Reform ohne Dialog
Die groß angelegte Bildungsreform der mexikanischen Regierung ruft widersprüchliche Reaktionen hervor
Wenn man Schüler_innen in Mexiko fragt, was die Lehrer_innen, Sekretär_innen und Direktor_innen ihrer Schulen den ganzen Tag machen, so ist die Antwort oft: „Kaffee trinken“. Immer wieder hört man von Lehrer_innen. die zu spät oder gar nicht zum Unterricht kommen, ihr Fach nicht kennen oder sich für gute Noten bezahlen lassen. Auch internationale Studien zeichnen ein desaströses Bild des mexikanischen Bildungswesens, das der Dokumentarfilm De Panzao („Bauchlandung“, abrufbar auf youtube) einem Millionenpublikum vorführte. Und auch wenn man sicher nicht allein den Lehrer_innen die Schuld an Mexikos Bildungsmisere geben kann, so gibt es doch kaum Zweifel, dass eine wirksame Bildungsreform längst überfällig ist. Zwar gehen inzwischen laut offiziellen Zahlen fast alle Kinder zur Schule, doch die Abbrecherquoten sind enorm hoch. In den ärmsten Bundesstaaten wie Chiapas oder Oaxaca liegt die Analphabet_innenrate noch immer über 15 Prozent und Lehrer_innen unterrichten unter zum Teil äußerst prekären Bedingungen.
Schon in seiner Antrittsrede im Dezember 2012 kündigte Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto deswegen als Teil des Reformpakets Pakt für Mexiko eine umfassende Bildungsreform an, die am 25. Februar in Kraft trat. Alle großen Parteien unterstützen das Vorhaben. Die aktuelle Reform richtet ihren Fokus vor allem auf Qualität. Diese soll unter anderem durch eine obligatorische, regelmäßig stattfindende Evaluierung der Lehrer_innen durch eine unabhängige Evaluierungsagentur, dem Nationalen Institut zur Bildungsevaluierung (INEE), gesichert werden. Lehrer_innen, welche die Prüfung auch im dritten Anlauf trotz Fortbildungsmaßnahmen nicht bestehen, müssen den Schuldienst verlassen. Des Weiteren soll der Eintritt, Aufstieg und Verbleib im Lehrberuf nach transparenten und wettbewerbsorientierten Kriterien reguliert werden.
Dies war bisher der Lehrergewerkschaft SNTE vorbehalten geblieben, mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern eine der größten und mächtigsten Gewerkschaften Lateinamerikas. Sie wurde über 20 Jahre lang von der im Februar wegen Korruption verhafteten Elba Esther Gordillo geführt und war dafür bekannt, Lehrerposten zu verkaufen, an Familienmitglieder zu vergeben oder gegen politische Unterstützung einzutauschen. Selbst Analphabet_innen konnten so Lehrer_innen werden. Außerdem hat die Gewerkschaft über Jahrzehnte hinweg jegliche Reformversuche seitens der Regierung blockiert. Somit ist eine Rückkehr der Bildungspolitik in die Hände des staatlichen Bildungsministeriums (SEP) durchaus zu begrüßen. Der Verhaftungszeitpunkt Gordillos nur einen Tag nach in Kraft treten der Reform wird dabei wohl kaum ein Zufall gewesen sein. Ihr Nachfolger Juan Díaz de la Torre unterstützt die Reform – im Unterschied zu Gordillo – weitgehend.
Weitere Eckpunkte der geplanten Reform sind die Dezentralisierung des Bildungssystems, das heißt mehr Autonomie für die Schulen und Mitspracherechte für die Eltern über die Verwendung öffentlicher Gelder. Ein Zensus, um sich einen genauen Überblick über den aktuellen Zustand des Bildungssystems zu verschaffen und dessen Transparenz und Effizienz zu erhöhen; bislang existieren nicht einmal genauen Zahlen, wie viele Lehrer_innen es überhaupt gibt. Zudem die Förderung von Ganztagsschulen und eine Initiative für gesunde Ernährung an Schulen. Dabei sollen vor allem arme Bundesstaaten von massiven Investitionen in Infrastruktur und Ausstattung profitieren. Damit entspricht die Reform durchaus dem Zeitgeist der internationalen Bildungspolitik; Bildungsrankings wie PISA, mehr Autonomie für Schulen, Ganztagsschulen und mehr Transparenz und Effizienz haben Konjunktur.
