“An der Seite der PRI”
Mexikos Gewerkschaftsbewegung wacht nach dem Tod ihres jahrzehntelangen Führers und Kontrolleurs Fidel Velázquez langsam aus der Erstarrung auf
Mit rücksichtsloser Brutalität hatte Fidel Velázquez Zeit seines Lebens Opponenten verfolgt und die mexikanische Gewerkschaftsbewegung der seit 1929 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) bedingungslos untergeordnet. Im Januar 1994, während des zapatistischen Aufstands, exponierte er sich als Scharfmacher und forderte öffentlich: “Exterminiert sie!”. Das Ende der unbeschränkten PRI-Herrschaft und Fidels Tod im Frühjahr dieses Jahres fallen nun in einer merkwürdigen Symbolik zusammen. Heute besteht für Mexikos Gewerkschaftsbewegung erstmals die Chance, eine selbständige und unabhängige Kraft zu werden. Eine Chance allerdings, die bisher noch kaum genutzt wurde.
Jeden Tag einen neuen Job
Die Bilanz der Gewerkschaftspolitik unter Velázquez’ Ägide sieht desaströs aus: Die Kaufkraft der Löhne verringerte sich seit 1977 um beinahe unglaubliche 75 Prozent. Vor zwanzig Jahren konnte ein Arbeitnehmer also viermal mehr Waren mit seinem Lohn einkaufen als heute. Nach Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INEGI kommen 65 Prozent der ArbeitnehmerInnen nicht in den Genuß von Sozialleistungen, Urlaub oder Zulagen, und 20 Prozent verdienen weniger als den staatlich festgelegten Mindestlohn. Der durchschnittliche Stundenlohn im verarbeitenden Gewerbe liegt bei 1,45 US-Dollar. Zum Vergleich: In den USA sind es 13 US-Dollar.
Dabei ist es südlich des Rio Bravos heute ein Privileg, überhaupt in einem Lohnarbeitsverhältnis zu stehen. In den Städten versuchen sich bis zu 40 Prozent der Menschen im informellen Sektor durchzuschlagen: Kaugummis verkaufen, Windschutzscheiben putzen, fliegender Handel – jeden Tag ein neuer Job, um sich über Wasser zu halten. Mexikanische ArbeitnehmerInnen sind unterbezahlt, arbeiten meist über 50 Stunden die Woche und verfügen kaum über soziale Absicherungen im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit. Kinderarbeit ist keine Ausnahme, vier von zehn Kindern beenden nicht einmal die Grundschule.
Applaus für T-Shirts
Nun darf man sich den CTM und die zahlreichen anderen “offiziellen” Gewerkschaften, die im PRI-loyalen Dachverband CdT (Congreso del Trabajo) zusammengeschlossen sind, nicht als Gewerkschaften im westeuropäischen Sinne vorstellen. Sie dienen nicht der Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern fungieren vielmehr als Transmissionsriemen der PRI. Wer beispielsweise in einem Betrieb arbeiten möchte, muß meist zuerst in die CTM eintreten bevor er angestellt wird. Die Unternehmen gewähren der CTM ein Vertretungsmonopol der Beschäftigten und im Gegenzug garantiert die CTM dem Unternehmen die Disziplinierung und Unterordnung der Beschäftigten. Korruptionsgelder halten das System zusammen. Charrismo heißt in Mexiko der Begriff, mit dem diese Gangstermethoden bezeichnet werden.
Damit nicht genug: Tritt ein Beschäftigter in die CTM ein, wird er automatisch PRI-Mitglied, denn die CTM und die Organisationen des CdT sind Untergliederungen der Partei und organisieren heute noch etwa 25 Prozent der Arbeitnehmer. Bei den großen Wahlkampfveranstaltung werden Mitglieder-Kontingente mit Bussen herangekarrt und müssen für ein T-Shirt und ein paar Pesos dem jeweiligen Kandidaten der PRI Applaus spenden. Ähnlich funktionieren in Mexiko Bauernverbände und Stadtteilorganisationen der PRI.
Die Zeiten der Totalkontrolle sind vorbei
Doch die Zeiten der totalen Kontrolle sind vorbei. Der PRI-Korporativismus in der Gewerkschaftsbewegung zerfällt mit der Partei. Das sichtbarste Zeichen dafür waren die tumultartigen 1. Mai-Feiern der letzten drei Jahre. Früher sah es am Tag der Arbeit in Mexiko ähnlich ordentlich aus wie in Ost-Berlin oder Moskau. Hunderttausende defilierten im Gleichschritt fahnenschwenkend vor dem Regierungspalast an einem Podest vorbei, auf dem der Präsident und die PRI- und Gewerkschaftsführung “Volksverbundenheit” demonstrierten. Seit 1990 verweigert die Arbeiterklasse der DDR das Schauspiel, ihre russischen Kollegen zogen 1992 nach und auch in Mexiko ist das Ritual seit 1995 aus der Mode gekommen. Damals wurde die Maiparade abgesagt, weil Präsident Zedillo fürchtete, er würde von der eigenen Parteibasis gnadenlos ausgepfiffen werden – die schwerste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren war gerade fünf Monate alt. Die Stimmung scheint sich nicht gebessert zu haben, denn seither gibt es keine offiziellen Maiveranstaltungen unter freiem Himmel mehr, und selbst bei der Saalkundgebung im Auditorio Nacional dieses Jahr hörten die versammelten PRI- und CTM-Funktionäre ein tumultartiges Buh-Geschrei als Leonardo Rodríguez Alcaine, der Nachfolger Fidel Velázquez, sagte: “Unsere Überzeugungen stellen uns an die Seite der PRI.”
Die Maidemonstration wird in den letzten zwei Jahren nun von oppositionellen und von der PRI unabhängigen Gewerkschaften ausgerichtet. Innerhalb des CdT hat sich mittlerweile eine Oppositionsströmung mit dem Namen Foro Sindicalista Frente la Nación gebildet, die von Francisco Hernández Juárez von der Telefonarbeitergewerkschaft, Pedro Castillo von der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft und Elba Esther Gordillo, der ehemaligen Präsidentin der LehrerInnengewerkschaft, angeführt wird. Diese ehemaligen PRI-Anhänger gehen nun auf Distanz zum neoliberalen Kurs ihrer Partei. In den letzten Monaten sind auch unabhängige Gewerkschaften wie die STUNAM (Universitätsangestellte der UNAM) oder die FAT (kleine linksorientierte Gewerkschaftszentrale), die ihre Wurzeln in oppositionellen Strömungen der 70er Jahre haben, ins Foro eingetreten, so daß sich das Foro zu einer ernsthaften oppositionellen Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln scheint. Auch innerhalb der CTM formiert sich eine Opposition, die sich 1998 auf dem nächsten Kongreß der Organisation artikulieren wird.
Gleichzeitig ist Vorsicht angezeigt, denn die Abwendung von Führern ehemaliger Charro-Gewerkschaften von der zerfallenden PRI kann auch nur durch ihr Eigeninteresse motiviert sein. Und außerdem: Unter den Bedingungen der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, des sich verschärfenden Druckes am Arbeitsplatz und des Abbaus der Reallöhne ist es nicht leichter geworden, die Beschäftigten in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren. Ganz im Gegenteil: Wie Adriana Guadalupe Valenzuola Ruíz, eine Maquiladora-Arbeiterin in Tijuana sagt: “Wer sich hier organisiert, wird als Unruhestifter rausgeschmissen. Draußen warten Tausende auf deinen Job.”