bürgerrechte und demokratische Freiheiten, in sozialer Hinsicht aber bot der Dinosaurier den Mexikanern ein angenehmeres Leben als vielen Lateinamerikanern vergönnt war. Und außenpolitisch positionierte sich das Regime auf die Seite der nationalen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas gegen die reaktionären Diktaturen der Militärs anderer Länder und den mächtigen Nachbarn mit seinen imperialen Ansprüchen im Norden.

Bewegung im Jurrasic Park

Doch in den letzten Jahren kam Bewegung in den Jurrasic Park des PRInosauriers. Der zapatistische Aufstand Anfang 1994 katapultierte Mexiko auf einmal als Unruheherd in die Weltpresse, wo rebellierende Kleinbauern vom Militär niedergeschlagen werden. Und in diesen Tagen übernimmt mit Cuauhtémoc Cárdenas zum ersten Mal ein linksoppositioneller Politiker die Regierungsgewalt im strategisch wichtigen Hauptstadtdistrikt Mexiko D.F. Oft wird nun vom „Demokratisierungsprozeß“ gesprochen, den das Land durchlaufe. Hoffnung macht sich breit. Wer aber von oberflächlicher Betrachtung Abschied nimmt, wird schnell erkennen, daß hier eher der Wunsch Vater des Gedankens ist. Den Zerfall der PRI-Kontrolle mit einer Demokratisierung der Gesellschaft gleichzusetzen, greift zu kurz. Es handelt sich vielmehr um einen vielgesichtigen Wandlungsprozeß, dessen einzige Konstante seine Widersprüchlichkeit ist. Einerseits entstehen neue und größere Freiräume, andererseits aber kommt es zu gesellschaftlicher Desintegration, der Formierung neokorporativistischer Beziehungen und neuen Kontrollmechanismen, die nicht sympathischer sind als die alten.
Das offensichtlichste Phänomen der gefährlichen Desintegration ist der Anstieg sozial und politisch motivierter Gewalt. An der Nordgrenze zu den USA liefern sich Mafiaclans, die um die Kontrolle des Drogenmarktes konkurrieren, tägliche Showdowns. Der Alltag in Tijuana etwa läßt die Fiktionen von Blade Runner und Mad Max real werden. In der Hauptstadt-Metropole sind bewaffnete Raubüberfälle in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße mittlerweile unspektakuläre Normalität. Gleichzeitig weisen die Statistiken einen deutlichen Anstieg von Menschenrechtsverletzungen mit politischem Hintergrund aus. 563 Aktivisten allein der linksorientierten PRD (Partei der Demokratischen Revolution) sind seit ihrer Gründung 1988 von Polizei, Militär, Weißen Garden oder Killern umgebracht worden, davon fast die Hälfte in den letzten drei Jahren unter dem Regime Präsident Zedillos. (2) Im gleichen Zeitraum sind 67 Journalisten ermordet worden, nach Kolumbien die höchste Zahl in Lateinamerika. (3) Ungezählt sind die Inhaftierten, Gefolterten und Ermordeten der zahlreichen sozialen und politischen Oppositionsgruppen außerhalb der PRD. Allein die Mitgliedsgruppen der an einer traditionellen Linken orientierten FAC-MLN (Breite Front zum Aufbau der Nationalen Befreiungsbewegung) beklagen über 500 politische Gefangenen und in Chiapas ermorden Paramilitärs täglich rebellierende Campesinos und Indígenas. Dabei bleiben die meisten Morde ungesühnt, obwohl die Verantwortlichen bekannt sind. Rubén Figueroa Alcocer beispielsweise, der ehemalige Gouverneur von Guerrero und zweifelsfreie Drahtzieher des Massakers an 17 oppositionellen Bauern in Aguas Blancas, kann in Mexiko-Stadt seelenruhig seinen Geschäften nachgehen. Als im September Pierre Sané, Präsident von amnesty international, Präsident Zedillo einen alarmierenden Bericht über die Menschenrechtssituation übergeben wollte, wurde ihm brüsk die Türe gewiesen.

Alle Gewalt geht von oben aus

Die Brutalisierung der sozialen und politischen Beziehungen durchdringt die gesamte Gesellschaft, wobei die ungehemmtesten Protagonisten nicht nur der politischen, sondern auch der sozialen Gewalt ohne Zweifel die Eliten und der Staatsapparat selbst sind. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Drogenhandels, der in Mexiko mittlerweile zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählt. Mitte Februar kam beispielsweise ans Tageslicht, daß General González Rebollo, oberster Chef der nationalen Drogenfahndung, auf der Gehaltsliste von Amado Carrilo Fuentes, einem der wichtigsten Drogenbarone stand. Diese Allianz ist symptomatisch, denn kein ernsthafter Beobachter Mexikos wird abstreiten, daß Militär- und Polizeiapparate, genauso wie eine große Anzahl von hohen Regierungsfunktionären und Politikern in das lukrative Geschäft mit den Drogen verstrickt sind, wenn sie es nicht sogar kontrollieren. (4)
Auch die Privatisierungspolitik seit Beginn der 80er Jahre zeichnet sich durch die kriminelle Energie der Eliten aus. Unter der Administration von Carlos Salinas zwischen 1988 und 1994 wurden 160 staatliche Unternehmen privatisiert, darunter befanden sich Stahlwerke genauso wie Bergbauunternehmen oder Fluglinien. Am Beispiel der Telefongesellschaft TELMEX läßt sich deutlich machen, wie die PRI-Eliten die politische Kontrolle über den Privatisierungsprozeß nutzen, um ihre eignen Taschen zu füllen. TELMEX wurde zum lächerlichen, bewußt unterbewerteten Preis von 1,7 Milliarden US-Dollar an den Salinas Freund und Geschäftspartner Carlos Slim verkauft. Kurze Zeit nach der Privatisierung waren die TELMEX-Aktien an der Börse zwölf Milliarden US-Dollar wert und Carlos Slim wird heute mit einem Privatvermögen von 6,1 Milliarden US-Dollar als reichster Mann Lateinamerikas gehandelt. (5) Privatisierung als Raubüberfall auf öffentliches Eigentum, die Straßenkriminalität nimmt sich dagegen aus wie dilettantischer Kinderkram. Der Klassenkompromiß ist aufgelöst.

Bereichert Euch!

Hier wird deutlich, wo die eigentlichen Ursachen des Zerfalls der PRI-Macht liegen: Bestimmt nicht im politischen Willen auf eine Demokratisierung, sondern vielmehr im Verlust von Integrationsmöglichkeiten, nachdem 15 Jahre neoliberale Politik die Grundlagen des sozialen Paktes der Mexikanischen Revolution ausgehebelt haben. Während der Dinosaurier in seinen besten Jahren die hohe Staatsquote an Produktionsmitteln und die progressiven Möglichkeiten der Verfassung von 1917 nutzte, um die Mexikaner mit Land, Arbeit und Tortillas zu versorgen, folgt die durch IWF und Weltbank diktierte Politik der PRI-Eliten seit der Schuldenkrise von 1982 nur noch einer Maxime: „Bereichert Euch!“
Dabei sind es sehr wenige, die absahnen, während eine große Mehrheit marginalisiert wird. Eine Gruppe von 183.000 Individuen – 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung – verfügt in Mexiko über 51 Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes. Ihre Profite sind größer als die gesamten Ausgaben des Staates für alle öffentlichen sozialen Ausgaben. (6) Gleichzeitig ist die Kaufkraft des Mindestlohns seit 1982 um beinahe 70 Prozent gefallen und die durchschnittlichen Reallöhne gingen zwischen 34 Prozent in der Industrie und 27,5 Prozent in der Maquila zurück. (7) Die Reform am Artikel 27 der Verfassung schnitt außerdem den Kleinbauern jede Aussicht auf eine Landreform ab, während sich gleichzeitig der sogenannte Neolatifundismo, also neuer Großgrundbesitz, breit macht. Nach dem Peso-Crash vom Dezember 1994 sind auch große Teile des davor noch relativ prosperierenden Mittelstands in die Verarmung gestürzt, so daß die Einkommenspyramide heute ein riesiges Fundament mit einer Nadelspitze darstellt. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Krisenjahr 1995, in dem Mexiko die schärfste Rezession seit den 30er Jahren aushalten mußte, bringt bisher keine sozialen Verbesserungen oder Lohnerhöhungen.

„Kartell des Südostens“ und „Deserteure“

Die neoliberale Umstrukturierung ist nicht nur mit einer radikalen Privatisierungspolitik und der Vertiefung des Abgrundes zwischen den sozialen Klassen verbunden, sondern mit zwei weiteren bedeutsamen Aspekten: Einerseits dem fortschreitenden Verlust nationaler Souveränität durch Weltmarktöffnung, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) und der wachsenden Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Die Politik der mexikanischen Regierung erfüllt heute die Funktion der Wahrnehmung der Interessen transnationaler Konzerne und geostrategischer Interessen der USA, ganz anders als zu Zeiten des Gründers der modernen PRI, dem Präsidenten Lázaro Cárdenas von 1934–40. Andererseits koppeln sich die Dynamiken der regionalen Entwicklungen immer deutlicher voneinander ab. Während die an bestimmte Regionen gebundenen Maquila- und Tourismussektoren boomen, werden andere Regionen, insbesondere die indigen geprägten Gebirgszonen, zu ausgepowerten Wastelands, die dem völligen Niedergang preisgegeben sind. Raubbau und die Überflutung mit billigen Agrarprodukten durch NAFTA haben hier die kleinbäuerliche Wirtschaft ruiniert.
Das Auseinanderbrechen der PRI ist nichts weiter als die Widerspiegelung des Desintegrationsprozesses der Gesellschaft. Innerhalb der Partei selbst haben sich verschiedene Fraktionen herausgebildet, die teilweise sich widersprechenden Interessen folgen. Da ist einerseits das „Kartell der Gouverneure des Südostens“, in dem sich die mit dem alten, mittlerweile in Irland lebenden Präsidenten Carlos Salinas verbundenen Regionalfürsten der südöstlichen Bundesstaaten alliiert haben. Sie stehen für ein hartes Durchgreifen gegen die Oppositionen. Roberto Madrazo, der amtierende Gouverneur von Tabasco, hat mit einem von langer Hand geplanten Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen in seinem Staat im Oktober deutlich gemacht, daß sie jedes Milligramm Macht zu verteidigen bereit sind. Daneben, als deutlichster Konterpart, hat sich in der Grupo Galileo eine Strömung formiert, der zahlreiche Abgeordnete angehören, die für ein Ausloten von Verständigungsmöglichkeiten mit der PRD und der rechten PAN (Partei der Nationalen Aktion) stehen. Über den Fraktionen steht Präsident Zedillo mit seiner Gruppe, der versucht, die zentrifugalen Kräfte in seiner Partei zusammenzuhalten. Aber es mehren sich die „Deserteure“ unter den regionalen PRI-Machthabern, die samt ihrem Troß aus klientelistischen Beziehungen in eine der Oppositionsparteien eintreten.

Demokratisierung oder Neokorporativismus?

Als Indizien für einen Demokratisierungsprozeß werden oft die gewachsenen politischen Spielräume genannt. Die PRD hat den D.F. gewonnen, die klerikalkonservative PAN regiert einige Bundesstaaten im Norden. Seit dem 6. Juli ist die PRI nun auch mit einem mehrheitlichen Oppositionsblock im Abgeordnetenhaus konfrontiert, Wahlen sind nicht mehr nur Rituale zur Bestätigung des PRI-Kandidaten. Von der Studentenbewegung 1968 über die Entstehung der Stadtteilbewegungen nach dem Erdbeben 1985, die Proteste gegen den Wahlbetrug 1988 und die Formierung der PRD bis zum zapatistischen Aufstand 1994 und den Wahlen am 6. Juli 1997 reichen die Etappen des Verlustes der politischen Kontrolle der PRI. Dieser Prozeß wurde begleitet von der Entstehung unabhängiger und kritischer Medien zuerst im Printbereich, dann im Radio- und zuletzt auch im Fernsehbereich. Bei dieser Analyse wird aber ausgeblendet, daß viele der Oppositionen, die alten Funktionsmechanismen des PRI-Systems reproduzieren und die Gesellschaft zunehmend militärisch und nicht politisch kontrolliert wird.
So ist der Charakter der PRD durchaus zwiespältig. Ihre Wurzeln hat die Partei einerseits in einer PRI-Abspaltung, die unter Führung von Cuauhtémoc Cárdenas, Sohn des legendären Lázaro Cárdenas, die Mutterpartei verlassen hat und sich gegen ihre neoliberale Politik wandte. Andererseits sind die alte Kommunistische Partei, ehemalige Trotzkisten und Maoisten sowie zahlreiche soziale Bewegungen in der Partei aufgegangen. Mit dem Parteivorsitzenden Manuel López Obrador und Cárdenas, dem neuen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, stehen zwei Figuren im Vordergrund, die eher für die Verbindung mit sozialen Bewegungen und Mobilisierung der Basis stehen, aber gleichzeitig die unverkennbaren Züge paternalistischer, populistischer Caudillos der alten PRI-Schule tragen. Nach dem Wahlsieg vom 6. Juli ist die PRD überdies zu einer realen Machtoption in einigen Bundesstaaten und für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 geworden. So wundert es nicht, daß es die PRI-Deserteure an die neuen Futtertröge drängt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist etwa Dante Delgado, ehemaliger Gouverneur von Veracruz, der für seine korrupte Amtsführung berüchtigt war und nun auf dem PRD-Ticket die erneute Kandidatur anstrebt. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen Einzelfall.
Die Basis der PRD ist vielerorts offen prozapatistisch, vor allem dort, wo sie von der Repression durch lokale PRI-Größen bedrängt wird, wie in Oaxaca und Guerrero. Aber dort, wo die PRD an der Macht ist, entwickeln sich häufig neokorporativistische Strukturen, die an alte Zeiten erinnern. Überdies kommen die programmatischen Aussagen der PRD oft über Wunschvorstellungen und Absichtserklärungen nicht hinaus. Cárdenas wurde beispielsweise kürzlich gefragt, ob er sich als „Antiimperialist“ bezeichnen würde, worauf er antwortete: „Selbstverständlich“. Im nächsten Satz sagte er aber, daß er das NAFTA-Abkommen befürworte und lediglich modfizieren wolle. Wie das zusammenpaßt, bleibt sein Geheimnis. Es ist zu befürchten, daß die PRD auf alte klientelistische Kontrollmechanismen zurückgreifen wird, ist sie erst an der Macht. Eine böse Vorahnung dafür geben Teile der mit der PRD verbundenen sozialen Bewegungen in den Stadtvierteln der Hauptstadt, die nach dem Erdbeben von 1985 als hoffnungsvolle Basisorganisationen begannen und mittlerweile oft von der Korruption zerfressen sind.
Die PAN als rechtsgerichtete Oppositionspartei fügt sich, was ihr wirtschaftliches Programm angeht reibungslos in den neoliberalen Kurs der PRI ein. Nachdem sie sich lange Zeit als saubere Alternative zu PRI und PRD profilierte, ist der Lack nach Korruptionsskandalen in den von ihr regierten Bundesstaaten ab. Die PAN als demokratische Alternative zur PRI zu benennen, ist als ob man behauptete, Opus Dei und die katholische Kirche seien eine basisdemokratische Bürgerinitiative. Die PAN repräsentiert den konservativen bis offen reaktionären Flügel eines Teils des Mittelstandes und der Oberschichten, die sich insbesondere durch ihren Rassismus gegen die indianische Bevölkerung auszeichnen.

