Mexiko | Nummer 289/290 - Juli/August 1998

Krieg niederer Intensität jetzt ohne Vermittlung

Kein Ende der Militärüberfälle in Chiapas

Wo es keine Verhandlungen mehr gibt, kann es auch keine Vermittlung mehr geben – so die Schlußfolgerung von Bischof Samuel Ruiz, der am 7. Juni sein Amt als offizieller Vermittler im seit viereinhalb Jahren andauernden Konflikt in Chiapas aufgab.

Boris Kanzleiter

In Mexiko ermordet die Armee Zivilisten, weil sie Frieden will. Bischof Samuel Ruiz beschuldigte in einer scharf formulierten Erklärung die mexikanische Regierung, den Dialog mit den aufständischen Zapatisten einseitig aufgekündigt zu haben. Er selbst und Mitglieder der katholischen Kirche in Chiapas seien konstanten Drohungen und Aggressionen von Seiten der Regierung, des Militärs und der Paramilitäts ausgesetzt. Als Ruiz seine Erklärung verfaßte, mit der er am 7. Juni von seinem Amt als Vermittler zurücktrat, wußte er noch nicht, daß die Bundesarmee bereits ein weiteres Massaker an den zivilen Unterstützern der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) plante.

Neue Überfälle

In den frühen Morgenstunden des 10. Juni überfielen die Militärs in einer gemeinsamen Operation mit Polizeikräften und Paramilitärs die Ortschaften Chabajeval und Union Progreso im zapatistischen autonomen Landkreis San Júan de Libertad. Eine gemeinsame Erklärung aller 32 zapatistischen Landkreise, die sich unabhängig von staatlichen Institutionen konstituiert haben, schildert den Hergang der Ereignisse so: Einige hundert Militärs überfielen das Dorf Union Progreso, zerstörten Häuser und schlugen auf Zivilisten ein. Flüchtende wurden beschossen, ein junger Mann wurde dabei getötet. Soldanten schleppten sechs Verletzte zurück ins Dorf und exekutierten sie dort. Gleichzeitig wurde auch das in der Nähe gelegene Chavajeval von einer großen Anzahl Militärs und Polizisten gestürmt, von Helikoptern und Flugzeugen unterstützt. Mehrere hundert Dorfbewohner versuchten in die Berge zu flüchten und wurden dabei mit scharfer Munition und Tränengas beschossen. Zwei Männer wurden ermordet, eine große Zahl wurde festgenommen und ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Wenn sie uns tote Genossen zurückbringen, die sie lebend festgenommen haben, wurden sie von Bundessoldaten und der Polizei exekutiert, erklärt das Kommuniqué.

Die Version des Militärs

Innenminister Francisco Labastida Ochoa dagegen behauptet, das Militär sei von Milizen der EZLN beschossen worden und habe erst dann reagiert und auch nur, weil es “Frieden herstellen” wolle.
Bereits am 7. Juni war es zu einem brutalen Militäreinsatz im Bundesstaat Guerrero gekommen. Auch hier behauptet das Militär, beschossen worden zu sein. Aber auch in diesem Fall widersprechen alle Zeugenaussagen der offiziellen Version. Im Dorf El Charco hatten sich nach Angaben von Einwohnern Guerilleros der Revolutionären Armee des aufständischen Volkes (ERPI), einer bewaffneten Gruppe, die mit der in verschieden Regionen Südmexikos operierenden Revolutionären Volksarmee (EPR) in Verbindung steht, mit Repräsentanten verschiedener Dorfgemeinschaften getroffen.
Die klandestine Versammlung in der Dorfschule wurde der Armee bekannt, die daraufhin die Gemeinde stürmte und elf Personen exekutierte. Es hat kein Gefecht gegeben, das war ein Massaker, erklärte ein lokaler Politiker der linken Oppositionspartei PRD. Nach Zeugenaussagen und einer Erklärung der ERPI waren nur einige der elf Getöteten tatsächlich Mitglied der Guerillakolumne. Erika Zamora Pardo, eine Überlebende des Guerilla-Kommandos berichtet, sie sei in den auf ihre Verhaftung folgenden Tagen gefoltert worden. Sie wurde von der Armee mit Elektroschocks und Drohungen zu Aussagen bewegt, die die offizielle Version bestätigen. Mittlerweile sind ihre Eltern und Geschwister von Paramilitärs entführt worden, und Nachbarn der Familie haben die Presse informiert.

Repressionen statt Verhandlungen

Die mexikanische Regierung unter Präsident Ernesto Zedillo von der seit beinahe 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) steuert durch die Verweigerung eines Dialogs mit der EZLN und den konstanten militärischen Druck auf die oppositionellen Bauernorganisationen auf den offenen Ausbruch des Bürgerkriegs in Mexiko zu. Nicht nur in Chiapas, auch in den südlichen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca münden die Konflikte zwischen linken oppositionellen Bauernvereinigungen mit lokalen PRI-Machthabern und Grundbesitzern immer öfter in bewaffnete Auseinandersetzungen. Dabei setzen Militär und Regierung auf einen offensiven Repressionskurs, der nur notdürftig mit Lippenbekenntnissen zum Verhandlungswillen kaschiert wird. EZLN, EPR, ERPI und die zahlreichen weiteren lokal oder überregional verankerten Guerillagruppen reagieren auf diese Politik mit dem Aufbau ihrer Strukturen, ohne auf die offenen Provokationen einzugehen.

Albright löst diplomatische Spannungen aus

Für Verstimmung bei der mexikanischen Regierung sorgte unterdessen eine Erklärung der US-Außenministerin Madeleine Albright. Die Internationalismus-Referentin Bill Clintons sah sich nach den Ereignissen der letzten Wochen dazu genötigt, öffentlich zu erklären, die US-Regierung fordere Mexiko zu einer friedlichen Lösung in Chiapas auf. Dabei benutze sie das Wort pressing, das mit dem spanischen presionando übersetzt wurde, was “Druck ausüben“ bedeutet. Dies wurde von mexikanischen Abgeordneten als eine unstatthafte Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes und als Beleidigung gewertet. Nach diplomatischem Naserümpfen erklärte nun Mexikos Außenministerin Rosario Green, die Aufregung sei fehl am Platz, da Albright schlecht übersetzt worden sei. Eigentlich habe sie nur gemeint, daß der Konflikt bald gelöst werden müßte. Der Sprecher des Weißen Hauses, James Rubin, stellte schließlich klar, daß die USA Mexiko nicht drängten, sondern um eine friedliche Verhandlungslösung bitten.
In jedem Fall scheint der beleidigte Tonfall der mexikanischen Regierung gerechtfertigt, ist es doch das US-Verteidigungsministerium, das die mexikanische Armee mit Spezialisten in der Kriegführung niederer Intensität und modernen Waffen ausrüstet. Darauf wies auch Amnesty International in Washington hin, das bereits am 12. Juni vor einer möglichen Menschenrechts-Katastrophe in Chiapas und Guerrero gewarnt hatte. 1500 mexikanische Militärs wurden laut William F. Schultz, Präsident von ai in den USA, in den letzten Monaten in den USA ausgebildet. Amnesty International forderte den US-Kongreß in einem Bericht vom 17. Juni auf, die Beteiligung mexikanischer und in den USA ausgebildeter Truppen an Menschenrechtsverletzungen darzulegen.

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