Die Macht des Milchmanns und die Ohnmacht des Dinosauriers
Fidel Velázquez, der legendäre mexikanische Gewerkschaftschef, ist am 21. Juni im Alter von 97 Jahren gestorben.
Mehrmals hatten ihn die mexikanischen Zeitungen in den letzten Jahren und Monaten schon für tot erklärt, aber er stand immer nach kurzer Zeit wieder auf, um seine Macht an der Spitze des Verbandes der Werktätigen von Mexiko, der CTM, zu behaupten. Die Macht um fast jeden Preis, das war die Leidenschaft dieses greisen Kämpfers, der vor nun fast 75 Jahren die Arbeit eines Milchmannes aufgegeben hatte, um als Gewerkschaftsfunktionär zu dienen und insgesamt 55 Jahre lang als Gewerkschaftsführer zu befehlen.
Die revolutionäre mexikanische Verfassung von 1917 hatte den Staat zum Schiedsrichter in allen Streitigkeiten zwischen Kapital und Arbeit gemacht, und in der Folgezeit verstanden es die mexikanischen Präsidenten als eine ihrer vornehmen Aufgaben, die zunächst noch schwachen Gewerkschaften nach Kräften zu fördern und aus ihnen ein Instrument nationaler Politik zu machen. Der Sector Obrero (Arbeitersektor), in dem die 1936 gegründete CTM seit ihrer Gründung die wichtigste Rolle spielte, wurde parallel dazu eine der wichtigen vier Säulen der offiziellen Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional). Das bedeutete für die Führungsschicht der CTM, daß sie mit Erfolg Anspruch auf immer mehr Ämter in Parlamenten, bundesstaatlichen und städtischen Verwaltungen erheben konnte.
Fidel Velázquez, der 1940 zum ersten Mal für vier Jahre und dann seit 1946 bis heute den Vorsitz in der CTM übernommen hatte, hat dieses System einer systematischen Korruption des Gewerkschaftswesens zugunsten “seiner” Regierungspartei und des jeweiligen Staatspräsidenten mit Inbrunst verteidigt und aus den Gewerkschaften Kontrollinstrumente des Regimes zur Disziplinierung der Arbeiterinnen und Arbeiter und zur Kanalisierung ihrer Wählerstimmen gemacht.
Abweichung wurde nicht geduldet: “Wer abweicht, beleidigt die organisierte Arbeiterbewegung.” Oder sein berühmtester Spruch: “Wer sich bewegt, kommt nicht mit aufs Foto.” Und die Fotos mit ihm und seinen Getreuen an der Seite des jeweiligen Staatspräsidenten waren ihm heilig.
“Wir sind mit der Gewalt der Waffen an die Macht gekommen, da werden sie uns doch nicht mit Stimmzetteln vertreiben!” So der Zynismus, mit dem demokratische Wahlen von ihm betrachtet wurden. So nahm er die Wahlen zwar nicht ernst, hielt sie aber doch für so wichtig, daß er alles in seiner Macht Stehende tat, um die sechs Millionen Mitglieder seiner Organisation für die PRI an die Wahlurne zu treiben und so die Notwendigkeit von Wahlfälschungen, die er im Zweifelsfall für legitim hielt, zu vermindern. Noch auf dem Sterbebett fragte er seinen Arzt, ob der auch bei den bevorstehenden Wahlen am 6. Juli wählen werde.
Fidel Velázquez war es, der seit 1946 alle sechs Jahre in der Öffentlichkeit verkünden durfte, wen der jeweilige Präsident am Ende seiner Amtszeit zu seinem Nachfolger ausersehen hatte, und die Kursänderungen, die diese Präsidenten verfolgten, wurden dann von Velázquez auch durchgesetzt, wenn sie bedeuteten, daß die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Füßen getreten wurden. Wo sich Opposition gegen die Staatsmacht rührte, war Velázquez in seiner Verfolgungswut meist sogar noch heftiger als die Staatspräsidenten selbst. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde er zu einem glühenden Antikommunisten, der alle des Kommunismus Verdächtigen denunzierte, verfolgte und aus der Gewerkschaft hinauswarf. Als sich Ende der fünfziger Jahre Tendenzen einer authentischen Gewerkschaftsvertretung rührten, forderte er die blutige Repression der “Subversion”. 1968 war er der erste, der gegenüber den rebellierenden Studenten eine harte Hand forderte. Das Ergebnis der harten Hand waren Hunderte toter Studenten. Und den ursprünglich aus der PRI stammenden oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Cuauhtémoc Cárdenas beschimpfte er 1988 als “Verräter”, um dann den Übergang des Präsidenten Salinas zu einer konsequent neoliberalen Politik nach zahmen Protesten zu akzeptieren und als Erfolg zu feiern. Und natürlich forderte er nach dem Aufstand der Zapatisten in Chiapas 1994 sofort, mit ihnen auf gewaltsame Weise Schluß zu machen.
Fidel Velázquez war mit den Jahren eine Institution geworden, ein Dinosaurier, der die Zeichen der Zeit nicht mehr verstand, gleichwohl aber wie ein Koloß allen notwendigen Veränderungen und jeder demokratischen Neuerung im Wege stand. Jetzt erst – ohne ihn – hätten die mexikanische Gewerkschaftsbewegung und die PRI noch einmal eine Chance, sich so zu verändern, wie sie das schon vor Jahrzehnten hätten tun müssen, um der Zeit gewachsen zu sein. Die Ergebnisse der Wahlen im Juli werden zeigen, ob es dafür nicht schon zu spät ist und die PRI mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts die Macht doch abtreten muß.