Linke in der Defensive

Wichtige Impulse für den fortschreitenden Zerfall der PRI gingen von den Rebellen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) in Chiapas aus, doch die anfängliche Dynamik der Bewegung ist längst verloren gegangen. Dafür sind zwei Faktoren verantwortlich: Einerseits die Militarisierung der Aufstandsregion und die Führung eines „Krieges niedriger Intensität“, der die zapatistische Basis brechen und demoralisieren soll. Andererseits die mangelnde Bereitschaft der als „Zivilgesellschaft“ bezeichneten Sektoren auf nationaler Ebene, sich den Zapatismus zu eigen zu machen und eine gemeinsame Oppositionsbewegung aufzubauen. So bleibt die EZLN auch nach der Gründung der zivilen Frente (FZLN) eine regional beschränkte Kraft, die zudem in einen schwierig zu führenden Verteidigungskrieg verwickelt ist. Ihre Forderungen beschränken sich heute vornehmlich auf Demilitarisierung und die Erfüllung des „Abkommens über indianische Rechte und Kultur.“ Vom ursprünglichen gesamtmexikanischen Projekt ist aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse wenig übriggeblieben. Eine Perspektive könnte der Zapatismus als linke, basisdemokratische Opposition gegen eine PRD an der Macht gewinnen. Aber momentan geht es für die Zapatistas eher um das tägliche Überleben als um die Zukunft.
Mit der FAC-MLN ist auf der Linken eine dritte Kraft entstanden, die aber wie der Zapatismus lediglich regionale Bedeutung hat. Die mitgliederstärksten Organisationen, die sich in der FAC-MLN koordinieren, sind in den südlichen Bundesstaaten und der Hauptstadt angesiedelt. Sie stellen legitime soziale Forderungen, aber dabei bleibt es. Von ihnen geht ebenfalls kein mobilisierendes politisches Projekt aus, das in Mexiko momentan eine breitere Anziehungskraft entfalten könnte. Dasselbe gilt für die EPR (Revolutionäre Volksarmee), die in letzter Zeit versucht, mit Kommuniqués auf sich aufmerksam zu machen, während sie von bewaffneten Aktionen absieht. Der Ton ihrer Erklärung hat sich deutlich verändert. So fordert die EPR die Einheit der Linken, hat die Wahl Cárdenas im D.F. begrüßt und schmückt ihre Kommuniqués jetzt auch mit poetischen Nahuatl-Versen, obwohl sie letztes Jahr in einem Seitenhieb auf die ihrer Ansicht nach zu zivilgesellschaftlich orientierte EZLN noch erklärt hatte, daß man mit „Gedichten keine Kriege gewinnen kann“. Die EPR-Basis ist von der Repressionswelle am härtesten getroffen worden, ihre militärische Struktur konnte die Bundesarmee aber nicht zerschlagen. So bleibt sie momentan eine Guerilla im Wartestand.

Todesstoß im Jahr 2000?

Mexiko befindet sich in einer schwierigen Phase des Umbruchs, in der es an Aufbruchstimmung mangelt. 15 Jahre Neoliberalismus haben eine soziale Verwüstung hinterlassen, in der die Menschen vor allem eines im Sinn haben: Wie kann ich bis morgen überleben? In dieser Situation politischen Protest zu formieren, ist äußerst schwierig, ganz zu Schweigen von einer gesellschaftlichen Alternative. Sicher, das PRI-System zerfällt unter dem Druck der gesellschaftlichen Widersprüche, Freiräume entstehen, aber auch Menschenrechtsverletzungen und Militarisierung nehmen zu. Die exorbitanten Ausgaben für die Armee machen deutlich, wie Teile der Herrschenden mit einer zu radikalen Opposition umzugehen gedenken. Noch windet sich der Mutter-Saurier PRI in Agonie, die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 könnten zum endgültigen Todesstoß werden. Unter den gegebenen Bedingungen werden den „Menschenfresser“ dann möglicherweise eine ganze Schar von Mutanten im Taschenformat und gar nicht netten Baby-Saurier beerben, die ihrerseits einen brutalen Kampf um die Macht ausfechten. Hoffnung ist nie fehl am Platz, aber zu denken, daß das Ende der PRI-Herrschaft den Beginn mexikanischer Glückseligkeit markieren könnte, kann sich als eine große Fata Morgana erweisen.

Anmerkungen:
(1) Octavio Paz: Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971-1980, Frankfurt a.M. 1981.
(2) Proceso, Nr. 1091, 28.9.97.
(3) Excelsior, 12.11.97.
(4) Vgl.: „Drogenhandel und Filz in Tabasco. Mexiko oder ein Land wird geplündert“ von Jaime Aviles, Ex-Chefredakteur La Jornada, in Le Monde Diplomatique, August 1996.
(5) Vgl.: Carlos Marichal: The rapid rise of the neobanqueros. Mexico’s new financial elite. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(6) Latin America in the age of the billionaires. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(7) La Jornada Laboral, 25.9.97.

Hoffnung im Moloch

Im Plenarsaal des Stadtparlaments, in der kolonialen Altstadt im Zentrum, übte man sich am Morgen dieses 5. Dezember, der vielerorten als „magisches Datum“ und „Stunde Null der mexikanischen Demokratie“ gehandelt wurde, in zivilisierter Koexistenz. So saß auf dem Podium ein jovial lächelnder Präsident Zedillo, der seinen ehemaligen Widersacher – und langjährigen Lieblingsfeind des PRI-Regimes – immer wieder überschwenglich zum neuen Job beglückwünschte. Auf den Rängen gaben sich Kulturschickeria und Menschenrechtler, Schriftsteller und Medienbosse ein Stelldichein, viele strahlende Gesichter der Cárdenas-Partei PRD waren zu sehen, hier und da ein paar blasse PRI-Politiker. Darunter auch der letzte präsidial designierte Regent, Oscar Espinosa, der sich in Zeitungsinterviews immer wieder „äußerst zufrieden“ darüber geäußert hatte, seinem Nachfolger die Stadt in „menschlichem, lebensfähigem und demokratischem“ Zustand übergeben zu haben.

Krise, Korruption, Kriminalität

Mit dieser Einschätzung dürfte Herr Espinosa derzeit relativ alleine dastehen. Selten zuvor ist das Lebensgefühl der HauptstadtbewohnerInnen derart apokalyptisch gewesen. Noch vor der katastrophalen Umweltsituation, also der chronischen Smogkatastrophe, den wachsenden Müllbergen und der prekären Wasserlage, belegen heute vor allem die drei großen “K” die ersten Plätze der Katastrophen-Charts: Krise, Korruption und Kriminalität. Besonders die zunehmende Unsicherheit wurde bei einer Umfrage der Tageszeitung Reforma von 67 Prozent der Befragten als drängendstes Problem ihrer Stadt genannt. Mit dem Wirtschaftscrash, der Ende 1994 auch die Mittelschichten aus ihren Wohlstandsträumen riß, hat sich die Gewalt gleichmäßiger in der Gesellschaft verteilt und zudem deutlich brutalisiert. Heute kann jeder, ob TaxifahrerIn, VerkäuferIn oder FirmenmanagerIn, zum Opfer von Autoklau oder bewaffneten Raubüberfällen und von Entführungen werden. Sicherheit ist längst zum privat handelbaren Gut geworden und somit nur für diejenigen erschwinglich, die sich gepanzerte Fahrzeuge, den Service privater Sicherheitsdienste oder wenigstens funktionierende Alarmanlagen leisten können.
Aus lauter Verzweiflung über den Status-Quo hatten am vergangenen 6. Juli fast die Hälfte der Wahlberechtigten, also weit über die traditionelle Klientel der Linkspartei hinaus, ihr Kreuzchen bei Cárdenas gemacht. Und so empfing die Menge, die sich fünf Monate später zu dessen Amtsantritt vor den Stufen des Stadtparlaments drängelte, den Präsidenten und seinen ehemaligen Statthalter erwartungsgemäß mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert. Unter Rufen wie „Tod der PRI“ und „Ab in den Knast“ wurden die Gäste, die im Saal noch mit höflichem Applaus begrüßt worden waren, verabschiedet. Als wenige Minuten später Cárdenas, umringt von Reportern und Kamerateams, auf die Stufen ins Freie trat, schlug die Empörung in Begeisterung, in Jubel und Konfettiregen um. Man tue ja geradezu, als ob es sich bei dem 63jährigen ingeniero um einen „nationalen Vizepräsidenten“ und nicht um „einen ganz normalen Stadtregenten“ handle, mokierte sich tags darauf ein Leitartikler einer großen mexikanischen Tageszeitung über die Masseneuphorie. Der Regierungsantritt des ersten „wirklichen Bürgermeisters“ der Metropole, der zugleich als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 gilt, ist für mexikanische Verhältnisse alles andere als normal. Sollte die Hauptstadt, die seit 69 Jahren de facto vom Präsidentenpalast aus regiert wird, zu einer Art Versuchslabor für die Demokratisierung werden, dann wäre die Wende à la mexicana wohl unwiderruflich eingeleitet – und das weit über die Stadtgrenzen hinaus.

Kleine Schritte statt visionärer Entwürfe

Die Zeit für den Laborversuch ist knapp bemessen – die offizielle Amtszeit beträgt gerade mal drei Jahre, der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen beginnt sogar noch ein Jahr früher – und Geld gibt es so gut wie gar nicht. Von seinem Vorgänger erbt Cárdenas einen Schuldenberg von knapp 13 Milliarden Pesos, umgerechnet rund dreieinhalb Milliarden DM. So hält sich el ingeniero schon in seiner Antrittsrede wohlweislich mit großspurigen Versprechen zurück. Statt visionärer Entwürfe stellt er eine Reihe solider kleiner Schritte in Aussicht, von der Umstellung der städtischen Buslinien auf Erdgas über Sozialprojekte für Straßenkinder und indigene Gruppen, bis hin zum Ausbau von Kulturzentren, Sportplätzen und Frauenhäusern. Die Verbesserung der prekären Luft- und Wasserlage sei ohnehin eher mittelfristig erreichbar, meint Cárdenas pragmatisch, bei der angepeilten Umstellung könne die Luftqualität allerdings in sechs bis acht Jahren um 40 Prozent verbessert werden. Energischer gab er sich hingegen in Sachen Korruption und Kriminalität. Hier solle „vom ersten Tag an“ ein anderer Wind wehen. Unter dem Banner von Transparenz und Effizienz soll die Umstrukturierung der diskreditierten Behörden, deren Ineffizienz und Korrumpiertheit der „wichtigste Anreiz“ für das mehr oder weniger organisierte Verbrechen sei, in Angriff genommen werden. Massenentlassungen seien dennoch nicht vorgesehen, beruhigte Cárdenas die rund 150.000 Angestellten der Stadtverwaltung. Ausgewechselt aber werden immerhin um die sechstausend leitende Funktionäre, darunter auch die Bezirksbürgermeister der 16 Verwaltungsbezirke der Stadt.
Fast noch entscheidender aber wird die Säuberung des nicht minder diskreditierten Polizeiapparates sein. Gegen den Widerstand breiter Teile der Bevölkerung hatte Amtsvorgänger Espinosa vor eineinhalb Jahren versucht, die ebenso schlechtbezahlten wie -ausgebildeten Polizisten mit militärischer Disziplin auf Trab zu bringen: ein General wurde zum obersten Polizeichef ernannt und 2600 Soldaten zum Training ihrer zivilen Kollegen abgestellt. Das Experiment erwies sich nicht nur als wenig effizient, sondern zudem als überaus skandalträchtig. Einen Höhepunkt erreichte die öffentliche Empörung über das Treiben schwerbewaffneter Elitetruppen, wie die berüchtigten „Zorros“ oder „Jaguare“, als Anfang September nach einem martialischen Spezialeinsatz nahe des Stadtzentrums sechs junge Männer verschwanden und erst Tage später tot aufgefunden wurden. Als im November endlich eine Reihe Verantwortlicher verhaftet werden sollten, kam es zu tagelangen Zusammenstößen mit den meuternden „Zorros“, die sich zu „Sündenböcken“ degradiert fühlten. So sei die Militarisierung letztlich „absolut kontraproduktiv“ gewesen, meint die Sicherheitsexpertin und PRD-Senatorin Amalia Garcia. Auf gewisses Befremden stößt heute allerdings die Tatsache, daß Cárdenas, der noch im Wahlkampf eine strikte „Entmilitarisierung“ versprochen hatte, nun erneut einen – wenn auch pensionierten – General, Rodolfi Debernardi, zum Beauftragten der städtischen Sicherheit ernannt hat.

