Mexiko | Nummer 286 - April 1998

Allgegenwärtige Bedrohung der Zivilbevölkerung

Internationale BeobachterInnenkommission in Chiapas

Als Reaktion auf das Massaker in einem Flüchtlingslager am 22. Dezember letzten Jahres, bei dem 45 Menschen von Paramilitärs ermordet wurden, hielt sich vom 15.-28. Februar 1998 eine „Internationale zivile Beobachterkommission für Frieden und Menschenrechte“ in Chiapas auf. Während seit 1994 etwa 200 InternationalistInnen ausgewiesen wurden, öffnete die Regierung der Beobachterkommission die Türen. Ihre Arbeit war allerdings durch die Maßgabe eingeschränkt, keine „politischen Äußerungen“ zu veröffentlichen. Oskar Schmid, Teilnehmer der Kommission und Mitarbeiter des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerechtigkeit in München, berichtet über die Arbeit der Kommission:

Oskar Schmid

Die „Internationale zivile Beobachtungskommission für Frieden und Menschenrechte“ bildete sich aus dem Netzwerk, das bei den beiden Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus in Chiapas 1996 und Spanien 1997 entstanden ist. Sie umfaßte etwa 200 Personen aus Europa, Lateinamerika und Kanada. Ungefähr eine Woche vor der Ankunft der Beobachtungskommission begann eine üble Pressekampagne gegen AusländerInnen, die sich angeblich in die inneren Angelegenheiten Mexikos einmischten, die Indígenas aufwiegelten und mit den ZapatistInnen sympathisierten. Die meisten Beiträge endeten in der rituellen Forderung nach sofortiger Ausweisung der „AusländerInnen, die sich nicht an die mexikanischen Gesetze halten“. Diese Kampagne hatte aber auch zur Folge, daß das Medieninteresse an der Beobachtungskommission kräftig geschürt wurde und über ihre Arbeit breit berichtet wurde.

Mexikanische Regierung drohte mit Ausweisung

Die mexikanische Regierung hatte uns unmißverständlich klargemacht, daß jede politische Stellungnahme oder Erklärung unserer Kommission als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet würde und unsere sofortige Ausweisung zur Folge hätte. Damit war der Spielraum für das Programm der Kommission klar begrenzt: Wir mußten uns darauf beschränken, in Gesprächen Informationen zu sammeln, konnten aber ausnahmslos mit allen beteiligten Parteien Kontakt aufnehmen. So trafen wir uns
– mit der betroffenen Bevölkerung: dem Congreso Nacional Indígena, Vertretern von Gemeinden aus der Nordzone von Chiapas, Autonomen Gemeinderäten, Vertretern mehrerer Flüchtlingslager, politischen Gefangenen, religiösen und Frauenorganisationen, der nationalen Vereinigung demokratischer AnwältInnen, mit JournalistInnen und Intellektuellen.
– mit verschiedenen Institutionen und Behörden der Zentralregierung (dem Innenminister, der Außenministerin, dem Generalstaatsanwalt, dem Verhandlungsführer der Regierung und der Präsidentin der nationalen Menschenrechtskommission) und Vertretern der Regierung von Chiapas.
– mit Mitgliedern der chiapanekischen PRI und PAN, mit dem PRI-Abgeordneten Samuel Sánchez Sánchez, der gleichzeitig Vertreter der paramilitärischen Organisation „Paz y Justicia“ ist; mit staatlichen und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen; den Vermittlungsinstanzen CONAI und COCOPA; dem mexikanischen Roten Kreuz und der COSEVER, die über die Umsetzung der Abkommen von San Andrés wacht.
Einige andere Treffen konnten hingegen nicht durchgeführt werden: Mit den Militärs der mexikanischen Bundesarmee kam trotz mehrerer Anfragen unsererseits – angeblich aus Termingründen – kein Gespräch zustande. Die Anfrage bei Präsident Ernesto Zedillo blieb unbeantwortet. Die Kommandantur der EZLN mußte unsere Anfrage um einen Gesprächstermin ablehnen, weil sie nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien von der Regierung erhielt.
Nach mehreren Treffen in Mexiko-Stadt reiste die ganze Kommission am 17. Februar nach San Cristóbal. Von dort fuhren wir in die entferntesten Winkel von Chiapas. Anschließend trafen wir uns mit verschiedenen Institutionen in San Cristóbal und Tuxtla Gutiérrez. Am 24. Februar fuhr eine erste Gruppe nach Mexiko-Stadt zu Gesprächen mit den mexikanischen Regierungsstellen. Der Rest der Kommission folgte am 25. und 26. Februar. Offizielles Ende der Kommission war der 28. Februar.
Während unseres Aufenthaltes in Chiapas wurde uns auf drastische Weise deutlich, wie ungeschützt die Zivilbevölkerung der allgegenwärtigen bewaffneten Bedrohung ausgeliefert ist: Am 21. Februar traf sich ein Teil der Kommission mit 110 Delegierten von Gemeinden aus dem konfliktreichen Norden von Chiapas. Dieses Gebiet liegt im Einflußbereich der paramilitärischen Gruppe „Paz y Justicia“. Wenige Stunden nach dem Treffen wurde einer der Gemeindevertreter, José Tila López García, auf dem Rückweg in seine Gemeinde in einem Hinterhalt ermordet. Die Überlebenden des Überfalls, darunter der Vater des Ermordeten, machten „Paz y Justicia“ dafür verantwortlich. Beweise gibt es natürlich keine, aber die Botschaft ist klar: Sicherheitsgarantien gibt es zwar für die Kommissionsmitglieder, aber nicht für die mexikanische Bevölkerung, die sich mit der Kommission trifft.

