Paulina trifft die Ärmsten am härtesten
Zynische Politiker nutzen die Wirbelsturm-Katastrophe für sich
“Paulina ist sehr gefährlich“, warnte die Nationale Behörde für Metereologie zwölf Stunden bevor der Wirbelsturm die Küste erreichte und empfahl sofortige Vorsichtsmaßnahmen. Doch die Behörden blieben untätig. Bürokratie und haarsträubender Diletantismus, oder mit den Worten des Arbeitgeberverbandspräsidenten von Acapulco Bajos Valverde, „völlige Nutzlosigkeit, Unfähigkeit und Unverantwortlichkeit der Katastrophenschutzbehörden“ sorgten dafür, daß die Bevölkerung nicht ausreichend gewarnt, geschweige denn evakuiert wurde. So prallte der Sturm mit Geschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern und riesigen Flutwellen auf die Küste und traf eine völlig unvorbereitete Bevölkerung. Gleichzeitig regnete es stundenlang mit voller Wucht. Abhänge kamen ins Rutschen, Bächen oder Feldwegen bildeten reißende Ströme, Häuser wurden von den Böen wie Streichholzschachteln weggepustet, und das Meer warf Schiffe auf das Land. Politiker der beiden Oppositionsparteien Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und Partei der Nationalen Aktion (PAN) haben nun über eine Parlamentskommission Untersuchungen eingeleitet, ob die lokalen und nationalen Behörden für ihre Untätigkeit juristisch belangt werden können.
Piña Colada statt Trinkwasser
Naturkatastrophen sind unvermeidbar. Aber vermeidbar sind ein guter Teil ihrer zerstörerischen Auswirkungen auf die Menschen. Die meisten Todesopfer sind in den Armenviertel n von Acapulco und den indianischen Dörfern der Sierra Madre zu beklagen, und das ist kein Zufall. Der Wirbelsturm Paulina hat aus zwei Gründen einen Unterschied zwischen Arm und Reich gemacht. Einerseits wurden die Häuser der Wohlhabenden längst nicht so stark zerstört, weil sie stabiler gebaut sind. Andererseits kam aber die Hilfe zuerst bei den Reichen an, die auch die politische Kontrolle ausüben. Die Hilfsgüter wurden von einzelnen Politikern der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) zudem noch gebunkert und nur an ihre Klientel verteilt. Doch der Reihe nach.
In Acapulco, der mit 1,5 Millionen Einwohnern bei weitem größten Stadt im Katastrophengebiet, wurden ganze Stadtviertel an den steil aufsteigenden Hügeln der Küstenstadt weggeschwemmt. Die meisten der Todesopfer sind dort ihr Schlamm begraben worden, wo die Ärmsten der Armen wohnen. Sie sind aus den Bergregionen in die Tourismusmetropole gezogen, um etwas Geld zu verdienen. Ihre Hütten bestehen meist aus einem nur notdürftig betonierten Fundament, schwachen Wänden und Dächern aus Holz oder Wellblech. Obwohl sich die Funktionäre der Stadtverwaltung über die Gefährlichkeit vieler Bauplätze an den Hügeln bewußt waren, wurden dort Grundstücke verkauft und dafür Bestechungsgelder kassiert. Ein weiterer Grund für das Ausmaß der Schäden ist außerdem, daß in Acapulco aufgrund des chaotischen Wachstums der Stadt nie ein effizientes und funktionierendes Abwassersystem installiert wurde. Während den Touristen in den nahezu unversehrten Hotels auf der Vergnügungsmeile bereits wieder Piña Coladas serviert wurden, standen die Menschen in den Armenvierteln zehn Tage nach der Katastrophe noch stundenlang um Trinkwasser in Plastikflaschen an, weil eine Cholera-Epedemie drohte. Vor Gott sind zwar alle Menschen gleich, aber auf Erden zählt der Geldbeutel.