Cárdenas auf dem Weg durch die „verminte Stadt“

Manchen BewohnerInnen aber scheint die Umstrukturierung der Polizei ohnehin nicht mehr auszureichen. Auf einem „Schweigemarsch gegen das Verbrechen“, bei dem Ende November Zehntausende erzürnte BürgerInnen durch die Innenstadt zogen, waren auf Transparenten auch Forderungen nach „Todesstrafe“, nach „Null Toleranz“ oder gar nach „Aussetzung der Grundrechte für Schwerverbrecher“ zu lesen. Gegen diese – vermutlich eher verzweifelten als faschistoiden – law-and-order-Phantasien wird sich die neue Stadtregierung mit einer Verbrechensbekämpfung zu profilieren haben, die nicht auf Kosten von Menschen- und Grundrechten geht, sondern vielmehr im Polizei- und Justizapparat ein völlig neuartiges Prinzip einführt: Legalität. Viel wichtiger als höhere Strafen, so meinte Cárdenas dann auch am 5. Dezember, sei es doch, daß Kriminelle überhaupt bestraft würden; bisher liegt die Verurteilungsrate für angezeigte Delikte bei rund 2,5 Prozent.
Aber auch über die Verbrechensbekämpfung hinaus bewegt sich der neue Bürgermeister zweifellos in einer „verminten Stadt“, wie Carlos Fuentes die alltägliche Unterwanderung der Institutionen durch Seilschaften und Komplizitäten, Erpressungen und allerlei „unsichtbare Interessen“ treffend bezeichnet. So werden weite Teile der informellen Infrastruktur der Stadt, von den StraßenverkäuferInnen über die sogenannten Müll-Mafias bis hin zum Transportwesen, noch immer über die mächtigen PRI-Verbände kontrolliert. Mit den bisherigen Stadtregierungen hatten diese sich auf die übliche klientelistische Weise arrangiert. Eine offene Kriegserklärung gegen diese Sektoren kann sich auch Cárdenas kaum leisten. Die Beantwortung der Frage, ob und wie sich „ein fairer Interessenausgleich“ mit der Zerschlagung korrupter Seilschaften verbinden läßt, wird zwangsläufig zu einer der ersten Feuer- und Bewährungsproben der neuen Regierung werden.
Möglicherweise aber besteht die eigentliche Innovation, neben den vielen kleinen Schritten, zunächst gar nicht so sehr im „was“ denn im „wie“, also dem gerne zitierten Schlagwort der „Bürgerbeteiligung“. Gemeint ist nicht nur die Einführung so bürgernaher Entscheidungsverfahren wie Volksbegehren und Plebiszite, sondern vor allem auch die Anknüpfung an die Erfahrungen, Vorschläge und Initiativen der vielzitierten Zivilgesellschaft. Und diese erlebt mit dem 5. Dezember nun beileibe keine Stunde Null, sondern kann, spätestens seit dem verheerenden Erdbeben von 1985, auf eine langjährige Erfahrung der Selbstorganisation zurückgreifen. So will die neue Innensenatorin der Stadt, Rosario Robles – eine von immerhin drei Frauen im Cárdenas’schen Kabinett – am liebsten schon in den ersten 100 Tagen „ein ganz neues Verhältnis von Regierten und Regierenden“ etablieren. Dabei sollen Bürgerräte und Nachbarschaftskomitees die Programme und Projekte mitgestalten und, beispielsweise über Kampagnen wie „Wir adoptieren einen Funktionär“, auch überwachen. Darüberhinaus will die engagierte Feministin mit Frauengruppen zusammenarbeiten, politische Debatten – wie beispielsweise zur geforderten Entkriminalisierung der Abtreibung – vorantreiben und geschlechtsspezifische Weiterbildung für Funktionäre einführen. Ein kleiner Workshop könnte vermutlich auch ihrem neuen Chef nicht schaden: vom weiblichen Geschlecht ist in seiner Antrittsrede nur im Zusammenhang mit zu versorgenden „Randgruppen“ die Rede, also inmitten von Straßenkindern, Alten und Behinderten; Akteure und Adressaten der vielbeschworenen Demokratisierung bleiben durchgehend „Bürger“ und „Mexikaner“.
Überhaupt entstammt Cárdenas als Präsidentensohn und ehemaliger PRI-Gouverneur bekanntlich – und durchaus buchstäblich – der „revolutionären Familie“ des alten Mexiko. Unbeirrbar glaubt er daran, daß die Ideen seines Vaters, dem populären Ex-Präsidenten Lazaro Cárdenas (1934-1940), auch „heute noch gültig“ sind. Für ehrenwerte Grundsätze wie soziale Gerechtigkeit und Antiimperialismus mag das zutreffen. Demokratie aber ist in der politischen Tradition des Landes eine vergleichsweise neue Losung. Und mit dem latenten Bedürfnis nach einem „guten Caudillo“, der die geplagte Stadt von ihren Übeln erlösen soll, erscheint diese unvereinbar. So wäre unter Revolution im heutigen Mexiko, wenn überhaupt, wohl eher eine Revolutionierung politischer Kultur und Moral zu verstehen. Es ginge, gegen den verbreiteten „Die da oben“-Fatalismus und die „Na und“-Demoralisierung, um die Wiederherstellung von Vertrauen in die Institutionen, in Rechtsstaatlichkeit und Regierbarkeit, vor allem aber das Vertrauen der BürgerInnen in sich selbst. Damit wäre dann auch der Bann des tief verwurzelten Populismus gebrochen, der die Lösung aller Probleme „von oben“ verheißt.
Die Zeichen dazu stehen nicht allzu schlecht. Nach Umfragen von Reforma kann der neue Bürgermeister, dessen wichtigstes Kapital zweifellos seine unbestrittene Legitimität darstellt, einen nie gesehenen Vertrauensvorschuß für sich verbuchen: 71 Prozent der Befragten glauben, daß es der Stadt unter Cárdenas „besser“ gehen wird, 80 Prozent halten ihn für „erfahren“ und 84 Prozent für „fähig“ genug – gewählt hatten ihn im Juli „nur“ 47 Prozent der capitalinos. Ob diese Zuversicht auch in entsprechendes Selbstvertrauen mündet, bleibt abzuwarten. „Man kann von einem einzigen Mann nicht alles erwarten“, meint Rosario Ibarra, die zierliche alte Dame und Vorkämpferin der mexikanischen Menschenrechtsbewegung, die nun ganz offiziell als Cárdenas-Beraterin fungiert, „wir dürfen nicht auf einen Messias warten, der vom Himmel fällt und ganze Arbeit für uns macht.“

„Todesschwadrone werden aufgebaut“

Hat sich die Arbeit des Menschenrechtsbüros seit der Gründung verändert?

Ja. Insbesondere seit der Militäroffensive der Regierungstruppen gegen die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN im Februar 1995 haben sich neue Aufgaben ergeben. So bestand ein Großteil unserer Arbeit ab Mitte 1995 in der Gründung und Betreuung der verschiedenen Friedenscamps in der Konfliktzone. Diese waren notwendig, um durch die Präsenz mexikanischer und internationaler BeobachterInnen die Zivilbevölkerung vor Übergriffen der Regierungstruppen zu schützen. Gleichzeitig wurden in den indigenen Gemeinschaften Alphabetisierungskampagnen durchgeführt. Vor allem die schulische Ausbildung von Frauen ist auch weiterhin eine wichtige Tätigkeit des Zentrums. Allerdings muß angefügt werden, daß wir uns momentan in Diskussionen befinden, welchen neuen Aufgaben und Zielen wir uns zuwenden werden. Dabei geht es vor allem um die Suche nach effektiverer Arbeit zur Verteidigung der Menschenrechte. Eine besondere Rolle werden die politische Analyse und Öffentlichkeitsarbeit spielen.

Derzeit ist der Friedensdialog zwischen Regierung und EZLN unterbrochen. Gibt es Hoffnungen auf eine politische Lösung des Konfliktes und welche Rolle könnte das Menschenrechtszentrum dabei spielen?

Die Regierung weigert sich nach wie vor, den 1996 in San Andrés von ihr unterzeichneten Vertrag über indigene Rechte und Kultur in die Tat umzusetzen. Aus diesem Grund hat die EZLN den Friedensdialog unterbrochen, da es ihrer Ansicht nach keinen Sinn macht, mit einer Delegation zu verhandeln, die nicht gewillt ist, die geschlossenen Kompromisse einzuhalten. Die Repression durch die Regierungstruppen und paramilitärische Gruppen nimmt täglich an Intensität zu. Armut und Hunger haben drastische Ausmaße angenommen und die Zahl der Vertriebenen steigt rasant an. Allein im Landkreis Chenalhó befinden sich etwa 4000 Menschen auf der Flucht. Diese Situation hat zu enormen Spannungen innerhalb der Dorfgemeinschaften geführt und erschwert die Arbeit des Menschenrechtszentrums. Wir bemühen uns, den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, um diese konfliktreiche Lage zu entschärfen. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß wir durch die Einschaltung der Vereinten Nationen die Geschehnisse öffentlich machen und – zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen – auf die Einhaltung des Abkommens von San Andrés drängen.

In einem Kommuniqué hat der Sprecher der Zapatistas, Subcomandante Marcos, den katholischen Klerus scharf angegriffen, die Arbeit des Vorsitzenden der Friedensvermittlungsorganisation CONAI, Bischof Samuel Ruíz, aber ausdrücklich gewürdigt. Besteht zwischen seiner Kritik und den Attentaten auf Bischof Samuel Ruíz ein Zusammenhang?

Nein. Auch wenn ich die Formen und Ansichten des EZLN-Sprechers nicht grundsätzlich teile, sehe ich zwischen seinem Schreiben und den Attentaten keinerlei Zusammenhang. Am 4. November wurde auf das Auto von Bischof Samuel Ruíz geschossen. Dieser Anschlag war vorbereitet. Dabei wurden drei seiner Begleiter verletzt. Am folgenden Tag wurde die Schwester von Samuel Ruíz bei einem Mordanschlag schwer verletzt. Es gibt Hinweise darauf, daß der Attentäter für seine eigentliche Absicht, die Ermordung des Bischofs, Geld erhalten hat. Daß zwischen den Anschlägen und dem Brief der EZLN in der Presse Zusammenhänge hergestellt werden, ist Teil der Regierungsstrategie. Durch derartige Äußerungen will die Staatspartei PRI von ihrer eigenen Rolle ablenken und als neutraler Faktor erscheinen, der schlichtend in Konflikte eingreift, mit deren Ursachen die politischen Machthaber nichts zu tun haben. Für uns steht fest, daß die Verantwortlichen für die Gewalt in Chiapas in der Regierung zu suchen sind. Hinter den Anschlägen stehen paramilitärische Gruppen, die die volle Unterstützung der Armee und der Regierung besitzen. Sie sind die Drahtzieher der Hinterhalte, Morde und Anschläge. Wir sehen uns mit einer Situation konfrontiert, in der bewaffnete Banden zu Todesschwadronen aufgebaut werden.

Wie bewerten Sie die Ausbrüche von Gewalt, die in den letzten Wochen in Chenalhó zu beklagen sind?

Dieser Konflikt hat seinen Ursprung in einem seit Mai 1997 schwelenden Machtkampf zwischen zapatistischer Basis und AnhängerInnen der PRI. Dabei geht es einerseits um die Kontrolle eines Kieswerkes, der wichtigsten ökonomischen Einnahmequelle der Region, und andererseits um die politische Vormachtstellung. Dieser Konflikt hat sich ausgeweitet und mittlerweile über 20 Menschenleben gekostet. Dennoch muß betont werden, daß hinter all dieser Gewalt die PRI-Regierung, insbesondere Gouverneur Ruíz Ferro, steht. Es ist bekannt, daß die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) von PRI-Politikern bewaffnet und geleitet wird. Außerdem wird sie nicht nur von der Polizei und der Armee geduldet, sondern sie agieren auch gemeinsam.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, zu einer friedlichen Lösung zu kommen? Kann die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen EZLN und Regierung zu einer Beendigung der Gewalt beitragen?

Dies kann nur über direkte Gespräche der Konfliktparteien geschehen. Denken und Handeln von PRI-Regierung und zapatistischen Gemeinschaften stehen sich frontal gegenüber. Bisher gibt es keine Möglichkeit, die sich nirgendwo berührenden Logiken der PRIistas und der Zapatistas zusammenzubringen. In zahlreichen Regionen haben wir gesehen, daß die indigenen Gemeinschaften sehr gut in der Lage sind, ihre Konflikte untereinander und friedlich beizulegen. Daß dies in Chenalhó bisher nicht der Fall ist, liegt daran, daß die lokalen PRI-Machthaber von der Landesregierung aufgestachelt werden. Über Gespräche zwischen Regierung und EZLN – abgesehen davon, daß sie derzeit nicht wahrscheinlich sind – läßt sich diese verfahrene Situation in Chenalhó nicht lösen.

In vielen Regionen von Chiapas kommt es zu blutigen Kämpfen zwischen regierungstreuen und oppositionellen Gruppen. Indígenas kämpfen gegen Indígenas. Wie beurteilen Sie dieses Phänomen?

Diese Vorkommnisse stehen in Zusammenhang mit der von der Regierung verfolgten Strategie, gegen die EZLN und ihre SympathisantInnen einen „Krieg niedriger Intensität“ zu führen. Indem Leute aus den Dörfern bewaffnet und gegen andere aufgehetzt werden, kann die Armee in der Öffentlichkeit als friedensstiftender Faktor auftreten. Das Anstiften von Zwistigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaften ist Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie und führt einzelne Regionen an den Rande des Bürgerkriegs. Nur internationaler Druck auf die Regierung, die jede Verantwortung leugnet und zudem behauptet, daß es keine paramilitärischen Banden gäbe, kann diese Situation entschärfen.