Mord an Gesprächspartner

Wir beschlossen, am 23. Februar unser Programm zu ändern und einen Teil der Kommission nochmals in die Gegend zu schicken, einmal um eine in der Nähe gelegene Ortschaft zu besuchen, die uns dringend darum gebeten hatte, und zum anderen, um der Familie des Ermordeten einen Besuch abzustatten und ihr unser Beileid auszusprechen. Kurz vor dem Ziel wurden die beiden Busse aber von etwa 200 Personen an der Weiterfahrt gehindert und zur Umkehr gezwungen. Nach Auskunft unserer ortskundigen BegleiterInnen handelte es sich dabei um PRI-Angehörige.
Diese beiden Vorfälle sagen einiges über die Überwachung aus, der unsere Arbeit zweifellos unterlag, und sind ein gutes Beispiel für die zweigleisige Strategie der Regierung: Auf der einen Seite zeigte sie sich bei den offiziellen Treffen mit der Kommission gesprächsbereit, während sie gleichzeitig den Volksorganisationen unmißverständlich drohte, die sich mit uns treffen wollten.
Teil der Regierungsstrategie war auch, daß während unserer Anwesenheit sämtliche Militärsperren abgezogen wurden. Auf dem Rückweg von unserem Besuch im Norden von Chiapas sahen wir die Armee bereits wieder mit dem Aufbau ihres kurz zuvor verlassenen Militärpostens beschäftigt. Nachdem die Kommission eigentlich schon wieder nach Mexiko-Stadt abgereist war, fuhren noch ein paar Leute auf eigene Initiative in einige Dörfer und wurden so Augenzeugen der Rückkehr der mexikanischen Armee auf ihre alten Positionen.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Auf unserer Reise konnten wir uns davon überzeugen, daß die Menschenrechte in Mexiko andauernd und massiv verletzt werden. Dabei sind in den Einflußgebieten der Paramilitärs vor allem bewaffnete Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, wie Brandstiftungen, Vertreibungen, Landraub, Morde, Entführungen, aber auch willkürliche Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung. Selbst Regierungsstellen geben mittlerweile zu, daß Teile des Bundesstaates „unregierbar“ geworden sind und der Rechtsstaat nicht mehr eingehalten werden kann.
Die unbestrittene Existenz von 7 – 12 bewaffneten paramilitärischen Gruppen (Paz y Justicia, Los Chinchulines, Máscara Roja etc.) ist für die weitere Entwicklung des Konfliktes äußerst folgenschwer. Die Anwesenheit der paramilitärischen Gruppen in den Indígena-Gemeinden führt zu einer Verlagerung des Konfliktes zwischen der EZLN und der Regierungsarmee in die Dörfer. Plötzlich stehen sich die Bewohner des selben Dorfes bewaffnet gegenüber. Dieser Aufbau von paramilitärischen Gruppen ist ein Teil des Aufstandsbekämpfungskonzepts. In einem vor kurzem bekannt gewordenen Strategiepapier des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Plan de Campaña Chiapas 94) ist zu lesen, daß zur Unterstützung der militärischen Operationen paramilitärische Organisationen geschaffen und ausgerüstet werden sollten. Weitere Elemente dieses Konzepts sind Desinformation, andauernde Militärpräsenz in den Dörfern mit dem Vorwand, sich um soziale Belange zu kümmern, Abstempelung sozialer Organisationen als Sympathisanten der Aufständischen, Morde und Morddrohungen gegen VertreterInnen von Volksorganisationen, willkürliche Verhaftungen, Folter etc.
So herrschen in den Dörfern und Gemeinden Chaos, Rechtlosigkeit und Willkür. Konflikte entstehen zum Beispiel dadurch, daß Paramilitärs im großen Stil ganze Dorfgemeinschaften vertreiben und ihr Land an andere Familien verkaufen. Diese bezahlen für das Land und fühlen sich gegenüber den Vorbesitzern im Recht. Durch solche Methoden entstehende Auseinandersetzungen werden dann von der Regierung als „interethnische Konflikte“ abgetan. Bei jeder bewaffneten Eskalation hat die Regierungsarmee einen guten Vorwand einzugreifen. Das ermöglicht den Militärs, sich dauernd in der Nähe der Dörfer aufzuhalten. Der immer wieder geäußerte Verdacht, die Armee versuche auf diese Weise, ihr taktisches Ziel – die Liquidierung der EZLN-Führung – zu erreichen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Bericht an Parlamente und Organisationen

Angesichts der zugespitzten Situation in Mexiko wird die Kommission ihren Bericht an das Europäische Parlament und an die Länderparlamente übergeben, die in der nächsten Zeit ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und Mexiko verabschieden wollen. Diese Unterzeichnung sollte unserer Ansicht nach an die Einhaltung bestimmter Bedingungen geknüpft werden (z.B. die Umsetzung der Friedensverträge von San Andrés). Der Kommissionsbericht soll außerdem bei der jedes Frühjahr stattfindenden UNO-Menschenrechtskommission in Genf vorgestellt werden. Es gibt Überlegungen, eine permanente Delegation der Beobachtungskommission in Chiapas zu installieren.

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