Zwei Wochen nach den sintflutartigen Regenfällen waren noch immer viele Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Hauptsächlich die indianischen Gemeinden im auch bei normalen Witterungsbedingungen äußerst schwer zugänglichen Bergland das von der Küste aus steil auf über 3000 Meter ansteigt, waren davon betroffen. So teilte beispielsweise ein Vertreter der Kirchlichen Kommission für Indígenas über eine Woche nach dem Unwetter mit, daß „viele Gemeinden noch überhaupt keine Hilfe erhalten haben.“ Da es auf dem Landweg unmöglich sei, die Dörfer zu erreichen, habe die Kommission Helikopter angefordert, sagte der Vertreter. „Aber wir konnten nichts erreichen, weil sich die Hilfe in den Hauptstädten der Landkreise konzentriert, wo eine absolute Desorganisation herrscht.“
Die Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero zählen neben dem weiter südlich liegenden Chiapas zu den ärmsten Regionen Mexikos. Die Bewohner der Sierra Madre, einem zerklüfteten Gebirge, das sich an der Pazifikküste entlang zieht, sind hauptsächlich Kleinbauern. An vielen Orten konnte dieses Jahr die Maisernte aufgrund einer langanhaltenden Dürreperiode nur teilweise oder gar nicht eingebracht werden. Der Wirbelsturm hat nun auch die Kaffee-Ernte fast völlig zerstört. Die CNOC, eine Vereinigung von Kaffee-Kleinproduzenten, schätzt, daß die insgesamt 60.000 betroffenen Kaffee-Kleinbauern einen Gegenwert von etwa 75 Millionen Dollar verloren haben. Viel schlimmer für die Kaffeeproduzenten ist aber, daß oftmals nicht nur die Ernte vernichtet wurde, sondern ihre Kaffeepflanzen durch die Regenfälle weggeschwemmt wurden. Auch die Fischer haben ihren Lebensunterhalt verloren, weil ihre Boote zerstört wurden. Und der Tourismus, als dritter wichtiger Wirtschaftszweig, wird Monate benötigen, bis er sich erholt hat.
Hilfe nur zum Preis der Unterordnung
Dem Versagen bei der Vorwarnung folgte das Absahnen nach der Katastrophe. Hilfeleistungen blieben im Chaos und der Korruption stecken, während sich einige Profiteure die Taschen und ganze Lagerhallen vollstopften und die regierenden PRI-Funktionäre versuchten, politisch vom Elend zu profitieren. Der flugs aus Deutschland zurückgekehrte Präsident Zedillo zeigte demonstrativ Volksnähe, um sein Image als farbloser Technokrat loszuwerden. „Ich kann nicht zuhause bleiben. Ich kann nicht schlafen. Zum ersten Mal seit ich Präsident bin, habe ich den Schlaf verloren“, sagte er gegenüber der Presse während er das Katastrophengebiet besuchte und barfüßige Kinder an sein Herz drückte. In Fernsehinterviews, die von den drei größten Kanälen ausgestrahlt wurden, präsentierte er sich als besorgter und zupackender Landesvater, der für sofortige und unbürokratische Hilfe sorgt. Doch genau daran mangelte es. Während die am schlimmsten Betroffenen zusehen mußten, wie sie Lebensmittel und Wasser beschaffen konnten, konzentrierten sich die Hilfsmaßnahmen der Regierung auf die Ferienzentren Huatulco und Puerto Escondido in Oaxaca sowie die Tourismuszone von Acapulco. Die oppositionellen PRD-Senatoren Félix Salgado und Héctor Sánchez bezeichneten dieses Vorgehen im Parlament als „kriminell“.
Delfino Serrano Galeana, Mitglied des Menschrechtskomitees einer Kirchengemeinde im Stadtviertel Zapata in Acapulco, bringt außerdem eine andere Sorge vieler Menschen zum Ausdruck. Für ihn besteht die größte Problem darin, daß die Hilfe nicht immer bei den Bedürftigen ankommt. „Beim letzten Wirbelsturm wurde die Hilfe an die PRI-Chefs verteilt, die den größten Teil für sich behalten haben“, erzählt er. Daß seine Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt das Beispiel der Kleinstadt Pochutla an der Küste von Oaxaca. Obwohl sie von der linken PRD regiert wird, hat der als Hardliner bekannte PRI-Gouverneur von Oaxaca Diódoro Carrasco Altamirano die Hilfstransporte an den Chef seiner eigenen Partei in Pochutla weitergeleitet, während die Stadtverwaltung nichts zugewiesen bekam. Auf diese Weise versuchen die PRI-Funktionäre, die verlorene politische Kontrolle in der Gemeinde wiederzugewinnen. Das korporativistische Erbe der PRI feiert wieder einmal einen Triumph.