„Ich zahle nur, was gerecht ist“

Die Schuldnervereinigung El Barzón ist seit ihrer Gründung im Sommer 1993 zu einer der bedeutendsten sozialen Bewegungen Mexikos geworden. 800.000 der vermutlich fünf Millionen zahlungsunfähigen MexikanerInnen wehren sich mit ihrer Hilfe gegen die Schuldenzahlungen, die seit der Peso-Krise im Dezember 1994 atemberaubende Dimensionen erreicht haben. Durch gewaltfreien Widerstand und Demonstrationen, aber auch auf rechtlichem Weg und durch die Wahl einzelner Mitglieder des Barzón als Abgeordnete und Senatoren hat sich die Bewegung immer mehr Spielraum geschaffen, um ihren Forderungen Gewicht zu verleihen.

Telefonkette gegen Räumungen

Halb zwei: Der Termin ist verstrichen und die Anwälte sind nicht gekommen. Erleichtert gehen die Barzonistas zur anschließenden Besprechung mit ihren Rechtsberatern in den Innenhof. Dort werden gleich die nächsten Termine bekanntgegeben: Freitag und Montag, um 12 und 13 Uhr. Nur wenige wissen, wessen Haus dieses Mal dran war. Wer kann schon zugeben, daß es so weit gekommen ist. Die Schulden sind so hoch, daß das Haus verpfändet wird, das letzte, was die meisten Barzonistas noch besitzen. Nach der Versteigerung stehen irgendwann die Räumungskommandos vor der Tür.
Wenn ein Haus schließlich geräumt ist, wird der Barzón für viele Betroffene zur einzigen Hoffnung, Sie rufen bei Mario Bermúdez an. Er löst eine Telefonkette aus und in ein bis zwei Stunden kommen Freiwillige, räumen die Möbel wieder ein und besetzen das Haus. Der zivile, gewaltfreie Widerstand ist eine der Ebenen, auf denen die Mitglieder des Barzón kämpfen. Demonstrationen, Straßenblockaden, das Besetzen von Banken und Regierungsgebäuden sind die öffentlichkeitswirksamen Aktionen, mit denen die Bewegung seit August 1993 bekannt geworden ist. Damals war der Barzón noch eine überwiegend ländliche Bewegung. Der Abbau von Subventionen und Kreditvergabe für die Landwirtschaft im Rahmen des neoliberalen Wirtschaftsmodells führte zu erheblichen Einnahmeverlusten der kleinen und mittleren Bauern. Hinzu kam die Überschwemmung mit US-amerikanischen Billigimporten im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes, mit denen die zumeist technologisch veralteten mexikanischen Kleinbetriebe nicht konkurrieren konnten. Die Ernteeinnahmen reichten nicht mehr aus, um die erhaltenen Kredite zurückzuzahlen, und viele Bauern mußten ihre Zahlungsunfähigkeit erklären.

Peso-Krise führte zur Schuldenexplosion

Nach der Peso-Abwertung im Dezember 1994 hat sich der Barzón auf die städtische Bevölkerung ausgedehnt. Als Folge der Krise stiegen die Zinssätze sprunghaft an, während die Kaufkraft der MexikanerInnen, bedingt durch Entlassungen und heftige Preissteigerungen, abnahm. Viele konnten plötzlich ihre Kredite nicht mehr bedienen. Ob es Kreditkartenbesitzer waren oder Taxifahrer, die ihre Autos auf Kreditbasis erworben hatten, Hausbesitzer oder Unternehmer; in kürzester Zeit wuchs der Schuldendienst um 100 oder 200 Prozent an und überstieg häufig die Einnahmen der Schuldner, so daß eine Zahlung unmöglich wurde.
„Leider kommen die Betroffenen zumeist erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist, wenn die Bank sie schon verklagt hat“, berichtet Jesús Hernández, der so wie alle Mitarbeiter des Barzón selbst Schuldner ist und ehrenamtlich im Hauptbüro in Mexiko-Stadt arbeitet. „Es ist ihnen peinlich. Sie denken immer, die Ursache ihrer Probleme sei ihr eigenes Versagen.“
In Versammlungen werden die Mitglieder des Barzón über ihre Rechte und Möglichkeiten informiert, während sie gleichzeitig durch ihre Mitarbeit und eine wöchentliche Quote in Höhe von zwei bis drei Mark das Recht auf juristischen Beistand erwerben. Die Lösung eines Falles kann Jahre dauern, aber durch den Zeitgewinn können zumindest Pfändungen oder die Räumung eines Hauses hinausgezögert werden. Die parallel durchgeführten Demonstrationen und Aktionen des zivilen Widerstands stärken die Position der verschuldeten Bevölkerung und üben Druck auf Regierung und Banken aus.
Auf der rechtlichen Ebene können die Barzonistas beeindruckende Erfolge vorzeigen. „Früher,“ so Maximiano Barbosa, einer der Gründer und heutigen Führungsmitglieder, „haben die Banken alle Gerichtsverhandlungen gegen die Schuldner gewonnen, obwohl die Verträge in den meisten Fällen illegal waren. Aber wir Schuldner hatten einfach keine Ahnung, und die Anwälte kannten sich auf diesem Gebiet auch nicht aus. Die Unkenntnis haben die bestechlichen Richter hemmungslos ausgenutzt. Aber jetzt ist das anders: Der Barzón hat Juristen ausgebildet, und mit unseren mehr als 800 Anwälten in ganz Mexiko gewinnen wir mittlerweile fast alle Gerichtsverhandlungen. Normalerweise wird jetzt verhandelt.“ In diesen Verhandlungen werden Schuldenerlasse von 60 bis 80 Prozent vom aktuellen Schuldenstand erreicht, wenn der Schuldner in einer einmaligen Zahlung den ausstehenden Betrag tilgen kann. Der Barzón tritt dabei als Vermittler auf.

Hilfe für Schuldner statt für Finanzsektor

Doch der Großteil der Barzonistas ist nicht in der Lage, 30 oder 40 Prozent ihrer Schulden und Zinszahlungen zu leisten. Für sie und alle Mexikaner, die zahlungsunfähig sind – schätzungsweise fünf Millionen – müssen umfassendere Lösungen gefunden werden. Die Verschuldung der städtischen Mittelschicht, unter der sich viele kleine und mittelständische Unternehmer befinden, lähmt die mexikanische Wirtschaft und verschärft die prekäre Situation des Finanzsektors, der sich trotz gegenteiliger Aussagen der mexikanischen Regierung noch lange nicht von der Peso-Krise erholt hat. Die Unterstützung der mexikanischen Banken, die selbst chronisch zahlungsunfähig sind, hat die Regierung bereits 40 Milliarden Dollar gekostet.
Doch während die PRI-Regierung die Lösung des Verschuldungsproblems in der Rettung des bankrotten Finanzsektors sieht, kämpft der Barzón für die Unterstützung der Schuldner, die Erholung der mexikanischen Wirtschaft und für eine Umorientierung der Wirtschaftspolitik. Über die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wird die Bewegung mittlerweile von drei Parlamentsabgeordneten und einem Senator vertreten. Diese direkte Beteiligung an den Wahlen in einer Allianz mit der PRD hat an der Basis des Barzón, einerseits Unmut und Unstimmigkeiten hervorgerufen. Auf der anderen Seite sind die meisten Barzonistas davon überzeugt, daß sie durch die Vertretung in beiden Kammern eine größere Chance haben, an einer grundsätzlichen Veränderung der Regierungspolitik in bezug auf die Verschuldungsproblematik und auf die Wirtschaftspolitik mitzuwirken.

Paulina trifft die Ärmsten am härtesten

“Paulina ist sehr gefährlich“, warnte die Nationale Behörde für Metereologie zwölf Stunden bevor der Wirbelsturm die Küste erreichte und empfahl sofortige Vorsichtsmaßnahmen. Doch die Behörden blieben untätig. Bürokratie und haarsträubender Diletantismus, oder mit den Worten des Arbeitgeberverbandspräsidenten von Acapulco Bajos Valverde, „völlige Nutzlosigkeit, Unfähigkeit und Unverantwortlichkeit der Katastrophenschutzbehörden“ sorgten dafür, daß die Bevölkerung nicht ausreichend gewarnt, geschweige denn evakuiert wurde. So prallte der Sturm mit Geschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern und riesigen Flutwellen auf die Küste und traf eine völlig unvorbereitete Bevölkerung. Gleichzeitig regnete es stundenlang mit voller Wucht. Abhänge kamen ins Rutschen, Bächen oder Feldwegen bildeten reißende Ströme, Häuser wurden von den Böen wie Streichholzschachteln weggepustet, und das Meer warf Schiffe auf das Land. Politiker der beiden Oppositionsparteien Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und Partei der Nationalen Aktion (PAN) haben nun über eine Parlamentskommission Untersuchungen eingeleitet, ob die lokalen und nationalen Behörden für ihre Untätigkeit juristisch belangt werden können.

Piña Colada statt Trinkwasser

Naturkatastrophen sind unvermeidbar. Aber vermeidbar sind ein guter Teil ihrer zerstörerischen Auswirkungen auf die Menschen. Die meisten Todesopfer sind in den Armenviertel n von Acapulco und den indianischen Dörfern der Sierra Madre zu beklagen, und das ist kein Zufall. Der Wirbelsturm Paulina hat aus zwei Gründen einen Unterschied zwischen Arm und Reich gemacht. Einerseits wurden die Häuser der Wohlhabenden längst nicht so stark zerstört, weil sie stabiler gebaut sind. Andererseits kam aber die Hilfe zuerst bei den Reichen an, die auch die politische Kontrolle ausüben. Die Hilfsgüter wurden von einzelnen Politikern der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) zudem noch gebunkert und nur an ihre Klientel verteilt. Doch der Reihe nach.
In Acapulco, der mit 1,5 Millionen Einwohnern bei weitem größten Stadt im Katastrophengebiet, wurden ganze Stadtviertel an den steil aufsteigenden Hügeln der Küstenstadt weggeschwemmt. Die meisten der Todesopfer sind dort ihr Schlamm begraben worden, wo die Ärmsten der Armen wohnen. Sie sind aus den Bergregionen in die Tourismusmetropole gezogen, um etwas Geld zu verdienen. Ihre Hütten bestehen meist aus einem nur notdürftig betonierten Fundament, schwachen Wänden und Dächern aus Holz oder Wellblech. Obwohl sich die Funktionäre der Stadtverwaltung über die Gefährlichkeit vieler Bauplätze an den Hügeln bewußt waren, wurden dort Grundstücke verkauft und dafür Bestechungsgelder kassiert. Ein weiterer Grund für das Ausmaß der Schäden ist außerdem, daß in Acapulco aufgrund des chaotischen Wachstums der Stadt nie ein effizientes und funktionierendes Abwassersystem installiert wurde. Während den Touristen in den nahezu unversehrten Hotels auf der Vergnügungsmeile bereits wieder Piña Coladas serviert wurden, standen die Menschen in den Armenvierteln zehn Tage nach der Katastrophe noch stundenlang um Trinkwasser in Plastikflaschen an, weil eine Cholera-Epedemie drohte. Vor Gott sind zwar alle Menschen gleich, aber auf Erden zählt der Geldbeutel.
Zwei Wochen nach den sintflutartigen Regenfällen waren noch immer viele Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Hauptsächlich die indianischen Gemeinden im auch bei normalen Witterungsbedingungen äußerst schwer zugänglichen Bergland das von der Küste aus steil auf über 3000 Meter ansteigt, waren davon betroffen. So teilte beispielsweise ein Vertreter der Kirchlichen Kommission für Indígenas über eine Woche nach dem Unwetter mit, daß „viele Gemeinden noch überhaupt keine Hilfe erhalten haben.“ Da es auf dem Landweg unmöglich sei, die Dörfer zu erreichen, habe die Kommission Helikopter angefordert, sagte der Vertreter. „Aber wir konnten nichts erreichen, weil sich die Hilfe in den Hauptstädten der Landkreise konzentriert, wo eine absolute Desorganisation herrscht.“
Die Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero zählen neben dem weiter südlich liegenden Chiapas zu den ärmsten Regionen Mexikos. Die Bewohner der Sierra Madre, einem zerklüfteten Gebirge, das sich an der Pazifikküste entlang zieht, sind hauptsächlich Kleinbauern. An vielen Orten konnte dieses Jahr die Maisernte aufgrund einer langanhaltenden Dürreperiode nur teilweise oder gar nicht eingebracht werden. Der Wirbelsturm hat nun auch die Kaffee-Ernte fast völlig zerstört. Die CNOC, eine Vereinigung von Kaffee-Kleinproduzenten, schätzt, daß die insgesamt 60.000 betroffenen Kaffee-Kleinbauern einen Gegenwert von etwa 75 Millionen Dollar verloren haben. Viel schlimmer für die Kaffeeproduzenten ist aber, daß oftmals nicht nur die Ernte vernichtet wurde, sondern ihre Kaffeepflanzen durch die Regenfälle weggeschwemmt wurden. Auch die Fischer haben ihren Lebensunterhalt verloren, weil ihre Boote zerstört wurden. Und der Tourismus, als dritter wichtiger Wirtschaftszweig, wird Monate benötigen, bis er sich erholt hat.