Trotzdem ist eine breite Protestbewegung gegen die Reform entstanden. Unter der Führung der linksgerichteten dissidenten Nationalen Lehrervereinigung (CNTE) zeigen sich vor allem Student_innen der Bewegung Yosoy132, indigene Bauerngemeinden und andere Gewerkschaften mit der Richtung der Bildungsreform äußerst unzufrieden. Die CNTE entstand 1979 aus Protest gegen zunehmende Korruption und autoritäre Führungspraktiken in der SNTE und zählt heute etwa 100.000 Mitglieder. Ihre Proteste konzentrieren sich vor allem in den CNTE-Hochburgen, den Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca und Michoacán. Seit Monaten finden zahlreiche Protestmärsche statt, wichtige Straßen und Zuglinien werden blockiert. Auch den Zócalo, den zentralen Platz Mexiko-Stadts, halten sie seit über einem Monat besetzt, um ihrem Unmut über die Reformen Ausdruck zu geben. In vielen Schulen fällt der Unterricht wegen Streiks wochenlang aus. Zudem kommt es immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen, wie Ende April in Guerrero. Dort stürmten wütende Demonstrant_innen Parteibüros und setzten sie in Brand, nachdem die Polizei gewaltsam eine Autobahnblockade zwischen Mexiko-Stadt und Acapulco aufgelöst hatte.
Die CNTE und ihre Unterstützer_innen bringen durchaus wichtige Punkte in der Debatte um die Bildungsreform zur Sprache. Sie fordern vor allem die Durchführung eines echten Dialogs. Die Reform wurde in nur 11 Tagen von der Regierung durchgedrückt, ohne dass in den Verhandlungen Vertreter_innen des Bildungssektors zugegen gewesen wären. Soziale Organisation sehen darin „eine Verletzung der demokratischen Grundrechte und einen Ausdruck eines neuen autoritären Regimes in Mexiko“. Daher legte die CNTE gerichtlich Beschwerde gegen die Reform ein. Diese wurde allerdings von einem Gericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Reform bereits für verfassungsmäßig erklärt worden sei. Man könne nichts tun, solange die in der Verfassung festgeschrieben Rechte der Lehrer_innen nicht angegriffen würden.
Damit sprach das Gericht eine der größten Sorgen der Lehrer_innen an, die Verletzung ihrer Arbeitsrechte. Sie fürchten, dass die Evaluierungen genutzt werden um massive finanzielle Einsparungen durch die Massenentlassung von Lehrer_innen zu erzielen. „Wir alle befinden uns in einem Zustand beruflicher Instabilität“ gibt Francisco Bravo, Leiter der Sektion 9 der CNTE, zu bedenken. Am Ende, so bangen die Lehrer_innen, werde die Reform in einer Privatisierung des Bildungswesens münden. Unter dem Vorwand, den Schulen mehr Autonomie und den Eltern mehr Mitspracherecht zu gewähren, würde dem Einfluss privater Unternehmen Tür und Tor geöffnet. Lehrer_innen würden zu Humankapital der Schulen degradiert und der Unterricht würde vor allem von unternehmerischen Werten bestimmt, um Fachkräfte für den Arbeitsmarkt auszubilden.