Hilfe nur zum Preis der Unterordnung

Dem Versagen bei der Vorwarnung folgte das Absahnen nach der Katastrophe. Hilfeleistungen blieben im Chaos und der Korruption stecken, während sich einige Profiteure die Taschen und ganze Lagerhallen vollstopften und die regierenden PRI-Funktionäre versuchten, politisch vom Elend zu profitieren. Der flugs aus Deutschland zurückgekehrte Präsident Zedillo zeigte demonstrativ Volksnähe, um sein Image als farbloser Technokrat loszuwerden. „Ich kann nicht zuhause bleiben. Ich kann nicht schlafen. Zum ersten Mal seit ich Präsident bin, habe ich den Schlaf verloren“, sagte er gegenüber der Presse während er das Katastrophengebiet besuchte und barfüßige Kinder an sein Herz drückte. In Fernsehinterviews, die von den drei größten Kanälen ausgestrahlt wurden, präsentierte er sich als besorgter und zupackender Landesvater, der für sofortige und unbürokratische Hilfe sorgt. Doch genau daran mangelte es. Während die am schlimmsten Betroffenen zusehen mußten, wie sie Lebensmittel und Wasser beschaffen konnten, konzentrierten sich die Hilfsmaßnahmen der Regierung auf die Ferienzentren Huatulco und Puerto Escondido in Oaxaca sowie die Tourismuszone von Acapulco. Die oppositionellen PRD-Senatoren Félix Salgado und Héctor Sánchez bezeichneten dieses Vorgehen im Parlament als „kriminell“.
Delfino Serrano Galeana, Mitglied des Menschrechtskomitees einer Kirchengemeinde im Stadtviertel Zapata in Acapulco, bringt außerdem eine andere Sorge vieler Menschen zum Ausdruck. Für ihn besteht die größte Problem darin, daß die Hilfe nicht immer bei den Bedürftigen ankommt. „Beim letzten Wirbelsturm wurde die Hilfe an die PRI-Chefs verteilt, die den größten Teil für sich behalten haben“, erzählt er. Daß seine Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt das Beispiel der Kleinstadt Pochutla an der Küste von Oaxaca. Obwohl sie von der linken PRD regiert wird, hat der als Hardliner bekannte PRI-Gouverneur von Oaxaca Diódoro Carrasco Altamirano die Hilfstransporte an den Chef seiner eigenen Partei in Pochutla weitergeleitet, während die Stadtverwaltung nichts zugewiesen bekam. Auf diese Weise versuchen die PRI-Funktionäre, die verlorene politische Kontrolle in der Gemeinde wiederzugewinnen. Das korporativistische Erbe der PRI feiert wieder einmal einen Triumph.

Attentat auf Bischof Samuel Ruíz

Die Erklärung der Friedensnobelpreisträger läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: In Chiapas herrscht Krieg. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, sowohl auf internationaler Ebene als auch in Mexiko selbst, hat sich das politische Panorama im mexikanischen Südosten in den letzten Monaten deutlich verändert. Der jüngste Zwischenfall spielte sich am 4. November in El Crucero in der Nordregion von Chiapas ab. Hier versuchten Mitglieder der mit der regierenden PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) verbundenen paramilitärischen Bürgerkriegstruppe Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit), den Bischof von San Cristóbal Samuel Ruíz und seinen Mitarbeiter Raúl Vera López in einem Hinterhalt zu ermorden. Ein Augenzeuge berichtet, daß „aus einer Distanz von etwa hundert Metern Gewehrsalven auf die Fahrzeuge abgegeben wurden“, als der Bischof in Begleitung von sechzig Personen durch das Dorf fuhr. Drei Priester wurden dabei angeschossen, Ruíz kam mit dem Schrecken davon. Der Vikar der Diözese von San Cristóbal, Gonzalo Ituarte, gab nach dem Attentat bekannt, daß einige Tage vor dem Besuch in der Region führende Mitglieder von Paz y Justicia damit gedroht hatten, die Rundreise von Samuel Ruíz zu verhindern. Bereits im Mai 1996 war Raúl Vera López von den Paramilitärs angegriffen und mit dem Tode bedroht worden. Zwei Tage nach dem Überfall in El Crucero wurde in San Cristóbal auch auf María de la Luz Ruíz García, die Schwester des Bischofs, ein zweites Attentat begangen.

„Weder Vermittlung, noch Dialog, noch Friede“

Die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), der linken PRD (Partei der Demokratischen Revolution) und Aktivisten der Diözese von San Cristóbal auf der einen Seite und den paramilitärischen Einheiten, die der PRI nahestehen, andererseits, haben in der Nordregion von Chiapas in den letzten Monaten Dutzende Todesopfer gefordert. Viele Indígenafamilien dieser Region mußten aus ihren Dörfern fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig bedroht Paz y Justicia, die auch mit Militär und Polizei eng verbunden ist, Menschenrechtsdelegationen und Besuche von JournalistInnen.
Die Auseinandersetzungen spielen sich vor dem Hintergrund ab, daß sich die mexikanische Regierung nach wie vor weigert, das am 16. Februar 1996 zwischen ihr und der EZLN geschlossene Abkommen über Indianische Rechte und Kultur, das sogenannte Abkommen von San Andrés, auch in die Praxis umzusetzen. Seit über einem Jahr ist der Dialog nun unterbrochen, während die Regierung gleichzeitig alles unternimmt, um durch Spaltungsversuche und Militarisierung die aufständischen Indígenas gegeneinander auszuspielen und zu demoralisieren. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie der „Kriegführung niedriger Intensität“ ist der Aufbau paramilitärischer Gruppen, wie Paz y Justicia in der Nordregion um Tila. Bischof Ruíz und die Diözese von San Cristóbal werden von der Gruppe attackiert, weil sie sich für die Umsetzung des Abkommens einsetzen und sich deutlich gegen die Militarisierung aussprechen, Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und für soziale und politische Reformen eintreten.
„Die Botschaft der Regierung an die EZLN ist klar“, schreibt Subcomandante Marcos in einer Erklärung, die das Attentat verurteilt: „Weder Vermittlung, noch Dialog, noch Friede.“ Daran konnte ohnehin kein Zweifel mehr bestehen, nachdem auch der zivile Marsch von 1111 Zapatistas in der Hauptstadt und die damit verbundenen Demonstrationen im September die Regierung nicht an den Verhandlungstisch zurückzwingen konnte. Statt dessen weitet sich der Bürgerkrieg vom Norden nun auch in der Region Los Altos, rund um San Cristóbal, aus. Auch in der Selva Lacandona, dem eigentlichen Zentrum des zapatistischen Aufstandes, nehmen die Spannungen zu.
Wie die Friedensnobelpreisträger betonen, stellt der Angriff auf Samuel Ruíz und seine Mitarbeiter keinen isolierten Einzelfall dar, sondern steht im Kontext „wachsender tolerierter Gewaltanwendung“. Was damit gemeint ist, zeigt das Beispiel des Landkreises Chenalho nur wenige Kilometer nördlich von San Cristóbal. Hier haben in den letzten Tagen regelmäßig Gruppen von PRI-Anhängern mit der Unterstützung durch Polizeitruppen Sympathisanten der EZLN überfallen. Dabei wurden ihre Hütten zerstört und ihr Eigentum geraubt. Insgesamt sind laut Angaben von verschiedenen Presseberichten in den letzten Wochen allein in Chenalho 15 Menschen ermordet und 200 Familien vertrieben worden. Bemerkenswert ist allerdings , daß sich die Taktik der EZLN verändert zu haben scheint, da sie jetzt auch gegen die Aggressoren vorgeht und mehrere von ihnen erschossen hat, nachdem sie auf die Überfälle lange Zeit nicht militärisch reagiert hatte, um die Situation nicht weiter zuzuspitzen.

Militärs waschen Hände in Unschuld

Außer Paz y Justicia im Norden operieren mittlerweile ähnliche Gruppe in anderen Regionen von Chiapas. So beispielsweise die Chinchulines in Bachajón, die Alianza San Bartolomé de Los Llanos im traditionell konfliktstarken Landkreis Venustiano Carranza oder das Movimiento Indígena Revolucionario Antizapatista (MIRA – antizapatistische revolutionäre Indígena-Bewegung) in Oxchuc. Überall werden sie angeführt von in der Öffentlichkeit bekannten lokalen PRI-Führern, die die Mitglieder unter den Jugendlichen der Dorfbevölkerung rekrutieren und für chiapanekische Verhältnisse gut bezahlen. Ehemalige Militärs übernehmen das militärische Training, an Waffen fehlt es selbstverständlich ebenfalls nicht. Außerdem haben die Gruppen noch etwas gemein: Sie tauchen überall dort auf, wo die EZLN oder andere oppositionelle Gruppen Fortschritte bei der Organisierung machen. Ihre Funktion ist, durch Provokationen und offene Repression Sympathisanten oppositioneller Organisationen einzuschüchtern. Militär und Polizei als offizielle bewaffnete Einheiten der Regierung können gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen und so tun, als hätten sie mit den „Auseinandersetzungen zwischen Dorfgemeinschaften“ nichts zu tun.

Zwischen Polizeigewalt und Demokratisierung

Nachdem die PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) einige Bundesstaaten im nördlichen Mexiko an die rechtskonservative PAN (Partei der Nationalen Aktion) verloren hatte, ging der Hauptstadtdistrikt nun an die linke Oppositionspartei PRD (Partei der Demokratischen Revolution). Ihre Gallionsfigur, der zweifache Präsidentschaftskandidat Cuauhtémoc Cárdenas, konnte seine Rivalen ausstechen und einen triumphalen Wahlsieg einfahren, der sogar die Partei selbst überraschte. Vor den Wahlen gab die PRD bekannt, mit etwa 20% der Stimmen zu rechnen, tatsächlich erhielt sie aber doppelt soviel.
Doch noch hat Cárdenas die Regierungsgewalt über eine der größten Städte der Welt nicht übernommen, die Amtsübergabe findet erst Anfang Dezember statt. Das große Fragezeichen, das in diesen Wochen über seinem Machtantritt steht, ist, in welche Richtung er den Distrito Federal steuern wird. Wird sich Cárdenas mit der durch und durch korrupten Stadtverwaltung und ihren Exekutivorganen anlegen, oder wird es zu einem Kompromiß kommen, der letztlich die bestehenden Strukturen nicht antastet? Wird die PRD in Mexiko-Stadt die soziale und politische Mobilisierung entfalten können, die notwendig ist, um eine soziale Reformpolitik einzuleiten, oder wird sie sich den Sachzwängen beugen, die der neoliberale Kurs der PRI-Regierung auf Bundesebene vorgibt? Diese Fragen bleiben vorläufig unbeantwortet, denn Cárdenas wird sein Regierungsprogramm und die Besetzung der führenden Posten der Stadtverwaltung erst noch bekanntgeben.
Wie groß das Problem für die PRD und ihren neuen Bürgermeister ist, die Stadtverwaltung und die Exekutive, vor allem die Polizeieinheiten, in den Griff zu bekommen, demonstrieren spektakuläre Razzien, die in den letzten Wochen fast täglich in Armutsquartieren der Hauptstadt stattfinden. Schwerbewaffnete Spezialeinheiten der Polizei, unterstützt von Helikoptern, dringen dabei in Stadtviertel ein, durchsuchen wahllos Wohnungen, schlagen Fensterscheiben und Türen ein und verhaften Dutzende Personen, gegen die keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen. Als Vorwand dient die Verbrechenbekämpfung, tatsächlich sind die großangelegten und vor laufenden Fernsehkameras inszenierten Razzien aber Bürgerkriegsübungen, Einschüchterungsaktionen und Machtdemonstrationen des Polizeiapparates, der dafür bekannt ist, daß er mit dem organisierten Verbrechen auf das engste verzahnt ist. Die zahlreichen Fälle von Polizeikommandanten, die in den letzten Monaten als Mitglieder von Drogenkartellen identifiziert werden konnten, sind nur die Spitze des Eisberges der kriminellen Potenz der Exekutivorgane.

Zorros und Jaguar in action

Am 28. August beispielsweise überfielen 500 Angehörige von Polizeispezialeinheiten der SSP (Ministerium für Öffentliche Sicherheit) die Stadtviertel Anahuac und Santa María de la Ribera. Um zehn Uhr dreißig fuhren die Mitglieder der Einheiten Zorro und Jaguar in einem Konvoi von Fahrzeugen in das Operationsgebiet und schwärmten mit gezogenen Waffen aus, um Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Aus der Luft wurde die Aktion aus zwei Helikoptern koordiniert. Die Szenerie erinnerte an eine Bürgerkriegssituation. Menschen wurden teilweise unbekleidet aus ihren Häusern geholt und in Gefängsnistransportern eingesperrt, dabei wurden auch Kinder und Alte inhaftiert. Auch der Präsident der PRD im Viertel, Carlos Reyes Gámiz, wurde verhaftet, ohne daß auch nur der geringste Verdachtsmoment gegen ihn vorlag. In einem Interview erklärte er nach seiner Freilassung, daß ihm nicht einmal erlaubt wurde, sich zu identifizieren. Stattdessen schlugen ihn die Beamten und drohten ihm an, Drogen in seine Taschen “zu säen”. Diese Praxis wird von Polizeikräften häufig angewendet, um nach einer willkürlichen Verhaftung eine Anschuldigung zu fabrizieren. Insgesamt wurden während der Operation 56 Menschen festgenommen und auf eine Polizeistation gebracht.
Nur kurze Zeit nach dem Ende der Razzia versammelten sich 250 Nachbarn der Inhaftierten und zogen vor die Polizeistation, um eine sofortige Freilassung der Verhafteten zu fordern. Bis zum Abend konnten sie dies nach weiteren Zusammenstößen mit schwerbewaffneten Polizeieinheiten auch erreichen. Cuauhtémoc Cárdenas sah sich noch am selben Abend genötigt, zu dem Vorfall Stellung zu nehmen. “Das Recht darf nicht verletzt werden, und es müssen die Verantwortlichen für diese Willkürakte bestraft werden”, erklärte er. Auch das Exekutivkomitee der PRD in Mexiko-Stadt verurteilte die Polizeiübergriffe und forderte ein sofortiges Ende von Operationen der SSP. Außerdem verlangte es den Rücktritt des Chefs der SSP, Enrique Salgado Cordero, der letztes Jahr als erster Militär einen leitenden Posten in der Polizeihierarchie der Hauptstadt übernommen hat. Seitdem sind weitere hochrangige Militärs und über tausend Soldaten in den Polizeidienst eingetreten, eine Entwicklung, die von Menschenrechtsorganisationen heftig kritisiert wird.
Aus Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen der Hauptstadt kommt nun der Vorschlag, Bürgerkomitees einzurichten, die die Aktivitäten der Exekutivorgane überwachen und ein Gegengewicht zu den Willkürakten der Polizeikräfte bilden sollen. Auch Cárdenas selbst hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht. Falls er nach seinem Amtsantritt damit ernst macht, wird es zur Machtprobe kommen. Die Hoffnungen und Erwartungen an Cuauhtémoc Cárdenas sind groß. Ob er ihnen gerecht wird, kann der neue Bürgermeister von Mexiko-Stadt ab Dezember demonstrieren.

Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

Der Traum von Land und Freiheit

Es war wohl auch die Ähnlichkeit zu den eigenen Tugenden, die Mexiko Ende des vergangenen Jahrhunderts so attraktiv für Deutsche gemacht hatte: Von 1877 bis 1911 herrschte der Diktator Porfirio Díaz unter dem Motto “Ordnung und Fortschritt”. In seiner Amtszeit begann der Aufstieg deutscher Einwanderer zu den mächtigsten Kaffeeplantagenbesitzern in Chiapas. Ordnung und Fortschritt diente als Rechtfertigung für die Enteignung indianischer Gemeinden und die Vertreibung von Kleinbauern von den fruchtbarsten Böden im südlichsten Bundesstaat Mexikos. Ordnung und Fortschritt bedeutete Reichtum für einige wenige und Armut und Ausbeutung für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Revolution zwischen 1910 und 1920 führte in Mexiko zu einschneidenden Veränderungen, doch in Chiapas blieb alles beim alten: Isolierte Aufstände konnten die Macht der Oligarchie nicht erschüttern.

Ordnung und Fortschritt

Was Ordnung und Fortschritt auf den Fincas der deutschen Kaffeepflanzer für die indianischen SaisonarbeiterInnen hieß, schilderte schon B. Traven in seiner “Rebellion der Gehenkten”: “Nein, ich will nicht in den Soconusco gehen. Dort sind die Deutschen, sie sind die Herren der Kaffeeplantagen. Sie sind barbarischer als die Bestien des Urwalds und behandeln dich wie einen Hund.”
Wegen der miserablen Arbeitsbedingungen hatten selbst professionelle Anwerber große Schwierigkeiten, ausreichend Arbeitskräfte für die Kaffeernte zu finden: Nach monatelanger, härtester Arbeit auf den Kaffeefeldern kehrten die ArbeiterInnen ohne Geld, zum Teil sogar mit Schulden in ihre Dörfer im Hochland zurück. Ihren kargen Lohn hatten die ArbeiterInnen in Wertmarken ausbezahlt bekommen, die sie nur in Läden einlösen konnten, die dem Finquero gehörten. Selbstverständlich waren die Preise in diesen Tiendas de Raya überhöht, so daß die ArbeiterInnen anschreiben lassen mußten. Und somit waren sie verpflichtet, ihre Schulden im nächsten Jahr abzuarbeiten. Obwohl seit der Revolution verboten, hielt sich das System der Tiendas de Raya bis lange nach dem 2. Weltkrieg. Und auch sonst herrschten auf den Kaffeeplantagen eigene Gesetze, die die Finqueros willkürlich bestimmen konnten. Wer nicht parierte, kam ins Finca-eigene Gefängnis.
Seit Jahrzehnten sind die deutschen Kaffeebarone enge Verbündete der Staatspartei PRI. Die Regierung stellt Militär und Polizei, um zusammen mit den Guardias Blancas, den privaten Todesschwadronen der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn ihnen, wie in den vergangenen Jahren, die Kontrolle einmal aus den Händen zu gleiten droht, kennt die Repression keine Grenzen mehr. Nach Schätzungen des katholischen Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas wurden allein 1994 in Chiapas, außerhalb des Aufstandsgebietes der EZLN, 400 Bauern und Bäuerinnen ermordet.
1994 war ein schweres Jahr für die deutschen Kaffeepflanzer in Chiapas. Nachdem die EZLN am 1. Januar 1994 in der Selva Lacandona und im Hochland ihren Aufstand für “Land und Freiheit” begonnen hatte, wurde es auch im Soconusco und in der Frailesca immer unruhiger.
Ein Zentrum des Widerstands war das Dorf Nueva Palestina. Die DorfbewohnerInnen – Kleinbauern und SaisonarbeiterInnen auf den nahegelegenen Kaffeefincas – versuchten bereits seit Jahren, zusätzliches Land zu erkämpfen. Mit gutem Recht, schließlich war der Großgrundbesitz in der Nähe von Nueva Palestina illegal. Als Höchstgrenze für individuellen Landbesitz ist im mexikanischen Agrargesetz nämlich 300 Hektar festgelegt. Doch allein die Kaffeefinca Liquidambar, in unmittelbarer Nähe des Dorfes gelegen, hat mehrere Tausend Hektar. Eigentümerin: Die Familie Schimpf-Hudler, die insgesamt über 10.000 Hektar Land besitzt und zu den größten Grundbesitzern in Chiapas überhaupt zählt. Lediglich pro Forma ist ihr Land allerdings auf Familienmitglieder und Strohmänner aufgeteilt, allein für die Finca Liquidambar haben 13 Personen Besitztitel.
Der Aufstieg des deutschen Einwanderers Hermann Schimpf wird von Boris Kanzleiter und Dirk Pesara detailreich nacherzählt. Bis zu seinem Tod 1976 war Hermann Schimpf nicht nur zu einem der reichsten Kaffeepflanzer in Chiapas geworden. Mit den Gewinnen aus dem Kaffeeverkauf hatte er auch in Deutschland ein Millionenvermögen angehäuft und mehrere Unternehmen erworben. Hermann Schimpf betrieb sein Geschäft mit deutscher Gründlichkeit und ließ es sich nicht nehmen, die Arbeiter persönlich mit dem Stock anzutreiben. Auch sein Sohn German Schimpf, der die Geschäfte auf Liquidambar seit den sechziger Jahren führte, bewahrte sich die rechte Einstellung: Im Verwaltungsgebäude von Liquidambar war noch bis 1994 eine NS-Ehrenurkunde mit Hakenkreuz ausgestellt, die er für seinen Dienst in der Wehrmacht erhalten hatte.
Für die BewohnerInnen von Nueva Palestina haben die Schimpf-Hudlers nur Verachtung übrig. Vom Reichtum, der in Liquidambar produziert wurde, bekommen sie nichts zu sehen. Ihr größter Wunsch: Die Ausbeutung soll ein Ende haben. Sie organisierten sich in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV). Nach langer Vorbereitung war es am 4. August 1994 soweit: 500 Mitglieder der UCPFV besetzten Liquidambar. Wenig später folgte Prusia, die nur wenige Kilometer entfernt gelegene Finca der ebenfalls deutschstämmigen Kaffeepflanzerfamilie von Knoop, und mehrere weitere Fincas in der Frailesca und im Soconusco.
Der kurze Winter der Anarchie begann. Eigenständig organisierten die BesetzerInnen die Arbeit auf den Fincas und gründeten eine Kooperative. Hatten sie im Vorjahr auf Liquidambar noch einen Tageslohn von rund 4,- DM erhalten, so bezahlten sie sich diesmal etwa 15,- DM. Aber vor allem: Der Finca-eigene Sicherheitsdienst war verschwunden, die Arbeit war kollektiv organisiert, für die Familie und nicht mehr für den Finquero wurde gearbeitet.

Ein Winter der Anarchie

Die Finqueros schäumten vor Wut, schwörten Rache und organisierten den Gegenschlag. Doch 1994 befanden sie sich in der Defensive. Erst mit dem Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo und des Gouverneurs von Chiapas Robledo Rincón (der nur durch massiven Wahlbetrug an die Macht kam) im Dezember 1994 begann sich das Blatt erneut zu wenden.
Mexiko zum Jahreswechsel 1994/95: Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, nach dem “Tequila-Crash” muß die heimische Währung durch umfangreiche Auslandskredite gestützt werden, viele Unternehmen gehen Bankrott. Der neue Präsident will Stärke zeigen und holt zum militärischen Gegenschlag gegen die ZapatistInnen und andere oppositionelle Bewegungen aus.
Auch die Kaffeeoligarchie erholt sich von ihrem Schock: Todesschwadronen ermorden Aktivisten der UCPFV und der Oppositionspartei PRD. Ende April 1995 werden Liquidambar, Prusia und andere Kaffeefincas durch ein Großaufgebot von Militär, Polizei und Guardias Blancas geräumt, im Mai werden Haftbefehle gegen 170 Mitglieder der UCPFV ausgestellt. Immer wieder kommt es zu Übergriffen der Guardias Blancas gegen die BewohnerInnen von Nueva Palestina und anderer Gemeinden der Umgebung, Ende 1995 wird der UCPFV-Aktivist Reyes Penagos Martínez von der Polizei gefoltert und ermordet. Seit Oktober 1996 steht Nueva Palestina unter ständiger Militärkontrolle, doch die Gegend um Liquidambar und Prusia kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Opposition gegen die deutschen Kaffeebarone hält an.
Die Autoren haben mit “Die Rebellion der Habenichtse” ein spannendes Buch über den Kampf gegen die deutschen Kaffeebarone in Chiapas geschrieben. Ausführlich kommen sowohl die Menschen aus Nueva Palestina als auch die deutschen Kaffeepflanzer zu Wort. Gerade diese Gespräche sind eine gute Ergänzung zu den Informationen über Geschichte und Politik in Chiapas, den Aufstand der EZLN oder die Mechanismen des internationalen Kaffeemarktes. Wohl niemand könnte die Großgrundbesitzer besser demaskieren als sie selbst, wenn man sie zu Wort kommen läßt. Folke von Knoop beispielsweise analysierte die Besetzung seiner Finca Prusia folgendermaßen: “Die Besetzungen haben auch mit Greenpeace und Sendero Luminoso in Peru zu tun, die alle vorn das Gute zeigen, aber im Hintergrund ist alles gesteuert.”

B. Kanzleiter/D. Pesara: Die Rebellion der Habenichtse. Der Kampf um Land und Freiheit in Chiapas. Edition ID-Archiv, Berlin 1997, 144 Seiten, 16,- DM.

Die Macht des Milchmanns und die Ohnmacht des Dinosauriers

Mehrmals hatten ihn die me­xikanischen Zeitungen in den letzten Jahren und Monaten schon für tot erklärt, aber er stand immer nach kurzer Zeit wieder auf, um seine Macht an der Spitze des Verbandes der Werktätigen von Mexiko, der CTM, zu behaupten. Die Macht um fast jeden Preis, das war die Leidenschaft dieses greisen Kämpfers, der vor nun fast 75 Jahren die Arbeit eines Milch­mannes aufgegeben hatte, um als Gewerkschaftsfunktionär zu die­nen und insgesamt 55 Jahre lang als Gewerkschaftsführer zu be­fehlen.
Die revolutionäre mexikani­sche Verfassung von 1917 hatte den Staat zum Schiedsrichter in allen Streitigkeiten zwischen Kapital und Arbeit gemacht, und in der Folgezeit verstanden es die mexikanischen Präsidenten als eine ihrer vornehmen Aufga­ben, die zunächst noch schwa­chen Gewerkschaften nach Kräften zu fördern und aus ihnen ein Instrument nationaler Politik zu machen. Der Sector Obrero (Arbeitersektor), in dem die 1936 gegründete CTM seit ihrer Gründung die wichtigste Rolle spielte, wurde parallel dazu eine der wichtigen vier Säulen der of­fiziellen Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institu­cional). Das bedeutete für die Führungsschicht der CTM, daß sie mit Erfolg Anspruch auf im­mer mehr Ämter in Parlamenten, bundesstaatlichen und städti­schen Verwaltungen erheben konnte.
Fidel Velázquez, der 1940 zum ersten Mal für vier Jahre und dann seit 1946 bis heute den Vorsitz in der CTM übernom­men hatte, hat dieses System ei­ner systematischen Korruption des Gewerkschaftswesens zu­gunsten “seiner” Regierungspar­tei und des jeweiligen Staatsprä­sidenten mit Inbrunst verteidigt und aus den Gewerkschaften Kontrollinstrumente des Regi­mes zur Disziplinierung der Ar­beiterinnen und Arbeiter und zur Kanalisierung ihrer Wähler­stimmen gemacht.
Abweichung wurde nicht ge­duldet: “Wer abweicht, beleidigt die organisierte Arbeiterbewe­gung.” Oder sein berühmtester Spruch: “Wer sich bewegt, kommt nicht mit aufs Foto.” Und die Fotos mit ihm und seinen Getreuen an der Seite des jewei­ligen Staatspräsidenten waren ihm heilig.
“Wir sind mit der Gewalt der Waffen an die Macht gekom­men, da werden sie uns doch nicht mit Stimmzetteln vertrei­ben!” So der Zynismus, mit dem demokratische Wahlen von ihm betrachtet wurden. So nahm er die Wahlen zwar nicht ernst, hielt sie aber doch für so wichtig, daß er alles in seiner Macht Ste­hende tat, um die sechs Millio­nen Mitglieder seiner Organisa­tion für die PRI an die Wahlurne zu treiben und so die Notwen­digkeit von Wahlfälschungen, die er im Zweifelsfall für legitim hielt, zu vermindern. Noch auf dem Sterbebett fragte er seinen Arzt, ob der auch bei den bevor­stehenden Wahlen am 6. Juli wählen werde.
Fidel Velázquez war es, der seit 1946 alle sechs Jahre in der Öffentlichkeit verkünden durfte, wen der jeweilige Präsident am Ende seiner Amtszeit zu seinem Nachfolger ausersehen hatte, und die Kursänderungen, die diese Präsidenten verfolgten, wurden dann von Velázquez auch durch­gesetzt, wenn sie bedeuteten, daß die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Füßen getreten wurden. Wo sich Opposition ge­gen die Staatsmacht rührte, war Velázquez in seiner Verfol­gungswut meist sogar noch hef­tiger als die Staatspräsidenten selbst. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde er zu einem glü­henden Antikommunisten, der alle des Kommunismus Ver­dächtigen denunzierte, verfolgte und aus der Gewerkschaft hin­auswarf. Als sich Ende der fünf­ziger Jahre Tendenzen einer au­thentischen Gewerkschaftsver­tretung rührten, forderte er die blutige Repression der “Subversion”. 1968 war er der erste, der gegenüber den rebellie­renden Studenten eine harte Hand forderte. Das Ergebnis der harten Hand waren Hunderte to­ter Studenten. Und den ur­sprünglich aus der PRI stam­menden oppositionellen Prä­sidentschaftskandidaten Cuauh­témoc Cárdenas beschimpfte er 1988 als “Verräter”, um dann den Übergang des Präsidenten Salinas zu einer konsequent neo­liberalen Politik nach zahmen Protesten zu akzeptieren und als Erfolg zu feiern. Und natürlich forderte er nach dem Aufstand der Zapatisten in Chiapas 1994 sofort, mit ihnen auf gewaltsame Weise Schluß zu machen.
Fidel Velázquez war mit den Jahren eine Institution geworden, ein Dinosaurier, der die Zeichen der Zeit nicht mehr verstand, gleichwohl aber wie ein Koloß allen notwendigen Veränderun­gen und jeder demokratischen Neuerung im Wege stand. Jetzt erst – ohne ihn – hätten die mexi­kanische Gewerkschaftsbewe­gung und die PRI noch einmal eine Chance, sich so zu verän­dern, wie sie das schon vor Jahr­zehnten hätten tun müssen, um der Zeit gewachsen zu sein. Die Ergebnisse der Wahlen im Juli werden zeigen, ob es dafür nicht schon zu spät ist und die PRI mit dem Beginn des neuen Jahrhun­derts die Macht doch abtreten muß.