Ob es tatsächlich gleich zu einer weiteren Privatisierung des Bildungswesens und Massenentlassung kommen wird, ist schwer zu beurteilen. Viele Sorgen und Gerüchte gründen sich auf die sehr lückenhaften Kommunikation seitens der Regierung. Niemand weiß, nach welchen Kriterien die Bewertung stattfinden wird und wie über den Verbleib von Lehrern_innen in ihren Positionen entschieden werden soll. Auch wie die Evaluierung zu einer besseren Qualität führen soll ist bisher unklar. Viele Lehrer_innen befürchten, dass die Evaluierung ein standardisiertes multiple-choice Examen sein wird. Auf diese Weise würden sie als alleinige Schuldige der Bildungskrise hingestellt, bestraft und somit ihrer Würde beraubt. Dabei lehnen sie die Evaluierung nicht grundsätzlich ab. Allerdings fordern sie mit Recht, dass diese in einem multi-ethnischen Land wie Mexiko mit starken regionalen Unterschieden den lokalen Begebenheiten angepasst werden müsse. Außerdem dürfe auf die Evaluierung nicht Belohnung oder Bestrafung folgen, sondern die Ergebnisse sollten dazu genutzt werden, Unterrichtspraktiken und vor allem die Ausbildung der Lehrer_innen zu verbessern. In den Jahren 2010 bis 2011 haben nur 25 Prozent der angehenden Lehrer_innen die nationale Zulassungsprüfung bestanden. Ein Umstand, den die Reform bisher nicht berücksichtigt.
Selbst die Vorsitzende des neuen Vorstands des INEE, Sylvia Schmelkes, kritisiert, dass „die Qualität der Bildung sich nicht allein mit der Evaluierung verbessert“. Vielmehr müsse sich „die Qualität als Konsequenz der Veränderung der Lehrpraktiken verbessern“. Ebenso wird die Autonomie des Evaluierungsinstituts angezweifelt. Das INEE muss zu seiner Arbeit Vorschläge beim SEP einholen. Diese dürfen sie zwar modifizieren, aber nicht zurückweisen. Es wird befürchtet, dass das INEE somit zu einem autoritären und bürokratischem Kontrollwerkzeug der Regierung verkommt.
Basierend auf diesen Kritikpunkten hat die CNTE der Regierung im Mai ihre offiziellen Forderungen unter dem Titel „In Richtung der Bildung, die wir Mexikaner brauchen“ übergeben. Darin greifen sie zum Teil wesentliche Punkte für eine grundlegende Bildungsreform auf. Die Evaluierung sollte lokale Begebenheiten berücksichtigen und von den Schulen selbst durchgeführt werden, um Probleme dort zu identifizieren und zu beheben, wo sie entstehen. Der Lehrplan dürfe sich nicht vollständig auf die Forderungen des Marktes ausrichten; stattdessen sollten humanistische Werte wieder in den Mittelpunkt rücken und Unterrichtsinhalte auf die Bedürfnisse der Gemeinden abgestimmt sein. Innovative Ansätze in einem demokratischen Bildungssystem sollten gefördert werden, anstatt das System und dessen Inhalte unter dem INEE zu zentralisieren. Ebenso sei es von größter Bedeutung, dass das Schulsystem in öffentlicher Hand, kostenlos und für alle zugänglich bleibe. Allerdings erhebt die CNTE auch Forderungen nach einem automatischen Job auf Lebenszeit für jeden, der die Zulassungsprüfungr besteht, ganz gleich wie gut oder schlecht dieser auf lange Sicht unterrichtet. Zugleich fordern sie eine Erhöhung des Bildungsetats auf bis zu 12 Prozent des BIP, wobei die Bildungsausgaben Mexikos im internationalen Vergleich bereits jetzt schon überdurchschnittlich hoch sind.
Eine Erhöhung der Ausgaben allein wird somit nicht zum Erfolg führen, solange die Gelder nicht transparenter und effizienter eingesetzt werden. Die angestrebte Analyse des Bildungssystems durch die Regierung könnte dafür ein erster Schritt sein. Denn auch die CNTE bleibt in ihren Vorschlägen für eine tatsächliche Verbesserung des Bildungssystems oft vage.
Ende Mai begann auf Druck der CNTE endlich der öffentliche Dialog über die Bildungsreform. In neun regionalen und einem nationalen Forum stellten sich Regierungsvertreter_innen, um die Vorschläge und Bedenken von Schülern_innen, Lehrern_innen und sozialen Organisationen anzuhören und zu diskutieren. Allerdings waren bisher keine Regierungsfunktionär_innen mit wirklicher Entscheidungsgewalt beteiligt. Doch ohne einen Konsens zwischen allen Beteiligten und Betroffenen wird eine wirklich tiefgreifende Reform des mexikanischen Bildungssystems wohl kaum möglich sein.