“Das Land gehört uns!”

Nueva Palestina ist ein kleines Dorf in Chiapas, dem südlichsten der 32 Bundessstaaten Mexikos. Ein Rinnsal schlängelt sich durch den Ort und sorgt an seinem Ufer für spärliches Grün durch Sträucher und Bäume. Hühner gakkern umher und im Schatten dösen abgemagerte Hunde.(…)
Die Familien in Nueva Palestina sind arm. Das Dorf unterscheidet sich kaum von Tausenden anderen in Mexiko. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, daß in Nueva Palestina Krieg geführt wird. Eigentlich muß es heißen, daß gegen Nueva Palestina Krieg geführt wird. Das Dorf liegt nur wenige Kilometer von den Kaffeeplantagen Liquidambar und Prusia entfernt, Eigentum der Familien Schimpf-Hudler und von Knoop aus dem fernen Deutschland. Der Krieg gegen Nueva Palestina sorgt für keine großen Schlagzeilen. Er wird leise und verdeckt geführt, ist aber umso brutaler und zermürbender.
Seitdem sich die BewohnerInnen Nueva Palestinas in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) zusammengeschlossen haben, um Land für die Erweiterung ihrer landwirtschaftlichen Kooperative, ihres Ejidos, zu erstreiten, lasten Angst und Unsicherheit auf ihnen. Fast täglich kommen bewaffnete Einheiten ins Dorf. Wenn die Jeeps aus dem Tal heraufdröhnen und am Horizont eine weit sichtbare Staubwolke aufwirbeln, wird es plötzlich still in der Siedlung. Meistens passiert die Kolonne Nueva Palestina ohne anzuhalten. Dann atmen die Menschen, die sich in ihren Häusern versteckt halten, erleichtert auf. Manchmal jedoch kommen die Fahrzeuge mitten in der Ortschaft zum Stehen und vermummte Gestalten mit Maschinenpistolen in den Händen springen von den Ladeflächen der Jeeps. Dann schließen die Menschen in Nueva Palestina vor Furcht die Augen: Heute treten sie vielleicht meine Haustür ein und rauben alles, was ich besitze. Heute verschleppen sie vielleicht mich und verbrennen mir die Augenlider. Heute tauchen sie vielleicht meinen Kopf in Dreckwasser und vergewaltigen mich, wie vor kurzem Julieta Flores. Oder ich kehre als verstümmelter Leichnam zurück, wie Reyes Penagos Martínez.
Nur kurz währte die Zeit, als die Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben ihre Herzen mit Optimismus erfüllte.
Begonnen hatte alles am 4. August 1994.(…)

Liquidambar wird besetzt

In den Morgenstunden des 4. August 1994 erobern 500 Mitglieder der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) die deutsche Kaffeeplantage Liquidambar.(…)
Ihre Gesichter mit Masken und Tüchern verhüllt, in den Händen Macheten, Knüppel und hier und da alte Jagdflinten, sperren sie die Zufahrtswege zur Finca ab. Für einen Moment vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Ein Hauch der Mexikanischen Revolution breitet sich über der Siedlung aus.(…)
Immer mehr Menschen strömen dem Herrenhaus zu: “Hoch lebe Pancho Villa!”, “Es lebe die EZLN!”, “Das Land gehört uns!”, “Nieder mit den Reichen!”(…)
Am 15. September besetzen sie die Kaffeeplantage Prusia (Preußen), im Besitz der von Knoops, einer weiteren deutschen Großgundbesitzerfamilie im Landkreis und am 25. Oktober die Fincas Sayula, Las Chicharras sowie einhundert Hektar Staatsland. Dadurch haben sie nicht nur die größten Latifundien des Landkreises in ihre Gewalt gebracht, sondern kontrollieren durch zahlreiche Straßensperren auch 90 Prozent des Territoriums von Angel Albino Corzo.(…)

Preußen am Pazifik

Hermann Schimpf wurde am 21.4.1890 in Osterode / Harz geboren. 1923 gründete der Niedersachse mit dem 35-jährigen in Guatemala ansässigen US-Bürger Max C. J. Mohr die Kaffeegesellschaft “Mohr y Schimpf”. Damit war der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die seiner Familie mehr als nur ein gutes Auskommen sichern sollte.(…)
1977 war die Finca in 15 Einheiten unterteilt. Für diese besaßen 13 Personen Besitztitel, darunter Hermann Schimpf, sein Sohn German, dessen Ehefrau Gertrude und deren Töchter Margarita und Marianne, zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig. Auf niemanden entfielen mehr als 300 Hektar Land, somit war der Agrargesetzgebung genüge getan. Auf den Urkunden für zwei weitere vorgebliche Eigentümer, Justo Gutiérrez Bonifaz und Vidal Bermudez Bermudez, ist als Wohnanschrift San Francisco # 1517, Colonia del Valle, Mexico D. F. angegeben, interessanterweise die Hauptstadtresidenz der Familie Schimpf.(…)
Nach Hermann Schimpfs Tod übernahm sein Sohn German das Ruder auf der Kaffeeplantage. German Schimpf wurde am 13. April 1918 auf Liquidambar geboren. So besagt es auch eine Urkunde, die die Wand am Zugang zum Verwaltungsgebäude ziert. Allerdings handelt es sich hier nicht um die Geburts, sondern um eine Ehren-Urkunde der Deutschen Wehrmacht vom 23. Oktober 1938.(…)
Am 2. Mai 1987 heiratete German Schimpfs 26-jährige Tochter den Sohn des Hamburger Kaffee-Importeurs Karl Hudler. In der Kirche des Heiligen Geistes in Mexiko-Stadt gaben sich Marianne Schimpf und Laurenz Hudler das Ja-Wort.(…)
Nach der Hochzeit setzte sich der Hamburger Yuppie nicht nur ins gemachte Nest in Chiapas, sondern begann sich auch aktiv an der Lokalpolitik zu beteiligen. Die Verbesserung der Infrastruktur des Landkreises lag dem Neu-Mexikaner besonders am Herzen. Zur Modernisierung des zu seiner Finca führenden Verkehrsweges gründete er die Stiftung “Patronato Pro-Pavimentación”, der er 1994 als Präsident selbst vorstand.(…)
Der PRD-Kreistagsabgeordnete und UCPFV-Gründer Roberto Hernández Paniagua forderte am 20. Februar 1994 öffentlich Aufklärung darüber, warum bis dato mit Steuergeldern nur die Zufahrt zur Finca Montegrande, im Besitz von Salím Moisés befindlich und direkt neben Liquidambar gelegen, asphaltiert worden sei. Es waren diese Sticheleien, die Roberto Hernández Paniagua das Leben kosten sollten. Sechs Monate später wurde der PRD-Politiker von Pistoleros erschossen.(…)
Mit der Schaffung eines Naturschutzgebietes in unmittelbarer Nachbarschaft der Finca Liquidambar bot sich Laurenz Schimpf-Hudler Anfang der 90er Jahre ein anderes Betätigungsfeld. Er bekleidete als Sprecher der für den Erhalt der Flora und Fauna des Naturschutzgebietes “Reserva de la Biósfera El Triunfo” zuständigen Behörde PACONAAC, A.C. einen nicht einflußlosen Posten. Doch was die Herzen ökologisch gesinnter Menschen höher schlagen läßt, kam für die Kleinbauern der Gemeinde El Pajal einem Alptraum gleich. Von einem Tag auf den anderen wurden 90 Prozent ihrer 967 Hektar umfassenden Agrarkooperative zum Naturschutzgebiet deklariert.(…)
In der Besetzung der Plantage Prusia im Herbst 1994 sahen die BewohnerInnen El Pajals die einzige Möglichkeit, ihre Lebensverhältnisse zu ändern.(…)
Die vertriebenen Plantagen-Herren wähnten sich nach der geglückten Besetzung ihrer Ländereien mißverstanden und als Opfer einer ungerechtfertigten Kampagne. “Ich fühle mich schon wie ein Türke in Deutschland”, beschwerte sich Laurenz Schimpf-Hudler Ende ’94.(…)
zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiteten die PflückerInnen auf Liquidambar unter Selbstverwaltung. 60 Pesos pro Tag verdienten sie jetzt, das sind umgerechnet zehn US-Dollar. Auch damit lassen sich keine Reichtümer anhäufen, aber zu einem menschenwürdigen Leben reicht es. Und welch ein Unterschied zu früher. Dieses von den ArbeiterInnen ausgesprochene “früher” klingt, als läge es hundert Jahre zurück. Dabei waren noch nicht einmal sechs Monate vergangen.(…)

Das Imperium schlägt zurück

Jorge Constantino Kanter, Chef der Confederación Nacional de Propietarios Rurales (CNPR), und Abkömmling deutscher Kaffeepflanzer, läßt Ende Januar 1995 auf einer Pressekonferenz keine Zweifel daran, daß die Großgrundbesitzer mit allen Mitteln die besetzten Plantagen und Grundstücke zurückerobern wollen. Wie das Vorgehen gegen die Landbesetzer aussehen soll, kündigt er auch gleich an: “Unsere Aktionen werden sich nicht gegen die Campesinos und Ejidatarios richten, sondern gegen die Führer der Gewerkschaften.”(…)
Chiapas, 9. Februar 1995: Noch sind die Kaffeeplantagen im Landkreis Angel Albino Corzo von den Villistas besetzt. Doch jetzt marschiert das Militär gegen die Stellungen der EZLN im Lakandonischen Urwald.(…)
Während in ganz Mexiko Tausende gegen die Kriegspolitik Ernesto Zedillos protestieren, wird woanders gefeiert. Laurenz Schimpf-Hudler und Ehefrau Marianne, die Familie von Knoop und all die anderen Kaffeebarone spüren wieder Rückenwind.(…)
Guillermo Escudero, Präsident der Unión Nacional de Productores de Café (UNPC) und enger Geschäftsfreund der Familie Schimpf-Hudler, verlangt am 3. März 1995, daß die “besetzten zweitausend Ländereien außerhalb des zapatistischen Einflußbereichs” jetzt endlich geräumt werden müßten. Auch der Chef der Unión Estatal de Productores de Café (UEPC), Carlos Bracamontes Gris, ein Verwandter der von Knoops, fordert am 12. März in der Presse die Räumung der besetzten 30.000 Hektar Land in Angel Albino Corzo: “Es muß eine schnelle Lösung für das Problem gefunden werden, weil die Einnahme von Devisen notwendig ist”, sagt er.(…)
Am 28. April um sechs Uhr morgens rücken Armee, Judiciales und Seguridad Pública aus dem Tal in Richtung Liquidambar vor. In Nueva Palestina räumen sie die von den Villistas errichtete Straßensperre. Mit Jeeps und LKWs dröhnen sie die Straße zur Plantage empor.(…)
Den 300 BesetzerInnen der UCPFV bleibt nichts anderes, als in die umliegenden Berge zu fliehen.(…)
Am 17. Mai 1995 erläßt der Richter Alejandro Cardenas López in der Landeshauptstadt Tuxtla Haftbefehl gegen 170 vermeintliche Mitglieder der UCPFV. Die Anklage, Strafsache Nr. 207/95, lautet auf “bewaffneten Raubüberfall”.(…)
Die Villistas versuchen nach der Räumung mit Protestkundgebungen auf ihre dramatische Situation aufmerksam zu machen. Zwei Protestmärsche der UCPFV im Sommer 1995 nach Tuxtla enden im Kugelhagel der Polizei. Wieder werden Menschen aus Nueva Palestina verhaftet, wieder fließt Blut.(…)
Am 17. September 1995 wird der PRD-Bürgermeisterkandidat Antelmo Roblero Roblero in Jaltenango erschossen. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Nur wenige Stunden später wird der PRI-Kandidat José Rito Solis, ein langjähriger Freund der Schimpf-Hudlers, der von der Basis der PRD direkt für den Mord an Antelmo Roblero Roblero verantwortlich gemacht wird, entführt. Am 18. Sep-tember wird der PRI-Politiker Ausel Sánchez Pérez erschossen. Dieser hatte gegenüber einer Zeugin seine Beteiligung an der Ermordung Roblero Robleros gestanden und Laurenz Hudler und Folke von Knoop als Mittäter genannt. Die Welle der Gewalt, die den Landkreis erfaßt hat, fordert Opfer nach Opfer.(…)
Am 16. November 1996 nehmen Polizei-Einheiten nahe der guatemaltekischen Grenze zwei Campesinos aus der Umgebung Jaltenangos fest. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft sollen sie drei Boden-Luft-Raketen samt Abschußgerät mitgeführt haben und Mitglieder der UCPFV sein.(…)

Dirk Pesara/Boris Kanzleiter: Die Rebellion der Habenichtse. Edition ID-Archiv 1997. 144 Seiten, 16,- DM (ca. 8 Euro).

Cárdenas in den Startlöchern

Der 6. Juli verspricht ein in­teressanter Tag zu werden. Zum ersten Mal wird der Bürgermei­ster der 20-Millionen Metropole México DF, der größten Stadt der Welt, direkt gewählt. Außer­dem stehen zahlreiche weitere Wahlgänge auf dem Pro­gramm. In den nördlichen Bun­des­staaten So­nora und Nuevo León soll ein neuer Gouverneur bestimmt wer­den zudem werden mexiko­weit 25 Pro­zent der Sena­toren in die erste Parlamentskammer und 300 Deputierte in die zweite Kammer gewählt.
Lange Zeit waren Wahltage in Mexiko äußerst lang­wei­lig, da die Ge­winner schon vor der Stimmabgabe fest­standen. Seit den 30er Jahren kontrolliert die Staatspartei PRI mit ihren mäch­tigen Tentakeln in Form ver­schie­dener Mas­sen­organisatio­nen das Volk. Und während des lang­währenden Nachkriegsauf­schwungs ließen sich die Mexika­ner von der popu-listischen PRI auch ganz gerne regieren, denn diese befriedete soziale Kon­flikte meist mit materiellen Zu­wendungen aus den reichlich strö­menden Staat­seinnahmen. Nur selten mußte das PRI-Re­gime auf die Re­pressionskeule zurückgreifen, um Unruheherde zu ersticken, wie 1968, als in der Hauptstadt mehrere hundert protes­tierende Studenten er­schossen wurden oder Anfang der 70er Jahre bei der Nieder­schlagung einer Guerillabewe­gung im Bundes­staat Guerrero. Wahlen waren im PRI-System immer nur ein formelles Ritual zur öffentlichen Absegnung des PRI-Kandidaten für das Bürger­meisteramt, den Gouverneurspo­sten oder den Prä­sidententhron. Damit die Parteieinlandschaft nicht gar zu fade erschien, kre­ierte die PRI einige Satelliten­par­teien, die ein kümmerliches Da­sein fristeten, nicht ganz un­ähnlich dem der “Blockparteien” in der ehe­mali­gen DDR.

6. Juli 1988 – der erste Versuch

Erst Ende der 80er Jahre setzte eine Veränderung der po­litischen Kräfteverhältnisse in Mexiko ein. Cuauhtémoc Cár­de­nas, Sohn des populären Ex-Präsidenten Lázaro Cárdenas, der von 1934-1940 das Land re­gierte, spielt in dem seit zehn Jahren währenden Transforma­tions­prozeß eine Hauptrolle. Er gründete 1987 im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen eine PRI-interne Oppositionsströ­mung, die sich gegen die Kandi­datur von Carlos Salinas de Gortari aussprach. Der Hinter­grund der PRI-internen Ausein­andersetzung war die seit 1982 verfolgte neoliberale Politik, die Cárdenas, zuvor Gouverneur von Michoacán, heftig kritisierte. Cárdenas’ “corriente democrá­tica” innerhalb der PRI schwoll schnell zu einer dynamischen Oppositionsbewegung an. Eine Kandidatur von Cuauhtémoc Cárdenas für die Präsident­schaftswahlen 1988 wurde plötz­lich zu einer möglichen Option. So kam es, daß 1988 zum ersten Mal seit dem Ende der Re­volution 1917 zwei ernst­hafte Kandidaten um das Präsi­denten­amt konkurrierten: Salinas als offizieller PRI-Kandidat mit einem neoliberalen, technokrati­schen Modernisierungspro­gramm und Cárdenas als Galli­onsfigur einer Oppositionsplatt­form, die von PRI-Dissidenten, linken Organisationen und so­zialen Bewegungen gestützt wur­de.
Als nach den Präsident­schafts­wahlen, die auch 1988 am 6. Juli stattfanden, die Stimmen ausgezählt wurden, zeichnete sich schnell ein Wahlsieg des oppositionellen Cárdenas ab. Trotz massiver Einschüchterun­gen und Manipulation durch den PRI-Apparat hatte sich der Un­mut der Bevölkerung mit der korrupten, undemokratischen Staats­partei und der neoliberalen Politik der sozialen Grausamkeit Luft gemacht. Trotzdem hat Cár­denas nie in den Präsidenten­palast einziehen dürfen, denn in der Wahlnacht fiel vor lauter Schreck über den Protest der Wähler das zentrale Computer­system der Wahlbehörde aus. Carlos Salinas de Gorari wurde zum Sieger proklamiert. Einer Neuauszählung der Stimmen ver­weigerte sich die PRI konse­quent bis die Wahlurnen durch einen unerklärlichen Großbrand vernichtet wurden.
Aus der kraftvollen Wahl­kam­pagne Cuauhtémoc Cardenas und der nachfolgenden wütenden Protestbewegung gegen den Wahl­betrug, die zeitweise zum Bürgerkrieg zu eskalieren drohte, entstand nach dem heißen Som­mer 1988 die PRD als eine in ganz Mexiko verankerte linke Massenoppositionspartei. Die PRD schließt soziale Bewegun­gen wie unabhängige Bauern­verbände oder feministische Gruppen ebenso ein wie altge­diente PRI-Dissidenten und den Funktionärskorps der ehemaligen Kommunistischen Partei Mexi­kos (PCM). Dementsprechend vage und umfassend sind die programmatischen Aussagen der Partei.

1994 – der zweite Versuch

Als Cuauhtémoc Cárdenas, der bis heute unumstrittene Frontmann der PRD, 1994 zum zweiten Mal den Versuch star­tete, das PRI-Regime an den Wahl­urnen zu stürzen, erreichte er gerade einmal offizielle 16 Prozent. Auch am 21. August 1994 waren die PRI-Wahlfäl­scher im Dauerstreß, darüber be­steht kein Zweifel, aber die Wahlkampagne der PRD hatte längst nicht die explosive Kraft entfaltet wie noch 1988. Der Aufstand der EZLN und die PRI-internen Zerwürfnisse, die im Mord am ersten PRI-Kandidaten Luis Donaldo Colosio durch seine eigenen Parteifreunde im März des Jahres gipfelten, führ­ten bei großen Wählerschichten zu einer tiefen Verunsicherung. Als der zweite PRI-Kandidat Er­nesto Zedillo für den Fall eines Wahlsieges von Cárdenas auch noch unmißverständlich den Bür­ger­krieg androhte, orientier­ten sich viele der verdrossenen WählerInnen an der rechtskon­servativen PAN (Partei der Na­tionalen Aktion) und nicht an der zudem unentschlossen wirken­den PRD. Die PAN wurde gleich­zeitig von den Medien und den PRI-Eliten durch eine mas­sive Kampagne unterstützt, um den verbreiteten Unmut nach rechts zu kanalisieren. So wurde 1994 letztlich doch der PRI-Kandidat Ernesto Zedillo mit of­fiziell knappen 50 Prozent zum Präsidenten erkoren, während Cárdenas sich nach dem PANi­sten Diego Fernández de Ceval­los mit Platz drei begnügen mußte.
Doch spätestens seit 1994 ist das Machtmonopol der PRI ge­brochen. Zu stark sind mittler­weile die Oppositionsparteien PRD und PAN, aber auch linkso­rientierte soziale Bewegungen und nicht zuletzt die Rebellen der EZLN geworden. Bei zahl­reichen Kommunalwahlen und so­gar Gouverneurswahlen mußte die PRI herbe Wahlniederlagen hinnehmen. Aus dem faden Ri­tual im Einparteiensystem bis in die 80er ist der Wahlkampf in Mexiko heute zu einem realen Kräftemessen geworden. Dabei geht es mitunter rüde zu. Morde an den Kandidaten oder Aktivi­sten der Oppositonsparteien sind alltäglich geworden und nach wie vor bedienen sich die PRI-Bürokraten eines ausgefeilten Systems von Wahlbetrügereien und Manipulationen. Während die PAN meist verschont bleibt, ist die PRD das Ziel der Repres­sion der PRI-Machthaber. Wäh­rend der sechs Jahre der Salinas-Administration von 1988-1994 sind etwa 360 PRD-Mitglieder aus politischen Gründen er­mordet worden oder ver­schwunden. In den ersten 18 Monaten der Re­gierungszeit Zedillos hat die PRD-Zentrale bereits 150 Opfer zu beklagen. Ungezählt sind die Gefolterten und politischen Ge­fangenen. Bis heute konnte die PRD im Gegensatz zur PAN keine Gouverneurswahl in einem der Bundesstaaten für sich ent­scheiden, dafür kontrolliert sie mittlerweile vor allem in den südlichen Bundesstaaten zahlrei­che Landkreise und Kommunen. Die PAN ist dagegen hauptsäch­lich in den nördlichen Bundes­staaten verankert.

Neuer Anlauf

Den ersten direkten Bürger­meisterwahlen in der Hauptstadt am 6. Juli kommt nun eine entscheidende Bedeutung zu. In Mexkio-Stadt wohnen über 20 Pro­zent der mexikanischen Ge­samt­bevölkerung. Hier kon­zentriert sich das politische und kulturelle Leben im traditionell zentralisti­schen Mexiko. Wer die Hauptstadt kontrolliert, verfügt also über eine strategisch überaus einflußreiche Position im ganzen Land. Mo­mentan sieht es ganz danach aus, als könnte Cuauhtémoc Cárdenas das Rennen machen. Nach einer Umfrage der Universität Guada­lajara von Mitte März liegt Cár­denas mit 34,5 Prozent weit vor seinen Konkurrenten. Den PRI-Kandidaten Alfredo del Mazo, der dem Dinosaurier-Flügel der Staatspartei in Auflösung zuge­rechnet wird, würden nur 18,2 Prozent und Carlos Castillo Pe­raza von der PAN nur 16,3 Pro­zent wählen. Die “Chilangos”, wie die zahlreichen Einwohner Mexiko-Stadts genannt werden, liegen dabei voll im Trend.
Bereits am 16. März hat die PRI in Morelos, dem westlich der Hauptstadt liegenden Bun­desstaat, bei Kommunalwahlen eine herbe Niederlage einstecken müssen. Hier gingen nur mehr 17 der Landkreise an die PRI, im­merhin 14 an die PRD und einer an die PAN. Die Opposition re­giert jetzt zwar nur eine Minder­heit der Landkreise, dafür aber 67 Prozent der Bevölkerung, weil sie in den bevölkerungsrei­chen Regionen gewonnen hat. Außerdem entriß die PRD der PRI die Mehrheit im Landtag. Bereist vor einem halben Jahr verlor die PRI die Mehrheit der Landkreise des Estado de Mé­xico, dem um den Hauptstadtdi­strikt liegenden bevölkerungsrei­chen Bundesstaat. Mit der Wahl in Morelos schließt sich für PRI die Oppositionschlinge um die Haupstadt. Ein Wahlsieg Cuauhtémoc Cárdenas würde das Ende der unumschränkten PRI-Herrschaft im zentralen Hochtal von Mexiko, der politisch und wirtschaftlich bedeutendsten Re­gion des Landes, besiegeln.

PRI-Schlappe bei Kommunalwahlen

Doch noch ist Vorsicht ange­zeigt, da Wahlprognosen in Me­xiko nur eingeschränkten Aussa­gewert besitzen. Zu instabil sind die Verhältnisse, als daß nicht doch noch ein Umschwung möglich wäre. Das große Frage­zeichen stellt insbesondere die Reaktion der PRI-Eliten auf den schwungvollen Wahlkampf der PRD dar. Wird die PRI einen Wahlsieg Cárdenas diesmal an­erkennen? Zweifel sind ange­bracht, Beobachter befürchten ein Wahlbetrugsmanöver im großen Stil.
Gefahr droht auch von einer anderen Seite. In den letzten Monaten werden auf präsiden­tiale Anweisung hin die Poli­zeistrukturen in der Hauptstadt umstrukturiert. Eine massive Aufrüstung durch Fahrzeuge, Waffen und Personal wird be­gleitet durch die Einflußnahme hochrangiger Militärs auf die Polizeiführung. Bereits seit Mitte letzten Jahres ist der oberste Po­lizist ein Armeeangehöriger, der General Enrique Salgado. Die Ernennung bedeutet ein Novum in Mexiko und ist verfassungs­rechtlich höchst bedenklich. In den nächsten Monaten sollen au­ßerdem 2.600 Soldaten in die Polizeiuniformen schlüpfen.
Teresa Jardí, angesehene Direk­torin des Studienzentrums für Menschenrechte, und regelmä­ßige Kolumnistin der kritischen Tageszeitung La Jornada kom­mentierte die Gefahr durch die Militarisierung folgendermaßen: “Wenn PAN oder PRD die Wahlen gewinnen, werden sie trotzdem nicht in der Lage sein zu regieren. Es formieren sich paramilitärische Gruppen, um den Machterhalt der PRI zu ga­rantieren.”

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